Mordfall Jessica

Der Mordfall Jessica in Hamburg erlangte im März 2005 bundesweites Aufsehen.[1] Damals wurde die siebenjährige Jessica in der elterlichen Wohnung tot aufgefunden. Das Mädchen war wegen Unterernährung völlig entkräftet und an Erbrochenem erstickt. Die leiblichen Eltern hatten die Siebenjährige jahrelang in ihrem Zimmer eingesperrt und vernachlässigt; sie wurden im November 2005 nach dreimonatiger Gerichtsverhandlung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes durch Unterlassen verurteilt.
Die Behörden gerieten in die Kritik, weil sie aufgrund mangelhafter Verfahrensweisen die Vernachlässigung des Mädchens durch ihre Eltern nicht erkannt hatten. Die Verwaltung reagierte mit einer Verbesserung der Kontrollmechanismen, einer Aufstockung des Personals und einer Erhöhung der finanziellen Mittel.
Umfeld des Opfers


Wohnort
Die Familie wohnte im Stadtteil Jenfeld, am östlichen Stadtrand Hamburgs. Jenfeld war bis 1938 ein Dorf und wurde im Rahmen des Groß-Hamburg-Gesetzes eingemeindet. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden auch hier größere Hochhaussiedlungen und Einzelhochhäuser gebaut. In dem Stadtteil sind 24,7 Prozent der Bewohner Arbeitslosengeld 2-Empfänger, prozentual wesentlich mehr als im Hamburger Durchschnitt mit 11,9 Prozent.[2] Die Einkommenssituation lag mit 22.406 Euro jährlichem Einkommen bei 69 Prozent des hamburgweiten Durchschnitts von 32.505 Euro.[3] Der Stadtteil gilt als sozialer Brennpunkt und Problemviertel.[4][5] Die 71-Quadratmeter-Mietwohnung, in der sich die Tat zutrug, liegt im obersten Stockwerk eines achtgeschossigen Mehrfamilienhauses einer Großsiedlung.[6]
Familie
Jessicas Eltern waren die damals 35-jährige Marlies Sch. und der damals 49-jährige Burkhard M., die nicht miteinander verheiratet waren. Der Vater ist gelernter Maler und wohnte in Hohenschönhausen, bevor er nach Hamburg kam.[7] Beide Eltern waren Arbeitslosengeld 2-Empfänger.[8][9] Die Eltern verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit in nahe gelegenen Gaststätten, teils mehrfach täglich.[10][11]
Lebensgeschichte der Mutter
Marlies Sch. lernte ihren Vater nicht kennen, die Mutter war häufig betrunken. Der Lebensgefährte ihrer Mutter belästigte sie seit ihrem neunten Lebensjahr etwa zwei bis drei Jahre lang sexuell, ihre Mutter griff nicht ein. Seit ihrem 13. Lebensjahr wohnte sie vier Jahre bei einer Tante. Eine Ausbildung zur Friseurin konnte sie wegen einer Allergie nicht abschließen. Sie zog in eine Jugendwohnung. 1990, mit 21, gebar sie ihren ersten Sohn. Der Vater war einer ihrer Mitbewohner, die Schwangerschaft hatte sie bis wenige Wochen vor der Geburt geheimgehalten. Wenige Monate später heiratete sie Ralf S.. Ihrer Tante fiel damals auf, dass, wann immer sie ihre Nichte besuchte, der Säugling im dunklen Zimmer gelegen und geschrien habe, er habe übel und verstört ausgesehen. Acht Monate nach der Geburt des ersten Kindes übergaben Mutter und Ehemann das Kind der Tante, es konnte entgegen der normalen Entwicklung weder sitzen noch krabbeln. Die Tante alarmierte das Jugendamt, Marlies Sch. gab das Kind zur Adoption frei. 1992 wurde ihr zweiter Sohn geboren, 1994 eine Tochter. Nach Angaben ihres damaligen Ehemannes hatte sich Marlies Sch. nicht um die Kinder gekümmert, keine Windeln gewechselt und kein Essen zubereitet. Das Paar ließ sich 1996 scheiden, der Vater erhielt das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder. Damals hatte das Jugendamt in einem Schreiben an das Familiengericht dargelegt, dass Marlies Sch. mit der Erziehung der beiden Kinder überfordert sei. 1996 arbeitete Marlies Sch. für drei Monate als Näherin in Hamburg. Da sie unentschuldigt fehlte, wurde ihr gekündigt. Danach lernte sie Burkhard M. kennen, im August 1997 wurde die gemeinsame Tochter Jessica geboren. Marlies Sch. versuchte, die Schwangerschaft mit einem Schraubenzieher abzubrechen.[12][13][14][15][16]
