Antijudaismus im Mittelalter

Antijudaismus (griechisch-lateinisch: "prinzipiell gegen Juden") nennt man die Ablehnung, Anfeindung und Verfolgung von Angehörigen des Judentums durch Christen, Kirchen, christliche Staaten und Regierungen.
Diese Judenfeindschaft entstand durch den Alleingeltungsanspruch des Christentums. Sie wurde seit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. bis zur "konstantinischen Wende" zum Grundbestand christlicher Theologie. Sie bestimmte dann - von räumlich und zeitlich begrenzten toleranten Perioden abgesehen - die Volksfrömmigkeit und den Umgang christlicher Mehrheiten mit jüdischen Minderheiten in weiten Teilen Europas während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, teilweise bis zur Gegenwart.
Überblick
Der Aufstieg der Kirche zur Staatsreligion (380) ermöglichte nach dem Zerfall des römischen Reiches die Christianisierung Europas. Juden waren vielfach die einzige Minderheit, die dem kirchlichen Alleingeltungsanspruch sichtbar trotzte. Die Kirchen setzten ihre Isolierung, die Tabuisierung bestimmter Berufe für Christen und die Ghettoisierung jüdischer Gemeinden durch, die die mittelalterliche Gesellschaft prägte.
Die christliche Volksfrömmigkeit war mit vorchristlichem Paganismus vermischt und anfällig für religiöse Vorurteile. Juden galten Christen als "verstockte" "Gottesmörder"; sie waren schon seit dem 5. Jahrhundert häufiges Objekt von Zwangstaufen, Verketzerung, Ausgrenzung und lokaler Verfolgung. Im Spätmittelalter wurden sie zusätzlich als "Brunnenvergifter", "Kindesmörder", "Hostienfrevler" und "Schweine" dämonisiert. Berufsverbote, Merkantilismus, die Verschuldung christlicher Herrscher und Adeliger infolge ihrer Kriege und Lehnspolitik bei jüdischen Handelshäusern verstärkten zudem das Feindbild des "reichen", "geizigen", "listigen", "verschlagenen" jüdischen "Wucherers". Diese stereotype Kriminalisierung und Stigmatisierung wurde oft gerade von Kirchenführern und Theologen propagiert und aktiviert.
Im Kontext von Verelendung, Kreuzzügen und Epidemien kam es dann häufig zu Hassausbrüchen, regionalen ungeplanten Massakern bis hin zu organisiertem landesweiten Massenmord in Pogromen. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden die Juden aus fast allen Städten deutschsprachiger Gebiete, aber auch aus anderen europäischen Regionen vertrieben.
Ob religiöse, politische oder soziale Ursachen dabei Vorrang hatten, ist umstritten. Machtansprüche des Papsttums, die Türkengefahr, die Inquisition, die Pest, der im Volk verbreitete Aberglaube und das niedrige Bildungsniveau begünstigten diese Judenverfolgungen.
Die Reformation beendete zwar das katholische Machtmonopol, setzte aber die theologische Abwertung des Judentums fort, indem sie es als "Werkreligion" und schroffen Gegensatz zum wahren Christusglauben interpretierte. Martin Luther fasste 1543 alle antijüdischen Stereotypen des Mittelalters zusammen und forderte ein Religionsverbot und die Vertreibung der Juden von den Fürsten.
Von dort wurden sie in die frühe Neuzeit überliefert. Die Aufklärung beerbte und säkularisierte sie. So bereiteten sie den rassistischen Antisemitismus vor. Dieser ist vom religiösen Antijudaismus zu unterscheiden, aber nicht zu trennen: Beide Formen systematischer Judenfeindlichkeit sind historisch eng verwandt, bedingten einander und wirkten zusammen bis hin zum Holocaust am europäischen Judentum.
