Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist der Verfassungsgerichtshof des Bundes. Es ist ein Verfassungsorgan und im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen selbständig und unabhängig. Als Hüter der Verfassung hat das Gericht eine Doppelrolle als verfassungspolitisch wirkendes Organ und als Teil der Judikativen Staatsgewalt auf dem speziellen Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts. Obwohl es Entscheidungen anderer Gerichte kontrolliert, gehört es nicht zum Instanzenzug, sondern überprüft sie wie bei anderen Staatsorganen als Akte der Staatsgewalt.
Das Bundesverfassungsgericht wurde 1951 gegründet und hat seinen Sitz in Karlsruhe. Es ist von einer Bannmeile umgeben.
Errichtung, Aufgaben und Besetzung des Verfassungsgerichts werden in den Artikeln 92 bis 94 GG geregelt. Weitere Regeln über Organisation, Befugnisse und Verfahrensrecht finden sich im Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG).

Bindungswirkung und Gesetzeskraft
Entscheidungen des Gerichts werden u.a. in der amltichen Sammlung BVerfGE veröffentlicht. Die besondere Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts kommt in § 31 Abs. 1 BVerfGG zum Ausdruck:
- Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden.
Die formelle Bindungswirkung einer Entscheidung besteht nur im konkreten Fall (inter partes). Eine inhaltliche de facto Bindung für andere Gerichte besteht an die in einem ähnlichen Fall ausgeurteilte Rechtsmeinung des Gerichts. Die Argumentation ist eine Richtschnur für die untergeordneten Gerichte, die meist auch befolgt wird. Jedes Amtsgericht kann aber in einem anderen ähnlich gelagerten Fall einer anderen juristischen Meinung folgen, wenn es dies für richtig hält.
In den in § 31 Abs. 2 BVerfGG genannten Fällen haben die Entscheidungen des BVerfG sogar Gesetzeskraft. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Verfahren, in den das BVerfG feststellt, ob ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht. Nur das Bunderverfassungsgericht kann ein Gesetz für verfassungswidrig erklären, das nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet wurde (Normenverwerfungskompetenz). Hat ein anderes Gericht Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, hat es dies dem BVerfG gemäß Art. 100 GG vorzulegen, soweit es entscheidungserheblich ist (konkrete Normenkontrolle).
Organisation
Das Bundesverfassungsgericht ist aufgeteilt in 2 Senate und 6 Kammern mit unterschiedlichen sachlichen Zuständigkeiten. Grob ließ sich früher der 1. Senat als "Grundrechtssenat" und der 2. Senat als "Staatsrechtssenat" klassifizieren. Das heißt, der 1. Senat war vor allem für Fragen der Auslegung der Artikel 1 bis 17, 19, 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 des Grundgesetzes zuständig, während Organstreitigkeiten zwischen staatlichen Behörden oder Parteiverbotsverfahren vor den 2. Senat gelangten.
Diese Abgrenzung trifft heute nicht mehr zu, da beide Senate Verfahren nach gesetzesfachlicher Einteilung bearbeiten, um durch seine Kontrolldichte auch die Regelungsdichte des deutschen Rechtssystems abzubilden. Die o. a. Artikel spielen daher nur eine technische Rolle und das auch nur teilweise. Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz, die Zuständigkeiten der Senate und Kammern durch die Geschäftsordnung zu ändern, die es sich selbst gibt. Zunehmend wird dabei der juristische Hintergrund und Schwerpunkt der Mitglieder berücksichtigt.
Da die meisten Entscheidungen von den wissenschaftlichen Mitarbeitern vorbereitet werden, spricht man gelegentlich auch von einem ‚3. Senat’ wenn man sich auf die Gesamtheit der Mitarbeiter bezieht.