Tathergang
Jessica hatte keine Freunde und verließ die Wohnung nie. Nachbarn wussten nichts von Jessicas Existenz. Die Wohnung der Familie war in einem verwahrlosten Zustand.[17] Sie war vermüllt, der Boden war mit Katzenkot verdreckt.[18] Jessica vegetierte in einem dunklen Zimmer wie in einem Verlies dahin und durfte ihr Zimmer auch für Toilettengänge nicht verlassen. Spielzeug gab es nicht.[19] Die Eltern hatten die Fenster des Zimmers zugeschraubt und die Scheiben mit lichtundurchlässiger Folie beklebt.[20] Das elektrische Licht war abgeschaltet und der Thermostat auch im Winter auf niedriger Stufe verriegelt,.[21] Die Zimmerdecke war mit Schimmel überzogen. Von Jessicas Matratze waren nur noch die Sprungfedern übrig.[22] Jessica bekam äußerst selten zu essen und zu wenig zu trinken.[23][24] Diese Verhältnisse sollen mindestens fünf Jahre angedauert haben.[25] Jessica riss sich schließlich Haare aus und aß sie, genauso wie Fäden ihrer Wolldecke und des Teppichs in ihrem Zimmer.[26] Sie hatte aufgrund des Flüssigkeitsmangels eine Nierenentzündung und konnte sich nur krabbelnd fortbewegen, ihre Knochen waren aufgrund der Mangelernährung brüchig.[27] Weil sie so wenig Flüssigkeit bekam, hatte Jessica einen Darmverschluss.[28]
Jessicas letzte Mahlzeit bestand aus Reis und Schokopudding. In der Nacht vom 28. Februar auf den 1. März 2005 erbrach sie sich. Sie war durch den Hunger so entkräftet, dass sie nicht mehr in der Lage war, so lange zu würgen, bis ihre Atemwege wieder frei waren und sie erstickte am Erbrochenen.[29] Kurz vor 7 Uhr morgens rief Marlies Sch. einen Notarztwagen.[30] Als Notarzt und Sanitäter Jessica untersuchten, hatte die Leichenstarre bereits eingesetzt. Die Siebenjährige lag zusammengekrümmt auf dem Ehebett der Eltern. Die Hose war mit Kabelbindern zugeschnürt. Das Mädchen hatte einen „Hungerbauch“.[31] Sie wog bei einer Körpergröße von knapp 1,10 Meter nur 9,6 Kilogramm, das Gewicht einer Ein- bis Zweijährigen. Der Vater behauptete, Jessica habe an einer Stoffwechselkrankheit gelitten, zum Arzt seien sie in der letzten Zeit aber nicht gegangen.[32] Tatsächlich hatte Jessica aber keine soche Vorerkrankung.[33]
Über die Vernachlässigung hinaus hatte Burkhard M. in Jessicas Zimmer durch Manipulation am Lichtschalter eine so genannte Stromfalle gelegt, um einen Haushaltsunfall vorzutäuschen. Er hatte die Schutzverkleidung des Lichtschalters entfernt und einen 15 Zentimeter langen, unisolierten Kupferdraht am Schalter befestigt, der unter 220 Volt Spannung stand. Außerdem hatte Burkhard M. unterhalb des Lichtschalters die isolierenden Teppich und Linoleum entfernt,damit der darunter liegende Boden elektrischen Strom besser leiten konnte. Nach Angaben des Vaters habe Jessica die Schutzverkleidung selbst abgerissen. Einem Gutachten und den Ermittlungen der Kriminalpolizei zufolge war der Kupferdraht erst nachträglich vom Vater angebracht worden.[34] Das Kind kam aber offensichtlich mit dem Draht nicht in Berührung.