Seitdem haben die Kirchen begonnen, ihren Antijudaismus theologisch und praktisch aufzuarbeiten. In den Vorurteilsstrukturen christlich geprägter Völker Europas ist dieser jedoch nach wie vor latent vorhanden.
Vorgeschichte
Die Trennung von Judentum und Christentum
Das rabbinische Judentum duldete die Christen anfangs als innerjüdische Sekte und verteidigte sie gegen die Sadduzäer. Doch nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. vertrieb Kaiser Titus die Juden, aber auch die Christen in die Diaspora. Diese wurden im Bereich Israels verfolgt und zur Flucht nach Syrien gezwungen (Apostelgeschichte, Testimonium Flavianum).
Nun wurde eine Neuordnung des Judentums nötig. Auf der Synode von Jawne (beim heutigen Tel Aviv) um das Jahr 100 setzten sich die Pharisäer unter Rabbi Gamaliel II. - einem Schüler von Hillel - durch. Sie reformierten Halacha, Festriten und Tagesgebete und leiteten die Kanonisierung der jüdischen Tora ein. Damit erreichten sie eine Zusammenführung verschiedener jüdischer Strömungen, grenzten aber andere - darunter Sadduzäer, Zeloten und Christen - als Häresien aus.
Zeitgleich verstärkten die Christen ihre Völkermission und verschrifteten ihre Evangelien, um sich ihrerseits vom rabbinischen Judentum abzugrenzen und im feindlichen römischen Reich zu behaupten. Fortan existierte eine neue Religion, die aus dem Judentum hervorgegangen war und rasch wuchs.
Nach einem weiteren jüdischen Aufstand wurde Judäa 135 von den Römern zerschlagen und in Palästina umbenannt. Die in Israel ansässigen Juden wurden in der ganzen damals bekannten Welt verstreut. Sie gelangten als römische Sklaven oder Fernhändler in fast alle Teile des Römischen Reiches. Sie hatten keinen Staat mehr, in dem sie ihrer Kultur und Religion ungestört nachgehen konnten. Fortan waren sie eine heimatlose Minderheit in Europa. Umso mehr achteten sie auf Bewahrung ihrer Glaubenstraditionen.
Im römischen Reich gewannen Christen heidnischer gegenüber Christen jüdischer Herkunft bald die Mehrheit. Das begünstigte die Umdeutung und Abtrennung von israelitischen Heilserwartungen, die für die Urchristen maßgeblich waren. Nun begann die Verknüpfung der im NT angelegten antijudaistischen Motive zu einer gesamtkirchlichen Theorie.
Die Ausbildung der antijudaistischen Theologie
Die antike Judenfeindschaft war sporadisch, örtlich begrenzt und - bis auf die ägyptische, von Römern übernommene Anti-Exodus-Linie - inoffiziell. Der christliche Antijudaismus jedoch bildete im 2. und 3. Jahrhundert eine in sich konsistente Theologie heraus. Diese wurde ab 313 von der ganzen Reichskirche dauerhaft vertreten, offiziell geschürt und untermauert: auch dort, wo es gar keine Juden gab.
Dieser Prozess begann schon mit dem Antijudaismus im Neuen Testament (Jules Isaac). Er verfestigte die innerjüdische Sektenpolemik, die es ähnlich auch bei Juden gab (Qumran, Talmud). Im Zentrum steht der Vorwurf: Ganz Israel habe Jesus abgelehnt, sei an seinem Tod Schuld, habe mit ihm Gott selbst getötet und damit für alle Zeit Gottes Fluch auf sich gezogen. Diese Verknüpfung bahnt sich etwa in 1. Thess 2,15; Apg 2,23; Jak 5,6 u.a. schon an. Dass Jesu Tod Gottes ewiger Wille war, dass er gerade so diesen Fluch ein für allemal in Gnade für ganz Israel verwandelt hat (Mk 15, 33f) und seine Jünger alle Juden waren, wurde später stets übergangen.
