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Darmstädter Wort

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Das Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes war ein evangelisches Bekenntnis in der Tradition der Bekennenden Kirche. Es wurde am 8. August 1947 vom Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland herausgegeben und von den Theologen Hans Joachim Iwand und Karl Barth verfasst.

Anders als das Stuttgarter Schuldbekenntnis benannte es konkrete "Irrwege" der Christen und Kirchen, die lange vor 1945 die nötigen revolutionären Gesellschaftsveränderungen blockierten und so dem Nationalsozialismus mit den Weg zur Macht ebneten. Damit wollte es das Verhältnis von Kirche und Staat nach nahezu 400 Jahren protestantischer Tradition von Thron und Altar neu bestimmen. Die nur dem Evangelium verpflichtete Kirche sollte Anwalt der Armen und der Völkerversöhnung sein. Sie sollte so dem "Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens" dienen, wobei die Autoren an einen gesamtdeutschen Demokratischen Sozialismus dachten.

Wortlaut

Wort zum politischen Weg unseres Volkes

1. Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. Dies Wort sollen wir hören, annehmen, tun und ausrichten. Dies Wort wird nicht gehört, nicht angenommen, nicht getan und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eignen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heim rufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind.

2. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker.

3. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine "christliche Front" aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.

4. Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichts gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen.

5. Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unter lassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.

6. Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen, besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst Not tut.

7 Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: "Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dank barem Dienst an seinen Geschöpfen." Darum bitten wir inständig: Lasst die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn C h r i s t u s ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, lasst euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufhau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohl fahrt und den inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.

(Quelle: Kirchliches Jahrbuch 1945-1948, Gütersloh 1950, S. 220 ff.)

Theologischer und politischer Kontext

Das Darmstädter Wort nahm zu aktuellen Entwicklungen aus dem Glauben an die geschehene Versöhnung in Jesus Christus heraus Stellung (1. Satz). Es reagierte auf damals schon erkennbare Restaurationstendenzen innerhalb der westdeutschen evangelischen Kirche und Gesellschaft, die aus Sicht der Autoren an alte "Irrwege" anknüpften.

Voraus ging ein Referat von Karl Barth auf der Darmstädter Sitzung des Bruderrats am 5. und 6. Juli 1947 mit dem Titel: Die Kirche - die lebendige Gemeinde des lebendigen Herrn Jesus Christus. Darin entfaltete Barth sein theologisches Verständnis der Kirche als dynamische Wirklichkeit, die vor die Tatsache der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung der Welt (2. Kor 5,19) ...gestellt sei. Diese Tatsache offenbare uns Menschen zugleich das Gericht Gottes über unsere alte, das Kommen seiner neuen Welt (2. Kor 5,17).

Barth stellte also die enge Beziehung zwischen der in Jesus Christus schon geschehenen Versöhnung Gottes mit der Welt zum kommenden Reich Gottes, das diese Welt umstürzt und verwandelt, heraus. Um sich dieser Zukunft öffnen zu können, sei die Kirche aufgerufen, das Gericht Gottes über diese Welt wahrzunehmen und sich der eigenen Schuldgeschichte zu stellen. Nur so könne sie die richtige Antwort auf die Situation ihrer Gegenwart geben.

Barth sah damals zwei Hauptgefahren für die Kirche:

  • die Tendenz zur rückwärtsgewandten Bewahrung der eigenen Traditionen. Diese drohe gerade dort, wo die Kirche sich auf Bibel und Glaubensbekenntnis berufe, ohne zu merken, dass diese in die jeweilige Gegenwart hinein zu aktualisieren sind:
Noch beteuern die Christen aufrichtig ihren Glauben oder doch den ihrer Väter, und schon ist ihnen Gottes Offenbarung zu einer Gespensterwelt von ehrwürdigen Wahrheiten und hohen Moralgesetzen geworden.
  • das Bündnis der Kirche mit gesellschaftlichen und staatlichen Mächten. Christen neigten dazu, ihren Glauben mit der jeweils herrschenden religiös-politischen Weltanschauung zu kombinieren und der Welt statt Jesus Christus "das Christentum" anzubieten:
Sie sagen: 'Gottes Wort' und bemerken gar nicht mehr, dass sie damit eine dieser Kombinationen meinen...

