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Willem Drees

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Willem Drees

Willem (Wim) Drees (* 5. Juli 1886 in Amsterdam; † 14. Mai 1988 in Den Haag) war ein niederländischer Politiker (SDAP, ab 1946 PvdA). Von 1948 bis 1958 war er Ministerpräsident der Niederlande und von 1946 bis 1958 faktischer Parteichef der sozialdemokratischen Partij van de Arbeid. Er gilt als Vater des niederländischen Sozialstaats.

Drees’ Vater war Bankangestellter und starb, als der Sohn fünf Jahre alt war. Er wuchs in einem strenggläubig protestantischen Milieu auf. Nur dank der finanziellen Unterstützung durch einen wohlhabenden Onkel konnte er die Höhere Bürgerschule und die Öffentliche Handelsschule Amsterdam besuchen, wo er 1903 sein Examen ablegte.[1] Anschließend arbeitete er drei Jahre bei der Twentsche Bank in Amsterdam, der früheren Arbeitgeberin seines Vaters. Schon als Schüler hatte Drees die Stenographie nach dem System von A.W. Groote gemeistert, 1906 machte er sich mit einem eigenen Stenographiebüro selbstständig und von 1907 bis 1919 arbeitete er als Stenograph mit festem Vertrag in der Zweiten Kammer des niederländischen Parlamentes.[2]

Politische Karriere bis 1945

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Nachdem er Pieter Jelles Troelstra bei einer öffentlichen Wahlrede erlebt hatte, trat der 18-jährige Drees 1904 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) bei, die damals noch eine revolutionäre, marxistische Ausrichtung hatte. Er selbst stand jedoch bei den innerparteilichen Auseinandersetzungen eher auf der Seite des gemäßigten, reformistischen Flügels. Von 1911 bis 1931 war er Vorsitzender des SDAP-Ortsverbands in Den Haag, von 1913 bis 1941 gehörte er dem Haager Stadtrat an. Anders als der Parteichef Troelstra strebte Drees am Ende des Ersten Weltkriegs im Herbst 1918 keine Revolution an, sondern setzte sich für tiefgreifende Reformen im Rahmen des bestehenden politischen Systems ein. Ab 1919 beteiligte sich die SDAP auch an der Stadtregierung (College van burgemeester en wethouders) von Den Haag, in der Drees bis 1931 wethouder (Beigeordneter) für Soziales und anschließend bis 1933 für Finanzen und öffentlichen Einrichtungen war. Von 1919 bis 1941 war er auch Mitglied des Provinzparlaments von Südholland.[1]

Ab 1927 war Drees stellvertretender Vorsitzender im nationalen Parteivorstand der SDAP.[2] 1933 wurde er als Abgeordneter in die Zweite Kammer gewählt, der er bis zur Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg im Mai 1940 (pro forma bis 1945) angehörte. Unter dem Eindruck der faschistischen Bedrohung mäßigte die SDAP ihre Ausrichtung und trennte sich in ihrem 1937 beschlossenen Grundsatzprogramm von marxistischen Grundsätzen.[3] Infolgedessen wurde sie im Kabinett De Geer II ab August 1939 erstmals an der niederländischen Regierung beteiligt. Als Nachfolger des zum Minister ernannten und deshalb aus dem Parlament ausgeschiedenen Willem Albarda wurde Drees im September 1939 Vorsitzender seiner Fraktion.

Während der Besatzung der Niederlande durch NS-Deutschland wurde Drees im Oktober 1940 so wie andere prominente Niederländer im KZ Buchenwald inhaftiert (als sogenannte „indische Geiseln“ – eine Vergeltungsmaßnahme für die Internierung von Deutschen in Niederländisch-Indien), ein Jahr später aber aus Gesundheitsgründen entlassen. Im Mai 1942 wurde er erneut verhaftet, aber nach zwei Wochen wieder aus dem Internierungslager Sint-Michielsgestel entlassen. So war er der prominenteste SDAP-Politiker, der weder in Gefangenschaft noch im Exil war, und konnte im Untergrund den politischen Widerstand organisieren. Auch übernahm er den Vorsitz im überparteilichen Politiek Convent der Widerstandsbewegung gegen die Besatzer.[1] Im August 1944 ernannte die niederländische Exilregierung in London Drees (unter dem Decknamen „Dreyfus“) zum Mitglied im Kollegium der Vertrauensmänner, das in den bereits durch die Alliierten befreiten Gebieten im Süden der Niederlande die Verwaltung übernehmen und die Rückkehr der legitimen Regierung vorbereiten sollte.[2]