Jessica wurde am 11. März 2005 auf einem Friedhof im Stadtteil Rahlstedt beigesetzt.[35]
Rolle der Behörden

Ab März 2005 gerieten Schulbehörde und Jugendämter in die Kritik, weil ihnen die Vernachlässigung der siebenjährigen Jessica schon früher hätte auffallen müssen. Es war zwar ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern eingeleitet worden, nachdem sie ihre Tochter nicht zur Schule angemeldet hatten, nachdem das Kind zur Einschulung nicht erschienen war, unterblieben jedoch weitere Maßnahmen. Der Senat räumte Fehler der Behörde ein.[36]
Jessica wurde am 1. August 2004 schulpflichtig, der Schulleiter der Schule Oppelner Straße hatte Jessicas Eltern im Dezember 2003 angeschrieben und sie aufgefordert, Jessica anzumelden. Die Eltern reagierten nicht, auch nicht auf einen zweiten und dritten Brief im März 2004. Daraufhin meldete der Schulleiter das Fernbleiben des Kindes im April 2004 der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle der Hamburger Schulbehörde (Rebus). Die Rebus bemühte sich vergeblich, Jessicas Eltern zu erreichen. Dazu wurde sie dreimal an der Wohnung der Familie vorstellig, ohne dass die Eltern öffneten, die drei im Briefkasten der Familie hinterlegten Briefe beantworteten die Eltern auch nicht. Nachbarn konnten auf Nachfrage des Rebus-Mitarbeiters keine Auskunft über Jessica geben, weil sie sie nicht kannten. Die Schulbehörde verhängte schließlich ein Bußgeld in Höhe von 60 Euro wegen einer Schulpflichtverletzung. Die Eltern reagierten auch auf die Bußgeldforderung und zwei folgende Mahnungen nicht; danach stellte die Rebus alle weiteren Bemühungen ein. Zu einer dritten Mahnung – nach der eine Zwangsvollstreckung möglich gewesen wäre, ggf. mit Amtshilfe durch die Polizei – kam es nicht mehr. Die Rebus informierte auch das zuständige Jugendamt nicht, da sie davon ausging, dass die Familie fortgezogen war.[37][38]
Folgen der Tat
Ermittlungen und Anklage
Jessicas Eltern wurden durch die Kripo noch am 1. März 2005 festgenommen. Am nächsten Tag wurden sie dem Haftrichter vorgeführt, der die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr anordnete.[39] Der Gerichtsmediziner, der die Leiche der Siebenjährigen obduzierte, ging davon aus, dass das Mädchen nur noch vor sich hingedämmert haben und eigentlich überhaupt nicht mehr wach gewesen sein könne. Sie habe ausgesehen wie eine Verstorbene aus einem Konzentrationslager.[40] Die Katze der Familie war hingegen wohlgenährt. Die Eltern zeigten in den kriminalpolizeilichen Vernehmungen keine Reue: Der Vater sagte aus, Jessica habe „'n bisschen abgenommen“. Die Mutter zog auf die Schrecken ihrer eigenen Jugend aus Gewalt, Verwahrlosung, Missbrauch und Alkohol zurück.[41] Ansonsten hätten sie ihren Angaben zufolge Jessica immer gepflegt und gefüttert. Burkhard M. gab an, dass er sich seit Dezember 2004 nicht weiter um Jessica gekümmert habe. Sie habe ihn abgelehnt. Ende 2004 oder Anfang 2005 habe er seine Tochter letztmalig lebend gesehen. Sie habe auf ihrem Bett im Kinderzimmer gelegen. Marlies Sch. habe ihm mitgeteilt, Jessica habe eine Grippe.[42] Der Verteidiger der angeklagten Mutter gab vor Prozessbeginn an, Marlies Sch. habe viel Schuld auf sich geladen. Allerdings hätten auch die staatlichen Behörden versagt.