Auch Iwand, der Hauptautor, sah auf der Ratstagung die Gefahr, dass die Kirche als Rückzugsgebiet für den verdrängten Nationalismus benutzt wird. Sie müsse aus eigener Kraft eine "Revision" dieser rückwärtsgewandten nationalistischen Tradition schaffen. Nicht die umgebende Welt, sondern die innerkirchliche Neigung, erneut Zweckbündnisse einzugehen mit den Mächten, die Gesellschaft und Staat aktuell beherrschten, bedrohe die Kirche. So müsse sie der Welt dann zwangsläufig das rettende und helfende Wort schuldig bleiben. Dagegen helfe nur eine echte Reformation der Kirche. Diese habe unbedingten Vorrang vor der Reform der Gesellschaft. Wolle die Kirche zu Letzterem beitragen, müsse sie Ersteres schaffen.

Iwand bezog dieses Anliegen einer politisch unabhängigen, nur ihrer Botschaft verpflichteten Kirche auf die 1947 schon sichtbare Tendenz der Westmächte, die Entnazifizierung und Entmilitarisierung Deutschlands zu beenden und die Sozialisierung und staatliche Kontrolle der Schlüsselindustrien (Bergbau, Kohle, Stahl) zu verhindern, um die drei Westzonen als Bollwerk gegen den Osten in Stellung zu bringen. Die Truman-Doktrin war bereits in Kraft, und die CDU begann, von ihrem Ahlener Programm abzurücken, um bei den USA eher Gehör zu finden. Iwand sagte zu diesen Tendenzen:

Mit diesem Glauben an eine echte Reformation habe ich den Eindruck, dass wir nicht von den Besatzungsmächten verstanden werden. Dies führt dazu, daß sie sich mit den alten kirchlichen Kräften besser verstehen und wir darum als Bekennende Kirche...nur wenige Freunde haben.

Auf diesem Hintergrund ist das Darmstädter Wort zu sehen. Es versucht, die Herausforderung des Evangeliums für die deutsche Nachkriegssituation zu beantworten und die Reformation der Kirche trotz und entgegen der Restauration der Gesellschaft anzugehen.

Verschiedene Vorentwürfe

Da Gottes Versöhnung mit der Welt (These 1) die Versöhnung der Völker (These 7) ermöglicht und darauf zielt, stellte Iwand in der Aussprache über Barths Referat zunächst die Frage: Was heißt es denn, ich bin ein Deutscher? Er glaubte, dass die Versöhnung mit den Völkern zunächst eine Klärung des Verhältnisses zur eigenen, deutschen Geschichte erfordere.

Darum rückte sein Vorentwurf vom 6. Juli 1947 den nationalistischen Irrweg (These 2) in den Vordergrund: Der "Traum der besonderen deutschen Sendung", der seit den antinapoleonischen Freiheitskriegen geträumt wurde und im Kaiserreich wie im Dritten Reich "den schrankenlosen Gebrauch politischer Macht" rechtfertigte, war 1945 unwiderruflich ausgeträumt.

Barths Vorentwurf vom 10. Juli fügte These 2 den Irrweg der "militärischen Machtentfaltung" hinzu: Nationalismus und Militarismus bildeten im Kaiserreich eine Einheit, und beides zusammen war eine wesentliche Voraussetzung für Hitlers Aufstieg.

Kennzeichnete diese Aussage zunächst die allgemeinpolitische Entwicklung, so wandte sich Iwands These 3 der Rolle der Kirche zu: Er beschrieb sie als "christliche Front gegen die notwendigen gesellschaftlichen Neuordnungen" und als "Bündnis mit den konservativen Mächten". Hier nannte Barth ergänzend "Monarchie, Adel, Armee, Großgrundbesitz, Großindustrie". Das markierte das sogenannte "christliche Abendland" als in Wahrheit feudalistische und kapitalistische Klassengesellschaft.

Ihr gegenüber betonte Iwand - zum ersten Mal in einer halboffiziellen Kirchenerklärung - "das Recht auf Revolution". Die Haltung der Kirchen im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik war durchgängig von einer tiefen Abneigung gegen Demokratie und Sozialismus geprägt; dieselben Vertreter, die die Novemberrevolution als Katastrophe beklagten, bejubelten die "nationale Revolution" der Machtergreifung Hitlers wie eine Erlösung. Das habe, so Iwand, "furchtbare Folgen gezeitigt". Weder er noch Barth erwähnten jedoch den Holocaust.