Vizepremier, Sozialminister und Gründung der PvdA

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Nach Kriegsende beauftragte Königin Wilhelmina im Mai 1945 Drees und den Freisinnigen Willem Schermerhorn (Leiter der Nederlandse Volksbeweging, NVB) gemeinsam mit der Regierungsbildung. Das Kabinett Schermerhorn/Drees mit Schermerhorn als Premierminister und Drees als Vizepremier und Sozialminister wurde am 25. Juni 1945 ernannt. Er wirkte an der Gründung der Partij van de Arbeid (PvdA) mit, zu der im Sinne eines doorbraak („Durchbruchs“) der bisherigen politischen und weltanschaulichen Lager Anfang 1946 die SDAP, der linksliberale Vrijzinnig-Democratische Bond (VDB) und die links-protestantische Christelijk-Democratische Unie (CDU) fusionierten. Drees war jedoch der Überzeugung, dass es weiterhin eine klar erkennbare sozialdemokratische Partei geben sollte, damit sozialistisch gesinnte Arbeiter nicht zur Kommunistischen Partei überlaufen würden. Als faktischer Parteichef (partijleider) – neben dem offiziellen Parteivorsitzenden Koos Vorrink – sorgte er dafür, dass die PvdA weiterhin rote Fahnen verwendete, auf Parteiveranstaltungen Die Internationale sang und 1951 der wiedergegründeten Sozialistischen Internationale beitrat.[1] So wurde die PvdA im Wesentlichen als Fortsetzung der SDAP wahrgenommen, die meisten Freisinnigen waren davon abgeschreckt und verließen die gemeinsame Partei im Oktober 1947 wieder. Ein echter ideologischer Durchbruch blieb aus, was Drees in Kauf nahm.[2]

Bei der ersten Nachkriegs-Parlamentswahl im Mai 1946 kam die PvdA nur auf den zweiten Platz hinter der Katholischen Volkspartei (KVP). Im „römisch-roten“ Kabinett Beel blieb Drees Vizepremier und Sozialminister. In dieser Funktion legte er die Grundlage für die moderne Sozialgesetzgebung der Niederlande. Die Einführung einer „Notversorgung für alte Menschen“ im Oktober 1947 war so stark mit seinem Namen verbunden, dass man über die Empfänger dieser staatlichen Grundrente sagte, sie würden „van Drees beziehen“ (van Drees trekken).[1][2] Bei der vorgezogenen Parlamentswahl im Juli 1948 ging der Stimmenanteil der PvdA aufgrund der Abspaltung der Linksliberalen etwas zurück und sie lag nun deutlich hinter der KVP. Dennoch schlug der zunächst mit der Regierungsbildung beauftragte Josef van Schaik (KVP) Willem Drees als Ministerpräsidenten vor, dem man zutraute, eine breite Koalition aus Sozialdemokraten, Katholiken, der protestantischen Christelijk-Historische Unie (CHU) und der neuen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD; Zusammenschluss von Rechts- und Linksliberalen) zu führen, die über drei Viertel der Parlamentssitze verfügte.[2] Eine solch breite Koalition schien vonnöten, um zum einen den Wiederaufbau der Niederlande nach dem Krieg und zum anderen das Auseinanderbrechen des niederländischen Kolonialreichs angesichts des Indonesischen Unabhängigkeitskriegs zu bewältigen.

Amtszeit als Ministerpräsident

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Rede von Drees vor seiner Abreise nach Indonesien (Januar 1949)

Am 7. August 1948 wurde Drees zum Ministerpräsidenten der Niederlande sowie Minister für Allgemeine Angelegenheiten ernannt und übte das Amt zehn Jahre lang in vier aufeinanderfolgenden Kabinetten aus (Drees/Van Schaik, Drees I, II und III). In seine erste Amtszeit fiel die zweite „Polizeiaktion“ im Dezember 1948 bis Januar 1949, in der die Niederlande mit militärischer Gewalt versuchten, die indonesische Unabhängigkeitsbewegung zurückzudrängen. Ende Dezember 1949 erkannte seine Regierung schließlich die Unabhängigkeit der Republik Indonesien an. Anschließend versuchte Drees die lose Niederländisch-Indonesische Union zu stärken, mit der die Niederlande weiter Einfluss auf ihre ehemalige Kolonie nehmen wollten, die der indonesische Präsident Sukarno aber schon 1954 aufkündigte. Die sogenannte Indonesische Frage bezeichnete Drees in seinen Memoiren als den „größten und schmerzlichsten Streitpunkt“ in seiner politischen Laufbahn.[1]

Willem Drees (sitzend) im Gespräch mit Bauinister Herman Witte (1955)

Nach dem Ausscheiden von Piet Lieftinck übernahm Drees von Juli bis September 1952 interimsweise auch das Amt des Finanzministers. Bei der Parlamentswahl 1952 gewann die PvdA deutlich hinzu und wurde knapp vor der KVP stärkste Kraft. Anschließend schied die liberale VVD aus der Regierung aus, dafür trat ihr die protestantische Anti-Revolutionaire Partij (ARP) bei, sodass die Koalition weiterhin über eine Drei-Viertel-Mehrheit verfügte. Die neun Jahre zuvor von Drees initiierte Notversorgung für alte Menschen wurde 1956 von einem Allgemeinen Rentengesetz (Algemene Ouderdomswet, AOW) abgelöst,[2] das jedem dauerhaften Bewohner der Niederlande eine steuerfinanzierte Grundrente ab dem 65. Lebensjahr zusicherte.