Die christlichen Missionare zogen durchweg Schriftbeweise heran, um Jesus als Messias zu verkünden: Ihre Adressaten waren zuerst Juden, die mit "gottesfürchtigen" Heiden im Raum der hellenistischen Handelsstädte zusammenlebten. Diese indirekte Heidenmission war nicht zwangsläufig antijüdisch. Im Zuge der Gewinnung oberer Gesellschaftsschichten aber übernahm sie die antijüdische Propaganda der antiken Autoren und stellten sie auf eine neue Basis: die Auslegung der Bibel und eine "historische" Beweisführung. Das gab es vorher nicht.
Christliche Schriften des 2. Jahrhunderts inner- und außerhalb des NT zeigen den Abgrenzungsprozess beider Religionen. Die älteste erhaltene Kirchenordnung, die "Didache" (Lehre) der 12 Apostel, unterscheidet den christlichen vom jüdischen Gottesdienst um 100 bereits mit Nachdruck:
- Eure Festtage sollen nicht mit denen der Heuchler zusammenfallen...Auch sollt ihr nicht beten wie die Heuchler...
Die jüdischen Fasten wurde fortgesetzt, aber bewusst auf andere Wochentage verlegt. Das tägliche Achtzehnbittengebet wurde durch das Vaterunser ersetzt. Die Ignatiusbriefe bestätigen, dass Christen den Sabbat anders als die Urgemeinde nicht mehr einhielten.
Gleichwohl blieb der Glaube an Jesus für die erste Christengeneration Vollendung des Judentums, so dass die Judenmission Vorrang behielt. Lokale Verfolgung durch Juden, etwa im Kontext des Bar-Kochba-Aufstands von 132, begründete noch keine allgemeine Feindschaft gegen das Judentum. Auch die Apologeten Justin oder Tertullian bekämpften im Gefolge des Paulus nicht das Judentum, sondern das "Judaisieren" christlicher Gegner. Ihre Polemik gegen Häretiker, etwa den Gnostizismus, war weitaus schärfer als gegen Juden. Dabei hoben sie die bleibende Bedeutung des Alten Testaments für die werdende Kirche hervor.
Aber aus dem urchristlichen Credo "Jesus ist der Messias" folgerten die christlichen Theologen nun durchweg:
- Die Kirche sei das wahre Israel,
- das jüdische Gesetz sei überholt, ungültig, nur noch allegorisch anwendbar
- das Judentum habe Fluch, Gericht und Verwerfung, die Christen dagegen die Bundesschlüsse und Verheißungen des Alten Testaments geerbt.
Der um 190 vermutlich in Ägypten entstandene Barnabasbrief zeigt, wie die Christen die Bibel für sich vereinnahmten, um Jesu Messianität zu beweisen. Die "Testimonia" (Zeugnisse) von auf Christus gedeuteten Bibelstellen verbanden damit, dass das Judentum nur noch falsche Lehre vertrat. Damit begann die christliche Adversos-Judaios-Literatur (Latein: "gegen die Juden").
So "bewies" Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte (Buch 2, Kapitel 6): Juden waren Gott immer ungehorsam - sie fielen vom älteren, reinen Glauben der "Hebräer" (Abraham) ab - Moses versuchte vergeblich, sie durch den "Fluch" des Gesetzes dorthin zurück zu führen - die Elite der Hebräer (= Propheten) tadelte sie fortlaufend und sagte ihren Untergang voraus, falls sie auch den Messias verwerfen würden - das taten sie aber - darum verloren sie den Tempel - Christen sind die rechtmäßigen Erben des wahren Hebräerglaubens - Christus selbst verbreitet den Ausschluss Israels über die ganze Welt - Niederlagen, Leiden und Zwietracht des Judentums sind Folgen seiner Schuld am Tod Christi : "So überwältigte die göttliche Vergeltung die Juden für die Verbrechen, die sie an Christus gewagt hatten zu begehen."