Jeder Senat war ursprünglich mit zwölf Richtern besetzt; 1963 wurde die Zahl der Richter auf acht gesenkt. Dies schließt den Präsidenten und den Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, die jeweils einem der Senate vorstehen, mit ein. Ein Senat ist beschlussfähig, wenn mindestens sechs Richter anwesend sind. Wegen der geraden Anzahl der Richter in einem Senat sind Pattsituationen möglich (sog. "4-zu-4-Entscheidung"). Ein Antragsteller oder Beschwerdeführer gewinnt, wenn mindestens fünf Richter seine Rechtsauffassung teilen.
Die Senate berufen innerhalb ihrer Geschäftsbereiche selbständig mehrere Kammern, die mit jeweils 3 Richtern besetzt sind. Diese Kammern entscheiden bei Verfassungsbeschwerden, konkreten Normenkontrollen und Verfahren nach dem PUAG anstelle des Senats und entlasten ihn. Zurzeit bestehen bei jedem Senat jeweils 3 Kammern. Danach sind manche Richter in mehreren Kammern Mitglied.
Bei einem Mehrheitsbeschluss unterlegene Richter haben die Möglichkeit, einzeln oder gemeinsam der Entscheidung des Gerichtes ein Sondervotum beizufügen. Dieses wird dann gemeinsam mit der Entscheidung des Gerichts veröffentlicht, unter der Überschrift "Abweichende Meinung des Richters …".
Bibliothek
Am Bundesverfassungsgericht existiert eine interne, nur von Amtsangehörigen des Gerichts zu benutzende Fachbibliothek mit den Schwerpunkten Staats- und Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Staats- und Gesellschaftslehre, Politik und Zeitgeschichte. Der Bestand der Bibliothek umfasste im März 2005 etwa 345.300 Bände und wächst jedes Jahr um ca. 6.000 bis 7.000 Bände. Der Zeitschriftenbestand umfasst etwa 1.000 laufende Abonnements. Im angegliederten Pressearchiv werden zudem alle das Gericht berührenden Materialien gesammelt; es werden täglich zwischen 20 und 30 Tages- und Wochenzeitungen ausgewertet. Alle vorhandenen Werke sind im Südwestdeutschen Bibliotheksverbund (SWB) katalogisiert.
Richter
Richter bei diesem Gericht zu sein, ist eine hohe berufliche Ehre, bekannte Persönlichkeiten sind und waren Richter am Bundesverfassungsgericht.
Gewählt werden die Richter je zur Hälfte von einem Richterwahlausschuss des Bundestags und vom Bundesrat für eine einmalige Amtszeit von zwölf Jahren. Während im Bundesrat eine direkte Wahl mit Zweidrittelmehrheit stattfindet, wählt im Bundestag ein nach der Parteiproporz zusammengesetzten Wahlausschuss. Ein Kandidat ist gewählt, wenn er mindestens acht Stimmen dieses Rats auf sich vereinigt.
Dabei werden drei Richter jedes Senats aus der Zahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes gewählt. Wählbar ist jeder, der über 40 Jahre alt ist und nach dem Deutschen Richtergesetz die Befähigung zum Richteramt besitzt (2. Juristisches Staatsexamen, deutsche Staatsangehörigkeit ...) oder Professor der Rechte an einer deutschen Universität ist.
Gem. § 4 Abs. 3 BVerfGG besteht eine Altersgrenze von 68 Jahren für die Richter am Bundesverfassungsgericht. Mit Ablauf des Monats, in dem der Richter 68 Jahre alt wird, endet seine Amtszeit, wobei er allerdings das Amt noch weiterführt, bis ein Nachfolger ernannt ist.
Präsident und Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts werden nach § 9 Abs. 1 BVerfGG abwechselnd von Bundestag und Bundesrat bestimmt.