Die Parlamentswahl 1956 brachte Drees’ Sozialdemokraten weitere Zugewinne, er setzte aber die übergroße Koalition mit den drei christlichen Parteien fort. Die Frage der Verlängerung einer Steuererhöhung – Finanzminister Henk Hofstra (PvdA) wollte bestimmte zeitlich befristete Steuererhöhungen um zwei Jahre verlängern, die Abgeordneten der christlichen Parteien nur um ein Jahr – führte im Dezember 1958 zur Regierungskrise und zum Rücktritt von Drees’ vierter Regierung. Am 22. Dezember 1958 schied er aus seinem Amt. Anschließend übernahm bis zur vorgezogenen Neuwahl im März 1959 Louis Beel (KVP) die Führung einer Übergangsregierung der drei christlichen Parteien ohne die PvdA.

1948 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Niederländischen Wirtschaftsuniversität Rotterdam und 1952 die der University of Maryland.

Drees sprach Esperanto und hielt die Eröffnungsrede beim Esperanto-Weltkongress 1954 in Haarlem.[4]

Am Tag seiner Entlassung als Premierminister verlieh Königin Juliana Drees den Ehrentitel eines Staatsministers. Er zog sich aus der aktiven Politik zurück, gehörte aber noch verschiedenen Beratungsgremien an. Drees war in den 1960er Jahren unzufrieden mit dem Linkskurs seiner Partei, insbesondere kritisierte er die Pläne seines Nachfolgers an der Parteispitze Joop den Uyl für höhere Ausgaben im öffentlichen Sektor. Die PvdA hatte ihn zum Mitglied des Parteivorstands auf Lebenszeit ernannt, aufgrund seines schwindenden Seh- und Hörvermögens nahm er aber nach 1966 nicht mehr an den Sitzungen teil. Als die PvdA im Jahr 1971 eine Fusion mit Democraten 66 und Politieke Partij Radikalen zur Bildung einer „progressiven Volkspartei“ erwog, beendete Drees seine Parteimitgliedschaft nach 67 Jahren. Er sympathisierte mit der neuen Partei Democratisch Socialisten ’70, in der sein Sohn Willem Drees jr. eine führende Rolle spielte, trat ihr aber nicht bei. Umgekehrt bewertete auch die in den 1970er-Jahren in der PvdA tonangebende Strömung der „Neuen Linken“ die Jahre unter Drees und seiner „Kompromisspolitik“ kritisch. In den 1980er-Jahren nahm die Wertschätzung für Drees in seiner früheren Partei hingegen wieder zu – er blieb aber parteilos.[1]

Das Grab von Willem Drees im Familiengrab auf dem Friedhof Oude Eik en Duinen in Den Haag

Drees heiratete 1910 die Erzieherin Catharina Hent. Das Paar bekam zwei Töchter und zwei Söhne, von denen einer – Willem Drees jr. – ebenfalls Politiker wurde.

Er war bei den Niederländern sehr beliebt. Sie gaben ihm dem Spitznamen Vadertje Drees („Väterchen Drees“). Laut der modernen Sage von der „Mariakaakje-Beratung“ soll er im Jahr 1949 oder 1950 US-amerikanische Diplomaten in seiner kleinen Privatwohnung empfangen haben, wo seine Frau sie nur mit Tee und einem Mariekeks bewirtete. Die so präsentierte Bescheidenheit und Sparsamkeit habe die Amerikaner der Legende nach überzeugt, dass die Niederlande Hilfe nach dem Marshallplan verdienten.

Willem Drees starb 1988 in seinem 102. Lebensjahr. Sein Grab befindet sich auf dem niederländischen Friedhof Oud Eik en Duinen in Den Haag.

Commons: Willem Drees – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

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  1. a b c d e f g Maarten Brinkman: DREES, Willem, in: Biografisch Woordenboek van het Socialisme en de Arbeidersbeweging in Nederland (online), Stand 25. September 2002.
  2. a b c d e f g J. Bosmans: DREES [SR., Willem (1886-1988)], in: Biografisch Woordenboek van Nederland, Huygens-Institut für die Geschichte der Niederlande, Stand 12. November 2013.
  3. Rob Hartmans: Hoe de SDAP afscheid nam van het marxisme. Het aanpassingsvermogen van een politieke partij in een grimmig tijdperk. In: Historisch Nieuwsblad, Nr. 7/2012.
  4. UEA: Reta Muzeo. Materialoj el Biblioteko Hector Hodler. 1947-1974. Welt-Esperanto-Bund (Memento des Originals vom 22. Juli 2012 im Webarchiv archive.today)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/uea.org