Dieses typische christliche Judenbild operierte mit bewusster Geschichtsfälschung. Es führte Kirche und Israel auf zweierlei Abstammung zurück, verteilt Gericht und Heil, Fluch und Gnade auf verschiedene "Völker", kennt Juden nur als Abtrünnige, Rebellen, Feinde Gottes. Es "enteignete" so das ganze Judentum religiös. Demgemäß führte die kirchliche Theologie das Leiden der Juden unter den christianisierten Völkern später auf ihr "Verbrechen an Gott" zurück und machte sie zum "Sündenbock" für alles mögliche Unglück. Hier liegt eine Wurzel für die Exzesse im 1. Kreuzzug und den späteren neuzeitlichen Antisemitismus.
Die Theorie vom "Gottesmord" taucht explizit erstmals bei dem Bischof Melito von Sardes in Kleinasien auf (um 190). Seine 1940 vollständig wiederentdeckte Passahpredigt über Israels Auszug aus Ägypten steigert dessen Schuld am Tod Jesu zum mythologischen Weltverbrechen:
- Hört es, alle Geschlechter der Völker, und seht es: Ein nie dagewesener Mord geschah in Jerusalem [...] der, der das All festgemacht hat, ist am Holz festgenagelt worden! Gott ist getötet, der König Israels ist durch Israels Rechte beseitigt worden!
Daraus erklärte er das gegenwärtige Leiden der Juden nach ihrer Zerstreuung im römischen Reich. Dabei ging es um kirchliche Interessen: Der Ostertermin sollte an das jüdische Passahfest gebunden, die Auferstehung sollte als Triumph des Sohnes Gottes missionswirksamer gefeiert werden.
Johannes Chrysostomos folgerte in seinen acht antijüdischen Sermonen daraus einen kriminellen Charakter aller Juden. Gregor von Nyssa zog eine kaum zu überbietende Bilanz: Die Juden seien "Gottesmörder, Prophetentöter, Streiter wider Gott, Gotthasser, Gesetzesbrecher, Feinde der Gnade, vom Glauben der Väter abgefallen, Advokaten des Teufels, Schlangenbrut, Denunzianten, Verleumder, Heuchler, Hefe der Pharisäer, Satanssynagoge, Feinde des Menschengeschlechts, Mörder."
Diese Liste enthält alle damaligen Vorwürfe. Sie waren im 4. Jahrhundert bereits christliches Allgemeingut. Sie wurden auch von Theologen wie Origenes vertreten, die im Alltag mit Juden befreundet waren und sie gegen Römer in Schutz nahmen ("Contra Celsum"). Sie wurden ausschließlich religiös, nicht ökonomisch oder politisch begründet. Dort, wo Christen und Juden in derselben Minderheitssituation waren - beispielsweise in Persien - fehlten sie. In Europa aber wurden sie integraler Bestandteil der Dogmatik der Alten Kirche.
Obwohl keiner der Kirchenväter ausdrücklich dazu aufrief, rechtfertigten alle die Judenausgrenzung, die später in Judenverfolgung mündete. Viele von ihnen sprach die katholische Kirche später heilig. Erst seit den letzten Jahrzehnten wird ihre durchgängig antijudaistische Haltung problematisiert.
Der Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion
Bis zur Konstantinischen Wende waren die Christen selbst eine Minderheit, die oft schwersten Verfolgungen im römischen Reich ausgesetzt war. Doch schließlich wurde das Christentum 380 zur Staatsreligion des Römischen Reiches. Diese Entwicklung wurde nur durch immer stärkere Abkehr von den jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens möglich. Diese legte das Fundament für die mittelalterliche Judenfeindlichkeit.