Aktuelle Richter am Bundesverfassungsgericht
Erster Senat
Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes | |||||
Name | Geburtstag | Beginn der Amtszeit | Ende der Amtszeit | ||
---|---|---|---|---|---|
Präsident des Bundesverfassungsgerichtes und Vorsitzender des Ersten Senats Hans-Jürgen Papier |
6. Juli 1943 | Februar 1998 | Februar 2010 (Amtszeit) | ||
Evelyn Haas | 7. April 1949 | September 1994 | September 2006 (Amtszeit) | ||
Dieter Hömig | 15. März 1938 | Oktober 1995 | 31. März 2006 (Altersgrenze) | ||
Udo Steiner | 16. September 1939 | Oktober 1995 | 30. September 2007 (Altersgrenze) | ||
Christine Hohmann-Dennhardt | 30. April 1950 | Januar 1999 | Januar 2011 (Amtszeit) | ||
Wolfgang Hoffmann-Riem | 4. März 1940 | Dezember 1999 | 31. März 2008 (Altersgrenze) | ||
Brun-Otto Bryde | 12. Januar 1943 | 23. Januar 2001 | 31. Januar 2011 (Altersgrenze) | ||
Reinhard Gaier | 3. April 1954 | November 2004 | November 2016 (Amtszeit) |
Zweiter Senat
Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichtes | |||||
Name | Geburtstag | Beginn der Amtszeit | Ende der Amtszeit | ||
---|---|---|---|---|---|
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes und Vorsitzender des Zweiten Senats Winfried Hassemer |
17. Februar 1940 | Mai 1996 | 29. Februar 2008 (Altersgrenze) | ||
Hans-Joachim Jentsch | 20. September 1937 | Mai 1996 | 30. September 2005 (Altersgrenze) | ||
Siegfried Broß | 18. Juli 1946 | September 1998 | September 2010 (Amtszeit) | ||
Lerke Osterloh | 29. September 1944 | Oktober 1998 | Oktober 2010 (Amtszeit) | ||
Udo Di Fabio | 26. März 1954 | Dezember 1999 | Dezember 2011 (Amtszeit) | ||
Rudolf Mellinghoff | 25. November 1954 | 23. Januar 2001 | 23. Januar 2013 (Amtszeit) | ||
Gertrude Lübbe-Wolff | 31. Januar 1953 | April 2002 | April 2014 (Amtszeit) | ||
Michael Gerhardt | 2. April 1948 | Juli 2003 | Juli 2015 (Amtszeit) |
Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hat einen Präsidenten. Dieses Amt hatten bislang folgende Personen inne:
Bundesverfassungsgerichtspräsidenten | |||||
Name | Beginn der Amtszeit | Ende der Amtszeit | |||
---|---|---|---|---|---|
1 | Prof. Dr. Dr. Hermann Höpker-Aschoff | 7. September 1951 | 15. Januar 1954 | ||
2 | Prof. Dr. Josef Wintrich | 23. März 1954 | 19. Oktober 1958 | ||
3 | Prof. Dr. Gebhard Müller | 8. Januar 1959 | 8. Dezember 1971 | ||
4 | Prof. Dr. Ernst Benda | 8. Dezember 1971 | 20. Dezember 1983 | ||
5 | Prof. Dr. Wolfgang Zeidler | 20. Dezember 1983 | 16. November 1987 | ||
6 | Prof. Dr. Roman Herzog | 16. November 1987 | 30. Juni 1994 | ||
7 | Prof. Dr. Jutta Limbach | 30. Juni 1994 | 10. April 2002 | ||
8 | Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier | 10. April 2002 | spätestens 2010 (Amtszeit) |
Zuständigkeiten
Das Bundesverfassungsgericht ist zur Streitentscheidung nur zuständig, wenn sich dies aus dem Grundgesetz oder § 13 BVerfGG ergibt (sog. Enumerativprinzip). Außerdem kann es laut Grundgesetz eine Zuständigkeit bei Verfassungsstreitigkeiten um die Auslegung von Landesverfassungen geben, wenn dies die Verfassung eines Bundeslandes so vorsieht (dies ist nur in der Verfassung von Schleswig-Holstein der Fall).