Die Staatsanwaltschaft erhob am 28. Juni 2005 Anklage gegen die Eltern. Sie lautete auf Misshandlung einer Schutzbefohlenen und Mord durch Unterlassung, wobei Grausamkeit als besonderes Mordmerkmal genannt wird.[43] Sie warf ihnen in der Anklageschrift vor, Jessica gröblichst vernachlässigt zu haben, so dass sie sich weder körperlich noch geistig auch nur ansatzweise altersgerecht hätte entwickeln können.[44] Marlies Sch. und Burkhard M. hätten im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen, Jessica sterben zu lassen, und somit einen „grausamen Mord zur Verdeckung einer Straftat“ begangen. Die Eltern hätten während des Ermittlungsverfahrens keine Einsicht gezeigt.[45]
Gerichtsverfahren
Der Prozess gegen die angeklagten Eltern begann am 24. August 2005 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Hamburg. Verhandelt wurde im Hochsicherheitstrakt des Strafjustizgebäudes. Es waren zehn Verhandlungstage angesetzt, neun Zeugen und sechs Sachverständige sollten gehört werden.[46][47] Am ersten Verhandlungstag trug der Vertreter der Staatsanwaltschaft Hamburg die Anklageschrift vor. Anschließend vertagte sich das Gericht.
Einlassungen der Angeklagten
Am 30. August 2005, dem zweiten Verhandlungstag, äußerte sich die Mutter der getöteten Jessica vor Gericht. Sie gab zu, ihre Tochter vernachlässigt zu haben. Mit Jessica draußen gespielt habe sie seit Ende 2000 nicht mehr. Trotz massiver Probleme ihres Kindes sei sie nicht zum Arzt gegangen und habe keine Erziehungsberatungsstelle aufgesucht. Dies sei ihr nicht möglich gewesen, sie habe es nicht geschafft. Seit 2001 habe sie Jessica immer wieder in ihrem Zimmer eingesperrt, etwa wenn sie Einkaufen oder zum Imbiss gegangen sei. Das Mädchen habe nie allein essen können und habe immer gefüttert werden müssen. Etwa Mitte Februar 2005 habe Jessica nicht mehr richtig gegessen und habe das Trinken völlig verweigert. Ihre Tochter sei nie in einen Kindergarten gegangen. Weil es mit Jessicas Sprache immer schlimmer geworden sei, habe die Angeklagte Jessica auch nicht in der Schule angemeldet. Nachdem Burkhard M. 2003 an einer Leberzirrhose erkrankt sei, sei Jessicas Beziehung zu ihrem Vater in die Krise geraten. Danach habe Jessica ihr Aussehen und ihr Verhalten geändert. Sie habe sich total zurückgezogen und habe sich wieder in die Hosen gemacht. Richtig trocken sei sie ohnehin nie gewesen.
Der Vater des Kindes äußerte sich vor Gericht nicht zu den Vorwürfen. Der Vorsitzende Richter verlas stattdessen das Protokoll der kriminalpolizeilichen Vernehmung.[48]
Gutachten
Dem angeklagten Vater wurde vor Gericht eine krankhafte seelische Störung attestiert, jedoch keine schwerwiegende Erkrankung. Bei der angeklagten Mutter wurde die volle Schuldfähigkeit festgestellt. Der Direktor des Essener Instituts für Forensische Psychiatrie gab an, der Angeklagte Burkhard M. schien „nicht sonderlich bedrückt“ von Jessicas Schicksal gewesen zu sein. Der Angeklagte habe bei der psychiatrischen Untersuchung gesagt, im sei das „alles scheißegal“ gewesen. Der Angeklagte sei nicht gefühlskalt, sondern „emotional verarmt“. Zu dieser Gefühlsarmut habe der jahrelange Alkoholkonsum beigetragen.