Die Apologeten des 2. Jahrhunderts priesen das Christentum hellenistisch gebildeten Römern als bessere, vernünftige Philosophie an. Damit drang es in obere Gesellschaftsschichten vor. Die Patristik des 3. Jahrhunderts verschmolz griechischen Geist (Neuplatonismus) mit biblischer Tradition. In Konkurrenz mit Mysterienreligionen, Gnostizismus, Manichäismus und christlichen "Häresien" widersprach sie der Abwertung des Alten Testaments durch seine Kanonisierung.
Aber die Reich Gottes-Erwartung, die für Jesus von Nazaret, seine Jünger und die Autoren des Neuen Testaments bestimmend war, verblasste und wurde neuplatonisch zum Jenseitsideal umgedeutet. Dabei gingen die kult-, staats- und sozialkritischen Elemente der jüdischen Prophetie und Apokalyptik verloren. Die radikalen Forderungen der Bergpredigt wurden in dem Maße "entschärft", wie die Mission auch reiche römische Bürger erreichte.
Entgegen Jesu Gebot "Wer unter euch der Erste sein will, der sei der Sklave aller" (Mk 10,44) wurde das monarchische Episkopat (Bischofsamt) geschaffen. Die Kirche kopierte die römische Diözesenverwaltung und gab den Metropoliten die Aufsicht über alle Bischöfe ihres Bezirks (Parochie). Daraus entstanden die 5 Patriarchate: Rom war das einzige im Westen. Dessen Bischof Kalixt I. (221-227) erhob als Erster den Anspruch, für alle übrigen Bischöfe zu sprechen. Er leitete seinen Machtanspruch aus der Petrus-Nachfolge (Mt. 16, 18f) ab und entwickelte die Idee des Papsttums.
Angesichts der unaufhaltsamen Ausbreitung des Christentums beendete Kaiser Konstantin I. die Verfolgungspolitik seiner Vorgänger. Um seine Macht abzusichern, erließ er 313 das Mailänder Toleranzedikt. 315 verbot er den Übertritt zum Judentum mit Androhung der Todesstrafe. 321 führte er die allgemeine Sonntagsfeier per Gesetz ein. 325 berief er ein Konzil ein und setzte die Einigung auf das Bekenntnis von Nicäa durch. So vereinheitlichte der Kaiser die Lehre der Kirche und band sie in seine Politik ein. Das hatte Folgen:
- Die Bevölkerung ließ sich nun massenhaft taufen.
- Die meisten Neugetauften nahmen die Nachfolge Jesu nicht Ernst.
- Das "Heidentum" wurde nicht abgelegt, sondern suchte und fand innerhalb der Kirche rituelle Ausdrucksformen.
- Der Klerus deutete und verkündete das Evangelium gemäß den Erfordernissen einer Staatsreligion für alle Lebensbereiche.
- Eine zentrale Kirchenbehörde übernahm die Leitung der universalen Völkermission.
- Andersgläubige wurden zu Außenseitern und gerieten in Bedrängnis.
Antijüdische Gesetze und erste Verfolgungen
Die Kirchenkonzile vom 4. bis 7. Jahrhundert erließen zahlreiche Regeln, die den Kontakt mit Juden und deren Einfluss unterbanden. Sie sollten im Zustand der gottesfeindlichen Minderheit bleiben. Diese Isolierung führte 500 Jahre später zur Ghettoisierung und begünstigte, dass Juden 1000 Jahre später als eigene "Rasse" definiert wurden.
391 beendete Theodosius die Religionsfreiheit und verordnete Christsein offiziell. Heidentum und Häresie (Abweichung) wurden zum Staatsverbrechen. Die Kirchenführer begrüßten den Glaubenszwang und passten die Theologie der Politik an. Augustinus von Hippo schuf die Lehre vom "Gerechten Krieg" (De civitate Dei 420): Sie erlaubte getauften Staatsbeamten die Ausübung von bewaffneter Gewalt, die Jesus seinen Jüngern ausdrücklich verboten hatte (Mt 5,39; 26,52).