Nicht zuständig ist das Bundesverfassungsgericht jedoch bei Streitigkeiten, die die Europäische Union oder ihre Verträge berühren. In diesem Fall ist der Europäische Gerichtshof zuständig.
Verfassungsbeschwerde
Jeder, der sich in seinen Grundrechten durch staatliches Handeln verletzt fühlt, kann eine Verfassungsbeschwerde einreichen (Individualbeschwerde). Eine falsche Anwendung einfacher Gesetze durch die Fachgerichte genügt jedoch nicht für eine zulässige Beschwerde, wenn diese Rechtspositionen nicht grundrechtlich geschützt sind. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz.
Es gibt verschiedene Verfassungsbeschwerden:
- gegen Gesetze und/oder andere Normen des Bundes
- gegen Gesetze und/oder andere Normen eines Bundeslandes, sofern kein Landesverfassungsgericht zuständig ist
- gegen eine Behördenentscheidung
- gegen eine Gerichtsentscheidung
- gegen jedes andere staatliche oder dem Staat zuordnebare Handeln
Damit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, darf dem Beschwerdeführer kein anderes Rechtsmittel mehr offen stehen. Ausnahme sind Rechtsfragen, die von allgemeiner Bedeutung sind oder wenn dem Kläger die Ausschöpfung des Rechtsweges nicht zumutbar ist.
Auch juristische Personen können Verfassungsbeschwerde erheben.
Gemeinden und Gemeindeverbände können eine Verfassungsbeschwerde mit der Begründung einreichen, sie seien in ihrem kommunalen Selbstverwaltungsrecht verletzt. In diesem Fall spricht man von Kommunalverfassungsbeschwerden.
Konkrete Normenkontrolle
Ein Fachgericht, das ein bestimmtes Gesetz für verfassungswidrig hält, kann durch einen Beschluss das Verfahren der konkreten Normenkontrolle einleiten (Art. 100 GG). Nur das BVerfG kann Gesetze für verfassungswidrig erklären. Damit ist die Normverwerfungskompetenz beim BVerfG konzentriert.
Nicht zulässig ist eine konkrete Normenkontrolle jedoch für vorkonstitutionelles Recht, also für Gesetze, die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verkündet worden sind.
Abstrakte Normenkontrolle
Das BVerfG wird auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder mindestens einem Drittel der Mitglieder des Bundestags tätig. Die abstrakte Normenkontrolle ermöglicht somit der Opposition, die Verfassungsmäßigkeit eines von der Regierungsmehrheit beschlossenen Gesetzes oder auch eines völkerrechtlichen Vertrags prüfen zu lassen.
Organstreit
Ein Organstreit ist ein Rechtsstreit zwischen staatlichen Organen über Rechte und Pflichten, die sich aus ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status ergeben.
Bund-Länder-Streit
Ein Bund-Länder-Streit wird bei einer Differenz zwischen Bund und Ländern z.B. in Fragen der Gesetzgebungskompetenz angestrengt.
Parteiverbot
Verfahren nach Artikel 21 GG. Antragsberechtigt sind Bundestag, Bundesrat und die Bundesregierung. Bisher wurden 1952 die SRP (Sozialistische Reichspartei) und 1956 die KPD verboten. Ein Verbotsverfahren gegen die NPD ist vom Gericht eingestellt worden.
Verwirkung von Grundrechten
Antragsberechtigt sind Bundestag, Bundesrat und die Bundesregierung. Von 1955 bis 1988 gab es zwei Verfahren, 1992 waren erneut zwei Verfahren anhängig. (siehe: Grundrechtsverwirkung und Grundrechtsverwirkungsverfahren)
Wahlprüfung
Das Verfassungsgericht ist die zweite und letzte Instanz bei Einsprüchen gegen die Bundestagswahl. Die erste Instanz ist der Bundestag selbst. Wahlprüfungsbeschwerde können ein Quorum von mindestens 101 wahlberechtigen Bürgern erheben, Mitglieder des Bundestages, der Bundesrat oder die Bundesregierung. Es müsste hierzu durch Handeln oder Unterlassen während der Wahl ein Fehler aufgetreten sein, der sich auf die Sitzverteilung im Bundestag auswirkte.