Nach Angaben eines anderen Psychiatrie-Gutachters habe er bei der angeklagten Mutter „keine seelische Abartigkeit“ feststellen können. Es würde nichts auf eine psychische Erkrankung hinweisen. Sie habe sich trotz ihrer „miserablen Kindheit“ stabilisiert und sei „in der Spur“ geblieben. Entscheidend für die Tat seien Streitereien der Eltern gewesen. Aufgrund der Gleichgültigkeit des angeklagten Vaters habe es die angeklagte Mutter letztlich nicht mehr eingesehen, allein für die Versorgung ihrer Tochter zuständig zu sein. Jessicas Vernachlässigung habe sie „als Verteidigungsmaßnahme verstanden“.[49][50]
Plädoyers, Urteil und Revision
Die Staatsanwaltschaft forderte in ihrem Plädoyer am 11. November 2005 eine lebenslange Freiheitsstrafe für beide Elternteile. Sie hätten ihre Tochter vorsätzlich misshandelt und getötet. Die Verteidiger der angeklagten Eltern forderten in ihrem Plädoyer am 16. November 2005 hingegen Freiheitsstrafen von höchstens 15 Jahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge und Misshandlung Schutzbefohlener.
Am 25. November 2005 sprach das Landgericht Hamburg die beiden Angeklagten schuldig und verurteilte beide zu lebenslangen Freiheitsstrafen. Das Gericht stellte fest, dass Jessicas Entwicklung zunächst normal verlief; sie habe normal zu essen bekommen, habe laufen und einige Wörter sprechen können. Der Bruch innerhalb der Familie sei wahrscheinlich geschehen, als die Eltern mit der drei Jahre alten Jessica in den für sie neuen Stadtteil Jenfeld umgezogen und ein halbwegs intaktes soziales Umfeld verloren hätten. Ab diesem Zeitpunkt habe ein schleichender Prozess begonnen, in dessen Lauf Jessicas Leben zum Martyrium geworden sei. Der Vorsitzende Richter konstatierte, die Katze „bekam etwas zu fressen, Jessica musste hungern; die Katze durfte sich in der Wohnung frei bewegen, Jessica war in einem modrigen Zimmer eingesperrt“. Darüber hinaus sei die Katze fotografiert worden, Jessica als Familienmitglied hingegen nicht. Es sei neben den körperlichen Leiden für Jessica eine seelische Qual gewesen, in der Wichtigkeit hinter einem Haustier zu stehen, was sie in vollem Bewusstsein mitbekommen habe. Nach Überzeugung des Gerichts seien sich beide Elternteile darüber im Klaren gewesen, falsch zu handeln, indem sie Jessica Nahrung und Zuwendung verweigerten. Beide hätten genau gewusst, dass Jessica sterben würde, wenn sie nichts änderten, und hätten dies billigend in Kauf genommen. Durch den Hunger hätten sie Jessica „grausam zu Tode gebracht“.
Die verurteilte Mutter habe als Resultat ihrer eigenen Kindheit Kinder als Feinde wahrgenommen, die abgewehrt werden müssten, um eigene Freiräume zu schaffen. Der verurteilte Vater sei ein „gefühlsmäßig verarmter und fatalistischer Mann“, der sich nicht darauf berufen könne, nicht gewusst zu haben, was sich in der Familie abspielte. Er habe gewusst, wie es seiner Tochter tatsächlich ging, habe dies aber „hinter der Fassade eines intakten Familienlebens“ verschleiert.