These 4 stellt das "freie Angebot der Gnade Gottes" der "weltanschaulichen Frontenbildung" gegenüber. Iwands Entwurf nannte konkret die Parole "Christentum oder Marxismus", die Kirchenvertreter schon wenige Jahre nach der Katastrophe wieder ausgaben, obwohl sie zuvor kaum jemals "Christentum statt Nationalsozialismus" gesagt hatten. Er erläuterte die Folgen:

Diese Parole hat uns verführt, zu schweigen, als wir zum Zeugnis für Recht und Freiheit gefordert waren, und denen politisch zu folgen, denen wir als Christen widerstehen mussten.

Dieser Satz zum christlichen Widerstandsrecht wurde in die Endfassung nicht übernommen. Dafür kam die von Barth formulierte These 5 hinein. Im Vorentwurf lautete sie:

Wir sind in die Irre gegangen, indem wir den ökonomischen Materialismus der marxistischen Lehre als ein Licht der leiblichen Auferweckung Jesu Christi und als Licht der umfassenden Prophetie Jesu Christi übersahen.

Dies wurde häufig missverstandener Stein des Anstoßes. Barth wollte damit nicht die marxistische Lehre predigen. Er bejahte sie nur als hilfreiches Instrument zur Gesellschaftsanalyse und Interessenbestimmung, betrachtete sie aber nicht als alleingültige Ideologie. Er wollte die Kirche durch sie an ein Element ihrer eigenen Botschaft erinnern: die "Verheißung für das Diesseits", nämlich die in der Prophetie Israels verheißene, durch die Auferstehung Jesu bekräftigte Revolution Gottes zu Gunsten der Armen (Mt 5, 3.5):

Selig ihr Armen, denn euch gehört Gottes Reich!...Selig ihr Machtlosen, denn ihr werdet die Erde besitzen!

Eben darum habe die Kirche "die Sache der Armen" als ihre eigene Sache zu begreifen. Dies wie auch das Recht zur revolutionären Überwindung von Klassenherrschaft und Widerstand gegen faschistische Regime nahm im Kern die spätere Befreiungstheologie schon vorweg.


Wirkung

Unmittelbar nach dem Erscheinen des Wortes nahmen konservativ-lutherische Theologen wie Hans Asmussen und Walter Künneth Stellung und kritisierten es als "Sozialistenbeschluss" und "Konjunkturtheologie". Sie unterstellten ihm also - besonders im Hinblick auf die positive Würdigung des Marxismus in These 5 - eine neue kirchliche Anpassung an den Zeitgeist. Sie warnten vor einer "Entwertung" des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, das nun erst in der "Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung" gedruckt und an die Gemeinden verteilt wurde.

Dieselben Theologen hatten jedoch bei der Entstehung der Stuttgarter Schulderklärung lange gezögert und widersprochen, als Martin Niemöller ein konkretes, eigenes Schuldbekenntnis formulieren wollte (Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden...).

Das Darmstädter Wort spielte in den folgenden Jahrzehnten für die Gesamtposition der EKD keine entscheidende Rolle. Die Bruderräte, die in ihr die Tradition der Bekennenden Kirche fortsetzen und aktualisieren wollten, wurden bald aus den Kirchenleitungen verdrängt und verloren an Einfluss.

Die Absicht des Darmstädter Wortes, die Kirche als eigenständige Kraft gegenüber beiden Seiten im Kalten Krieg zu positionieren, sich der ideologischen Alternative "hier Christentum, dort Marxismus" zu entziehen und eine Reformbereitschaft in Richtung eines demokratischen Sozialismus als Perspektive Gesamtdeutschlands offen zu halten, wurde in der EKD nicht verstanden. Die Neigung, eine unhistorische Gleichsetzung von Nationalsozialismus und "Bolschewismus" zu vollziehen und die Rückkehr zu "christlich-abendländischen Werten" zu predigen, die die Kirche als konservatives Bollwerk gegen die Säkularisierung zu hüten habe, war stärker.

Für christliche Friedensgruppen der außerparlamentarischen Opposition gegen die Wiederbewaffnung und die Atombewaffnung ("Kampf-dem-Atomtod") in der Bundesrepublik spielte das Darmstädter Wort hingegen eine wichtige Rolle. Mit dem Abschluss des Militärseelsorge-Vertrages 1957 und den "Heidelberger Thesen" von 1958, die die Bereithaltung von Atomwaffen zur Abschreckung der Sowjetunion bedingt bejahten, setzte sich jedoch die Westbindung auch in der EKD endgültig durch. Damit war die Perspektive des Darmstädter Wortes, die Kirche "zwischen" Ost und West zu positionieren und von der Versöhnungsbotschaft her eine politische Neuorientierung zu wagen, zunächst gescheitert.