Anklagen gegen den Bundespräsidenten oder Richteranklagen
Antragsberechtigt sind Bundestag, Bundesrat und die Bundesregierung. Eine solche Anklage ist noch nie vorgekommen.
Vorläufiger Rechtsschutz
Wie nach jeder anderen Prozessordnung kann das Verfassungsgericht vorläufige Entscheidungen treffen, bis das Hauptverfahren entschieden ist (einstweilige Anordnungen gemäß § 32 BVerfGG). Eine Besonderheit liegt darin, dass sich Organstreitverfahren und Normenkontrollen in der Praxis erledigen, wenn sie politisch brisant sind. Die „unterliegende“ Seite betreibt das Hauptverfahren oft nicht weiter.
Kritik am Bundesverfassungsgericht
Bei einigen Urteilen wurde kritisiert, dass das Bundesverfassungsgericht klaren Entscheidungen aus dem Weg gegangen sei. Als Beispiel wird die "Kopftuchentscheidung" genannt, die vielfach als unbefriedigend und als aufschiebend betrachtet wurde. Diese Kritik hört man vor allem von Seiten, die das BVerfG gerne als letztinstanzliches politisches Korrektiv sehen würden. Dagegen ist das Gericht seit seinem Bestehen resistent geblieben.
Andererseits wurde dem BVerfG insbesondere von Seiten der Politik bei mehreren Urteilen vorgeworfen, seine Kompetenzen auszuweiten und sich zum Ersatzgesetzgeber aufzuschwingen, obwohl diese Rolle nach der Verfassung dem Parlament zugedacht ist. Anstatt sich auf erhebliche Überschreitungen und Willkür des Gesetzgebers zu beschränken, bringe es eigene soziale und politische Vorstellungen ein und gebe dem Gesetzgeber dezidierte Vorstellungen von Gerechtigkeit auf, die zum einen schwer zu finanzieren und zum anderen Aufgabe der Politik seien. In diesem Zusammenhang muss indess beachtet werden, dass verschiedene Bundesregierungen wiederum dafür kritisiert wurden, unliebsame Entscheidungen quasi auf das Bundesverfassungsgericht abzuwälzen.
Bedeutende Entscheidungen (thematisch geordnet)
Gewissensfreiheit
- Das Gericht hebt 1978 ein Bundesgesetz auf, nach dem Wehrpflichtige den Kriegsdienst durch eine schriftliche Erklärung verweigern konnten, ohne im einzelnen ihre Gewissensentscheidung darzulegen (auch als "Verweigerung per Postkarte" bezeichnet), BVerfGE 2 BvF 1/77, 2 BvF 2/77, 2 BvF 4/77, 2 BvF 5/77.
Kunstfreiheit
- Mephisto-Entscheidung 1971 definiert die den verfassungsrechtlichen Schutzbereich der Kunst durch einen offenen Kunstbegriffs (BVerfGE 30, 173)
- In der Entscheidung zur Indizierung des Romans "Josefine Mutzenbacher" geht 1990 das Gericht auf das Verhältnis von Kunstfreiheit und Jugendschutz ein und stellt klar, dass Pornografie und Kunst einander nicht ausschließen. (BVerfGE 83, 130)
Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung (Datenschutz)
- 1983 wird im Volkszählungsurteil ein im Grundgesetz nicht kodifiziertes Grundrecht aus mehreren Verfassungsprinzipien hergeleitet und als eigenständiges Rechtsinstitut definiert. (BVerfGE 65, 1)
Unverletzlichkeit der Wohnung und Telekommunikationsfreiheit
- Großer Lauschangriff: 2004 Vorschriften über akustische Wohnraumüberwachung werden teilweise als verfassungswidrig aufgehoben. Das Gericht definiert anhand des Grundrechts auf Informationelle Selbstbestimmung einen unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung, als persönliches Refugium des Bürgers, der durch staatliche Maßnahmen nicht zu penetrieren ist und selbst Strafverfolgung keine Eingriffsrechtfertigung sein darf (BVerfGE 109, 279)
- Die präventive Telefonüberwachung in Niedersachsen wird 2005 für verfassungswidrig erklärt, da Bundesländern die Gesetzgebungskompetenz fehle. Materiell bedeutsam ist die Entscheidung für ähnliche Landesgesetzgebung in Thüringen und Bayern (BVerfGE 1 BvR 668/04).