Das Christentum beanspruchte den wahren Glauben für sich. Um 400 n. Chr. war es im gesamten Reichsgebiet verbreitet. Auch jüdische Gemeinden gab es überall, seit 321 nachweisbar auch auf später deutschem Boden. Juden galten wie "Heiden" als "Ungläubige", aber noch nicht als "Ketzer". Sie durften nicht mehr missionieren, sondern wurden abgesondert und waren ständig gefährdet.
Bald kam es zu Stürmen auf heidnische Tempel und jüdische Synagogen. Diese gingen meist von Bischöfen, Priestern und Mönchen aus, wurden von den Regenten geduldet, vom Volk getragen und ausgeführt. 388 verbrannte ein christlicher Mob, vom dortigen Bischof aufgehetzt, die Synagoge von Callinicum in Kleinasien. Ambrosius, Mailänder Bischof (340-397), verhinderte ihren gesetzlich vorgeschriebenen Wiederaufbau, indem er Theodosius I. die Sakramente verweigerte. Es sei nicht recht, das Geld von Christen für den Bau von Tempeln für Ungläubige zu verwenden und die Juden zu "begünstigen". Darauf zog der Kaiser sein Vorhaben zurück.
410 zog eine Mönchstruppe unter Barsauma durch Palästina, zerstörte dort Synagogen und richtete ein Blutbad unter Jerusalems Juden an. Bischof Cyrill hetzte - wie 300 Jahre vor ihm die hellenisierten Ägypter - zur Zerstörung der Synode von Alexandria, Vertreibung der Juden und Plünderung ihres Besitzes. 418 brannte ein Mob die Synagoge auf Menorca nieder und zwang alle Juden dort zur Annahme des Christentums: Wieder war ein Bischof führend beteiligt.
Unter dem Druck der Kirche entzogen die Kaiser den Juden immer mehr frühere Privilegien. Theodosius II. verbot den Bau neuer Synagogen und setzte 415 den letzten jüdischen Patriarchen, Gamaliel VI., wegen Verstoßes dagegen ab. Das beendete 429 das jüdische Patriarchat in Israel. Der Kaiser verbot 426 ferner den Zeuskult und legalisierte 438 die Umwandlung alter Synagogen in Kirchen.
534 schränkten die Judengesetze des oströmischen Kaisers Justinian I. die Rechte der jüdischen Minderheit dort noch mehr ein.
Mittelalter
Sondersteuern, Erwerbs- und Berufsverbote für Juden im Frühmittelalter
Im 8. Jahrhundert war der größte Teil Westeuropas katholisch christianisiert. In dieser Zeit kam es kaum zu Übergriffen auf Juden. Doch die Tradition der Kirchenväter, Schriften "adversos Judaios" (gegen die Juden) zu verfassen, wurde von den christlichen Theologen fortgesetzt. Sie verbreiteten die Ansicht, die Juden hielten sich für auserwählt und seien zudem die Mörder Christi. So impften sie den neuen Gläubigen das tiefe Misstrauen gegen sie ein.
Im Frankenreich fanden Juden eine sichere Zuflucht. Karl der Große (747-814) gewährte ihnen kirchlichen Schutz und räumte ihnen als Händlern besondere Privilegien ein. Daraufhin wurden einige Juden sehr reich. Im Volk entstand der Eindruck, es ginge allen Juden besser als ihnen. Manche konvertierten deshalb zum Judentum. Ludwig der Fromme (778-840) stellte die Juden dann erneut unter seinen Schutz. Doch bald mussten sie sich diesen erkaufen, beispielsweise durch eine Sondersteuer oder so genannte Judenbriefe.
Im 9. Jahrhundert entwickelte sich allmählich das feudalistische Lehnswesen. Grundbesitz war in Europas mittelalterlichen Agrarstaaten die wichtigste Voraussetzung für politische Teilhabe. Nichtchristen durften unter den Karolingern keine Lehnsmänner werden. Juden wurde es untersagt, Grundbesitz zu erwerben, so dass sie sich in Städten niederlassen mussten. Sie blieben ohne politischem Einfluss und konnten nicht zum Adel aufsteigen: weder von Geburt noch durch Verdienste wie das spätere Rittertum.