Die Aktion Sühnezeichen, eine 1959 von Präses Lothar Kreyssig gegründete Initiative für Versöhnungsarbeit besonders mit Israel, nahm das Wort positiv auf, bemängelte aber auch, dass ein wesentlicher Irrweg darin nicht benannt wurde: die kirchliche Schuld am Antijudaismus und somit auch am Antisemitismus.

Erst in der sogenannten Ostdenkschrift der EKD von 1965 tauchten Impulse aus dem Darmstädter Wort unvermutet wieder auf. Denn diese Denkschrift wurde von Theologen aus der Schule Iwands wie dem Beienroder Konvent vorbereitet, die sich der Versöhnung mit den Völkern Osteuropas - allen voran Polen und Russen - besonders verpflichtet fühlten. So hatte Iwand bereits 1947 - ähnlich wie Klaus von Bismarck - vor großen Flüchtlingsgemeinden für den Verzicht auf die an Polen gefallenen ehemaligen deutschen Ostgebiete geworben, war damals aber ein einsamer Rufer in der Wüste geblieben.

Während Bundeskanzler Ludwig Erhardt im November 1965 die Nachkriegszeit für beendet erklärte und einen westlich orientierten Patriotismus empfahl, während in der DDR ein "Antifaschismus von oben" hinter der Berliner Mauer verordnet wurde, entdeckten im Verlauf der nun aufkeimenden Studentenbewegung politisch engagierte Christen das Darmstädter Wort neu. Evangelische Studentengemeinden (ESG) an den Universitäten übernahmen sie als ihre Gründungsurkunde und beriefen sich fortan oft darauf, um ihre "Option für einen humanen Sozialismus" als christlich mögliche Entscheidung damit zu begründen.

Während westdeutsche Christen das Wort "von unten" gegen die Kirchenhierarchie verwendeten, wurde 1969 unter politischem Druck der SED der "Bund der Kirchen in der DDR" gegründet. Bischof Albrecht Schönherr nahm vor allem die 6. These des Darmstädter Worts als bindend für den Kirchenauftrag in der DDR positiv auf und integrierte es in sein Selbstverständnis von "Kirche im (nicht: gegen den) Sozialismus".

1972 forderte Heino Falcke die Christen in der DDR auf der Bundessynode in Dresden auf, die Hoffnung auf einen "verbesserlichen Sozialismus" nicht aufzugeben und dafür einzutreten. Daraufhin verbot die SED dem Kirchenbund, öffentlich über andere und bessere Gesellschaftskonzepte nachzudenken. Die Ost-CDU wiederum benutzte die 5. These dann oft für ihre Interpretation, die evangelische Kirche in der DDR habe damit angeblich den bestehenden Staatssozialismus anerkannt.

Till Wilsdorf, damals Leiter der Theologischen Komission der ESG, berief 1977 zum 30-jährigen Jubiläum des Darmstädter Worts eine "Versammlung europäischer Christen" nach Darmstadt ein. Während sich die Leitung der EKD unter Erwin Wilckens sofort von dieser Einladung distanzierte und das Darmstädter Wort öffentlich als "Privatarbeit" und Betriebsunfall der Nachkriegs-Kirchengeschichte abwertete, nahmen viele Christen auch aus Osteuropa an der Konferenz teil.

Von dieser Versammlung gingen erste Impulse für eine blockübergreifende gesamteuropäische christliche Friedensbewegung aus, die dann in den 80er Jahren im Kontext der neuen Aufrüstungsschritte von NATO und Warschauer Pakt Gestalt annahm. Vikare und Vikarinnen in Westberlin verlangten nun, wie auf der Barmer Theologische Erklärung, so auch auf das Darmstädter Wort ordiniert zu werden. Dies löste schwere Konflikte mit den Kirchenämtern aus.

Gerade diese Reaktionen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zeigten die weiterwirkende Aktualität des Darmstädter Worts.

Literatur

  • Bertold Klappert: Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen. Neukirchener Verlag 1994, ISBN 3788714514
  • Schriftenreihe des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung Heft 4: In die Irre gegangen? Das Darmstädter Wort in Geschichte und Gegenwart. Berlin 1994, ISBN 3931232034
    • Daraus: Harmut Ludwig: Entstehung, Wirkung und Aktualität des Darmstädter Wortes.

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