Gleichheit vor dem Gesetz
- In der Spekulationsteuer-Entscheidung für die Jahre 1997 und 1998 erklärte das Gericht Teile des Einkommensteuergesetzes für verfassungswidrig und nichtig, die die Belastung von Veräußerungsgewinnen bei Wertpapieren zwar vorsehen, aber auf die eigene rechtliche Durchsetzbarkeit verzichten, sog. strukturelles Vollzugsdefizit. Damit sei eine ungleichmäßige Belastung schon im Gesetz angelegt (BVerfGE 2 BvL 17/02).
Meinungs- und Pressefreiheit
- In der „Tucholsky-Entscheidung“ um die öffentliche Aussage “Soldaten sind Mörder!“ bleibt das Gericht seiner Tradition treu, die Meinungs- und Pressefreiheit als demokratievitales Verfassungsgut zu schützen und führt eine musterhafte Prüfung von Grundrechtseingriffen aufgrund eines Gesetzesvorbehalts als verfassungsrechtliche Schranke. Diese Entscheidung zeigt die praktische Anwendung wichtiger Grundsätze aus der ständigen Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz wie die Heck’sche Formel, die Wechselwirkungslehre, die objektive Wertrangordnung und die Schutzbereichsdefinition von Werturteilen und Tatsachenbehauptungen (BVerfGE 93, 266).
Demonstrations- und Versammlungsfreiheit
- In der Brokdorf Entscheidung hebt das Gericht die besondere Bedeutung der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit für eine plebiszitärarmen Demokratie hervor, weshalb ein besonders starker status negativus gegen exzessive Reglementierungen durch Gesetz oder Verwaltungsakt wirke. Eingriffsmaßnahmen dürfe der Staat aufgrund der Polizeigesetze nicht treffen, sondern nur anhand des grundrechtsschonenden Versammlungsrechts. Auch dürften solche nicht mit Hinweis auf eine gewaltbereite Minderheit ergriffen werden (BVerfGE 69, 315).
Religionsfreiheit
- In der sog. Scientology-Entscheidung definiert 1994 das Gericht die Religionsfreiheit u.a. als kollektives Grundrecht und eine daraus resultierende Selbstverwaltungsfreiheit von Religionsgemeinschaften. Diese sei jedenfalls bei einer gewerblichen Betätigung mit Gewinnerzielungsabsicht nicht verletzt, wenn die Religionsgemeinschaft zur Gewerbeanzeige und Gewerbesteuer verpflichtet wird (DVBl. 1194, 413)
- Kruzifix-Beschluss 1995 erklärt Teile des Bayerischen Schulgesetzes für verfassungswidrig, wonach in jedem Klassenzimmer der Volksschulen in Bayern ein Kruzifix oder ein Kreuz anzubringen war. (BVerfGE 93, 1)
- 2002 entscheidet das BVerfG, dass es verfassungswidrig ist, muslimischen Metzgern Ausnahmegenehmigungen für das religiöse Schächten von Tieren zu verweigern. (BVerfGE 104, 337)
- Im Kopftuchstreit untersagt das Gericht 2003 dem Land Baden-Württemberg, das Tragen eines Kopftuchs ohne gesetzliche Grundlage zu verbieten und auf eine fehlende Eignung für den Staatsdienst zu schließen. (BVerfGE 108, 282).