Ab dem 10. Jahrhundert organisierten sich die Handwerker der Städte in Zünften, die zugleich christliche Bruderschaften waren. Sie verweigerten Juden die Mitgliedschaft und verdrängten sie so aus den meisten Berufen. Die Juden mussten sich auf von Christen geächtete Berufe wie Trödelhandel, Pfandleihe oder Kreditvergabe spezialisieren. Dabei war ihnen maßvolle Zinsnahme erlaubt. Da aber die wenigsten Kleingewerbe ohne Geldkredite auskamen, wurden Juden besonders in ökonomischen Krisen als "Wucherer" betrachtet und beschimpft. Daraus entwickelte sich das Stereotyp des reichen, habgierigen, betrügerischen Juden.
Die Kreuzzüge
Nach dem 1. Investiturstreit (1075-1085) gewann der neue Papst Urban II. an Macht. Er sah sich nun als dem König- und Kaisertum übergeordnet und zur Weltherrschaft berufen. Als die türkischen Seldschuken Kleinasien eroberten und Byzanz bedrängten, verwendete er sein Amt am 27. November 1095 erstmals zu einem politischen Aufruf an alle Europäer.
Der Erste Kreuzzug sollte Jerusalem von den "Heiden" befreien: Gemeint war die islamische Herrschaft. Sowohl das Bauernheer von 1096 als auch das Ritterheer von 1097 verstanden das jedoch als Legitimation, gegen alle Nichtkatholiken, vor allem gegen Juden - die "übelsten Feinde Gottes" (Guibert von Nogent) - vorzugehen.
So kam es zur Vernichtung ganzer blühender jüdischer Gemeinden entlang der Reiseroute. Betroffen waren u.a. Metz und Rouen in Ostfrankreich, Speyer, Worms, Mainz, Trier, Köln, Neuss und Xanten im Rheinland, Prag in Böhmen, Ungarn und dann das "Heilige Land" selbst. Man brachte die seit Generationen dort ansässigen Juden ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht um. Auch verschuldete Adlige sollen sich daran beteiligt haben, um die gehassten jüdischen Geldverleiher zu beseitigen. Verschont wurden nur Juden, die bereit waren, den christlichen Glauben anzunehmen.
Dieser mörderische Fanatismus wurde nicht von allen Kirchenführern gebilligt. In Mainz gewährten die katholischen Bischöfe den Juden Schutz in den Kirchen. Sie wurden deshalb von aufgebrachten Kreuzfahrern ermordet. Vor diesem Hintergrund stellte Heinrich IV. im Reichslandfrieden von 1103 die Juden unter seinen Schutz. Doch ein solches Dekret war nur begrenzt wirksam. Es verbot den Schutzbedürftigen das Tragen von Waffen. Menschen ohne Waffenrecht waren jedoch im mittelalterlichen Europa praktisch vogelfrei.
Auch bei den folgenden Kreuzzügen kam es zu schweren Ausschreitungen gegen die Juden. Hier spielten oft Vorwürfe der "Hostienschändung" und des "Ritualmords" eine tödliche Rolle. Die Kirche rief nun zwar zur Mäßigung auf, ohne aber ihre antijüdische Grundhaltung zu revidieren.
Auch in England kam es während der Kreuzzüge zu judenfeindlichen Ausbrüchen. Als König Richard I. 1189 seine Teilnahme am Dritten Kreuzzug bekannt gab, griffen religiös fanatisierte Massen die jüdischen Gemeinden in Norwich und York an.