Der verurteilte Vater habe die Stromfalle in Jessicas Zimmer angebracht. Die Eltern hätten damit gemeinschaftlich den Tod ihrer Tochter in Kauf genommen. Beide hätten gehofft, dass Jessica den Draht anfassen und an einem Stromschlag sterben würde. Nach Überzeugung des Gerichts handelten die Eltern „aus gefühlloser, mitleidloser und böswilliger Gesinnung“. Sie hätten ihr „eigenes Leben in Kneipen, bei Bekannten oder beim Dartspielen leben“ wollen.[51][52][53]
Beide Elterteile reagierten nicht auf das Urteil. Sie waren teilnahms- und reglos, als ginge es sie nichts an.
Der Verteidiger der verurteilten Mutter gab an, das Urteil werde ihr nicht gerecht. Er legte daraufhin Revision beim Bundesgerichtshof ein, der die Revision jedoch am 17. Oktober 2006 als „offensichtlich unbegründet“ verwarf. Damit war auch das Urteil gegen die Mutter rechtskräftig geworden.[54][55]
Aufarbeitung durch Parlament und Verwaltung
Die Hamburgische Bürgerschaft reagierte im April 2005 mit der Einsetzung des Sonderausschusses „Vernachlässigte Kinder“. Mitarbeiter des Kinder- und Jugendnotdienstes berichteten dem Ausschuss, dass 2004 der Behörde 364 Fälle von Vernachlässigung gemeldet worden seien, während es 2003 noch 251 Fälle gewesen seien. Auch die Zahl der gemeldeten Kindesmisshandlungen sei in diesem Zeitraum von 287 auf 301 Fälle gestiegen.[56] Es berieten Behördenvertreter, Sozialarbeiter, Ärzte, Hebammen, Gerichtsmediziner, Polizisten und Familienrechtler. Wesentliches Ergebnis war, dass der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) der sieben Hamburger Bezirke überlastet sei und dass selbst Problemfälle auf Wartelisten lägen.[57]
Der Erste Bürgermeister machte die politische Aufklärung um den Fall Jessica zur „Chefsache“ und verlangte eine minutiöse Aufklärung bis ins Detail darüber, an welchem Punkt Fehler enststanden seien, um sie künftig zu verhindern.[58][59] Bereits im Mai 2005 führte Hamburg den so genannten „Schulzwang“ ein, der Behörden berechtigt, mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss in Wohnungen einzudringen, um nach schulpflichtigen Kindern zu suchen und die Schulpflichtigen notfalls durch die Polizei vorführen zu lassen. Am 27. September 2005 gab der Senat sein Programm „Hamburg schützt seine Kinder“ bekannt. Das Programm sah eine stärkere Kontrolle vor: Ein zentrales Schülerregister, das alle schulpflichtigen Kinder erfasst und keines mehr – aufgrund Umzüge – durch das Raster fallen lässt. Die Jugendämter können sich nunmehr an die Staatsanwaltschaft wenden, um das Lebensumfeld eines Kindes abklären zu lassen. Die Stellen beim Allgemeinen Sozialen Dienst wurden von 241 auf 273 angehoben. 14 Eltern-Kind-Zentren sind als Anlaufstellen für Eltern in schwierigen Lebenslagen eröffnet worden. Die Mittel für Familienhilfe und -förderung wurden erhöht: von 563 Millionen im Jahr 2001 auf 648 Millionen 2006. Die Fachkräfte der Sozialbehörde sind zu „Kinderschutzfachkräften“ fortgebildet worden. Ärztliche Untersuchungen in den Kindertagesstätten und eine Kinderschutzhotline wurden eingeführt. Die Angebote früher Hilfen wurden ebenfalls aufgestockt: Hatte es 2001 nur ein Familienhebammen-Projekt gegeben, so waren es 2008 bereits 16 Projekte.[60][61]
Einzelbelege
- ↑ Spiegel Online, Artikel Suppe für die Seele vom 23. März 2009
- ↑ Statistikamt Nord (für 2006)
- ↑ Statistikamt Nord (für 2004)
- ↑ Süddeutsche.de, Artikel Jessica und die Skala der Vernachlässigung vom 24. August 2005
- ↑ Berliner Zeitung, Artikel Eine Tat wie diese macht ratlos vom 26. November 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Das Mädchen, das nie existierte vom 2. März 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005
- ↑ Stern, Artikel Wie Verstorbene aus KZs vom 3. März 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Das Mädchen, das nie existierte vom 2. März 2005