Abtreibung
Mehrere gesetzliche Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff StGB) werden durch das Gericht für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben, weil sie dem Lebensschutzmaßstab des Grundgesetzes nicht entsprachen, u.a. die sog. "Fristenregelung".
In mehreren Entscheidungen hat das Gericht die Entwicklung von Presse, Rundfunk und Medien wie kaum eine andere Materie erheblich mitgestaltet.
Universitäten und Berufsfreiheit
- Im Apotheken-Urteil definiert das Gericht die Berufsfreiheit als einheitliches Grundrecht, das auf 3 Ebenen nach strengen abgestuften Kriterien einschränkbar ist, sog. 3-Stufen-Theorie (BverfGE 7, 377)
- In der Numerus Clausus Entscheidung wird ein Anspruch auf Zulassung zum Hochschulstudium und Kapazitätsausbau als status positivus definiert, der zum Schutzbereich der Berufsfreiheit gehöre der (BVerfGE 33, 303).
- Hochschulrahmengesetz des Bundes wird in den Jahren 2004 und 2005 in wichtigen Teilen für verfassungswidrig erklärt. Dies betrifft die Juniorprofessur (BVerfGE 2 BvF 2/02) sowie das Verbot von Studiengebühren (BVerfGE 2 BvF 1/03).
Eigentum
- Im Nassauskiesungs-Beschluss legt das Gericht den Schutzbereich eines sehr definitionsbetontem Grundrechts wie dem Eigentum fest und die juristischen Techniken für seine zulässigen Einschränkungen als Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentumsinstituts, Legalenteignungen oder gesetzliche Kriterien für Administrativenteignungen (BVerfGE 58, 300).
Staatsbürgerschaft
- Das Transformationsgesetz zum EU-Haftbefehl wird 2005 für verfassungswidrig erklärt. Die Entscheidung definiert den Schutzbereich des Art. 16 GG im Sinne eines umfassenden Heimatrechts, das eine dauerhafte Staatsbürgerschaft, politische Mitgestaltung und ein grundsätzliches Auslieferungsverbot garantiert (BVerfGE 2 BvR 2236/04).
Parlamentsrechte und Gesetzgebung
- In der Entscheidung zur unechten Vertrauensfrage von Helmut Kohl 1983 betont das Gericht, dass eine Auflösung des Parlaments nicht der Gestaltung eines günstigen nächsten Wahltermins durch die Regierung dienen dürfe. Auch bedürfe eine durch konstruktives Misstrauensvotum installierte Regierung keiner neuen Legitimation durch den Wähler, sog. Äquivalenzformel (BVerfGE 62, 1).
- In der Entscheidung über Einsätze der Bundeswehr im Ausland konkretisierte 1994 das Gericht das Prinzip der Parlamentsarmee und stellte fest, dass die Regierung nur dann Militäreinsätze befehlen könne, wenn sie die konstitutive Zustimmung des Bundestages vorher einholt. Dies könne der Bundestag durch schlichten Parlamentsbeschluss in ausreichender Form tun (BVerfGE 90, 286).
- Das Lebenspartnerschaftsgesetz wird 2002 mit dem Verweis auf die Gestaltungsfreiheit des Parlaments als verfassungskonform bestätigt. Gleichzeitig konkretisiert das Gericht Kriterien für die Freiheit der Regierung im Gesetzgebungsverfahren Teile eines Entwurfpakets zu entkoppeln und sie gegen den Willen des Bundesrates als Gesetz zustande kommen zu lassen (BVerfGE 105, 313).
- Zuwanderungsgesetz wird wegen Verfahrensmängel im Gesetzgebungsverfahren 2002 aufgehoben und einen Verfassungskonflikt im Bundesrat geklärt. (BVerfGE 106, 310)
Parteiverbote
- Am 23. Oktober 1952 wird die Sozialistische Reichspartei (SRP) verboten. (BVerfGE 2, 1)
- Am 17. August 1956 wird die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) verboten. (BVerfGE 5, 85)
- NPD-Verbotsverfahren wird 2003 eingestellt, weil das präsentierte Material nicht von der geheimdienstlichen Tätigkeit des Verfassungsschutzes trennbar war. Das Gericht verlangt, dass vor, spätestens aber im Verfahren staatliche Spitzel abzuschalten sind (BVerfGE 107, 339).
Allgemeine Handlungsfreiheit
- Die Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32) begründete das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit.
EU-Recht
- Im „Solange-II-Beschluss“ suspendiert das Gericht seine eigene Gerichtsbarkeit hinsichtlich Grundrechtsbeeinträchtigungen aus oder aufgrund des sekundären EG-Rechts, solange auf Gemeinschaftsebene in im Wesentlichen gleichwertiger Grundrechtsschutz durch Gemeinschaftsorgane wie den EuGH gewährleistet ist. Dies ist im Wesentlichen durch 2 Komponenten gegeben: Das deutsche Zustimmungsgesetz zum EGV als Anwendungsbefehl für das sekundäre Gemeinschaftsrecht und die strukturelle Prüfungsdichte durch den EuGH (BVerfGE 73, 339).
- Im Maastricht-Urteil werden diese Grundsätze weiter präzisiert und das Kooperationsverhältnis in der Grundrechtsgerichtsbarkeit zwischen BVerfG und EuGH näher umrissen. Neuer Anknüpfungspunkt für die Prüfungsdichte und die Aufgaben des BVerfG sei nach dem EUV jeder Gemeinschaftsrechtsakt direkt und nicht seine Umsetzung durch die deutsche Exekutive. Damit sei das Grundgesetz auch für sie Prüfungsmaßstab. Hinsichtlich der Hoheits- und Kompetenzübertragung auf die Gemeinschaft gelte das Prinzip der beschränkten Einzelermächtigung durch die Mitgliedstaaten, das die EUV-Interpretation zusammen mit der völkerrechtlichen Effet Utile Regel beeinflusse, im Ergebnis aber keine Kompetenzerweiterung oder –neubegründung gestatte (BVerfG NJW 1993, 3047).
Literatur
- Das Bundesverfassungsgericht : Geschichte - Aufgabe - Rechtsprechung / hrsg. von Limbach, Jutta. Mit Beitr. von Dieter Grimm .... - Heidelberg : C. F. Müller, 2000. - 84 S. - (Motive, Texte, Materialien ; 91). - ISBN 3-8114-2143-3
- Limbach, Jutta: Das Bundesverfassungsgericht. - München : Beck, 2001. - 96 S. - (Beck'sche Reihe ; 2161 : C.H.Beck Wissen). - ISBN 3-406-44761-9
- Säcker, Horst: Das Bundesverfassungsgericht. - 6. Aufl. - Bonn : Bundeszentrale für politische Bildung, 2003. - 263 S. - (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung ; 405). - ISBN 3-89331-493-8
- Schlaich, Klaus: Das Bundesverfassungsgericht : Stellung, Verfahren, Entscheidungen ; ein Studienbuch / von Klaus Schlaich. Fortgef. von Stefan Korioth. - 6., neubearb. Aufl.. - München : Beck, 2004. - XV, 431 S. - (Juristische Kurz-Lehrbücher). - ISBN 3-406-51387-5
- Wesel, Uwe: Der Gang nach Karlsruhe : das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik. - 1. Aufl. - München : Blessing, 2004. - 412 S. - ISBN 3-89667-223-1
Siehe auch
Weblinks
- Homepage des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen und Pressemitteilungen (jeweils beginnend mit dem 1. Januar 1998) sind sowohl über die Webseiten als auch als RSS-Newsfeed abrufbar.
- Bundesverfassungsgerichtsgesetz