- ↑ Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium, vom 7. März 2005
- ↑ Publik-Forum, Artikel Die Fratze hinter der Fassade von Sabine Henning, Februar 2006
- ↑ Stern, Artikel Mutter bekennt sich mitschuldig vom 30. August 2005
- ↑ Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium, vom 7. März 2005
- ↑ Focus Online, Artikel Verhungert im Verlies vom 7. März 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Prozeß gegen Eltern von Jessica beginnt am 24. August vom 29. Juli 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Das Mädchen, das nie existierte vom 2. März 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Das Mädchen, das nie existierte vom 2. März 2005
- ↑ Süddeutsche.de, Artikel Jessica und die Skala der Vernachlässigung vom 24. August 2005
- ↑ Berliner Zeitung, Artikel Eine Tat wie diese macht ratlos vom 26. November 2005
- ↑ Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium, vom 7. März 2005
- ↑ Focus Online, Artikel Lebenslange Haft für Eltern bestätigt vom 17. Oktober 2006
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Bild.de, Artikel Polizei kann Kinder zur Schule holen vom 24. November 2007
- ↑ Berliner Zeitung, Artikel Eine Tat wie diese macht ratlos vom 26. November 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005
- ↑ Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium, vom 7. März 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Das Mädchen, das nie existierte vom 2. März 2005
- ↑ Focus Online, Artikel Verhungert im Verlies vom 7. März 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005
- ↑ Hamburger Abendblatt, Artikel Sollte kleine Jessica in Stromfalle sterben? vom 22. August 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Senat räumt Behördenfehler ein vom 8. März 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005
- ↑ Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium, vom 7. März 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Mädchen verhungert in Jenfeld vom 2. März 2005
- ↑ Stern, Artikel Wie Verstorbene aus KZs vom 3. März 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Stern, Artikel Mutter bekennt sich mitschuldig vom 30. August 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Hamburger Abendblatt, Artikel Sollte kleine Jessica in Stromfalle sterben? vom 22. August 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Prozeß gegen Eltern von Jessica beginnt am 24. August vom 29. Juli 2005
- ↑ Welt Online, Artikel Prozeß gegen Eltern von Jessica beginnt am 24. August vom 29. Juli 2005
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Stern, Artikel Mutter bekennt sich mitschuldig vom 30. August 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Die Katze bekam zu fressen, Jessica musste hungern vom 25. November 2005
- ↑ Focus Online, Artikel Katze wurde gefüttert, Jessica nicht vom 25. November 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Die Katze bekam zu fressen, Jessica musste hungern vom 25. November 2005
- ↑ Focus Online, Artikel Katze wurde gefüttert, Jessica nicht vom 25. November 2005
- ↑ Berliner Zeitung, Artikel Eine Tat wie diese macht ratlos vom 26. November 2005
- ↑ Spiegel Online, Artikel Die Katze bekam zu fressen, Jessica musste hungern vom 25. November 2005
- ↑ Focus Online, Artikel Lebenslange Haft für Eltern bestätigt vom 17. Oktober 2006
- ↑ FAZ.net, Artikel Eltern der verhungerten Jessica vor Gericht vom 24. August 2005
- ↑ Sabine Henning, Publik-Forum, Artikel Die Fratze hinter der Fassade, 2006
- ↑ Stern, Artikel Wie Verstorbene aus KZs vom 3. März 2005
- ↑ Der Spiegel, Artikel Jahrelanges Martyrium, vom 7. März 2005
- ↑ Bild.de, Artikel Polizei kann Kinder zur Schule holen vom 24. November 2007
- ↑ Hamburger Abendblatt, Artikel Der Fall Jessica – und was danach geschah vom 12. März 2009