Die jüdischen Fernhändler wurden nun aus dem internationalen Handel verdrängt; verbleibende jüdische Minderheiten wurden durch immer höhere Schutzzölle und Sondersteuern belastet. In dieser Zeit begann die jüdische Abwanderung nach Osteuropa. Weitere Pogrome im 14. Jahrhundert verstärkten diese massiv.
Zwangstaufen und Inquisition in Spanien
Schon 305 erließ ein Kirchenkonzil in der Stadt Elvira in Andalusien erste antijüdische Gesetze: Christinnen wurde es verboten, Juden zu heiraten, wenn diese nicht vorher konvertierten. Juden wurde verboten, Christen Gastfreundschaft zu gewähren, christliche Konkubinen zu haben und die Felder von Christen zu segnen.
Im Verlauf der Völkerwanderung eroberten im frühen 5. Jahrhundert die Westgoten Iberien. Sie waren Anhänger des auf den Konzilen von Nicäa und Konstantinopel als häretisch verdammten Arianismus, der die christliche Dreifaltigkeitslehre in Frage stellte. Erst als König Reccared 586 zum Katholizismus übertrat, verschärfte sich die Lage der Juden zusehends. 589 verordnete ein Konzil von Toledo, damals Hauptstadt des Westgotenreichs, die Zwangstaufe von Kindern aus Beziehungen von Juden und Christen. 613 ordnete König Sisebut weitere Zwangstaufen an. Im Jahre 693 kam es unter König Egica zu brutalen Übergriffen auf die verbliebenen Gemeinden, und im Jahr darauf wurde in einem weiteren Konzil von Toledo die Verfolgung von Juden verschärft, da ihnen Kooperation mit arabischen Seeleuten unterstellt wurde, die seit 672 begonnen hatten, spanische Küstenstädte im Süden zu überfallen.
Spaniens Eroberung durch die Muslime 713 wurde von den Juden geradezu als Befreiung erlebt. Als Dhimmi mussten sie in den folgenden Jahrhunderten zwar eine Sondersteuer bezahlen, durften dafür aber ihre Religion ausüben. Unter den Mauren kam es in Spanien und Portugal zu einer friedlichen Toleranz und Zusammenarbeit von Juden, Christen und Muslimen, die zugleich eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit war. Die Reconquista im 15. Jahrhundert beendete diese, und es kam erneut zur massenhaften Vertreibung und vielen Zwangstaufen von Juden und Muslimen.
Die Inquisition, zu der ein Papst 1231 den Dominikanerorden beauftragte, richtete sich anfangs gegen "Ketzer" und "Hexen". König Ferdinand II. und seine Gemahlin Isabella I. jedoch gründeten 1481 die spanische Inquisition, die jüdische und maurische Konvertiten aufspüren, enteignen, vertreiben und vernichten sollte. Sie erreichte mit Tomas de Torquemada ihren Höhepunkt. Juden mussten theologische Scheindebatten und Schauprozesse - sogenannte "Autodafés" - über sich ergehen lassen und endeten dabei zu Tausenden auf dem Scheiterhaufen. Getaufte Juden wurden von der christlichen Mehrheit dennoch nicht als vollgültige Kirchenmitglieder geachtet, sondern als marranos (Schweine) beschimpft. Seitdem konnten Juden mit dem Namen "Jesus Christus" nur noch Terror, Folter, Verbrennung verbinden. Die Marranen wurden teils noch bis in die 3. Generation verachtet und angefeindet. Sie reagierten darauf ähnlich wie Morisken, d.h. verfolgte Muslime: mit der Geheimhaltung ihres Glaubens (Taqiyya). Das wiederum verstärkte das Misstrauen gegen alle Juden.
Antijudaismus im Islam
In der islamischen Welt war die Lage der Juden besser als im christlichen Europa. Wie die Christen galten sie dort als dhimmis ("Schutzbefohlene") und mussten eine Sondersteuer zahlen, durften dafür aber ihren Glauben fast unbeschränkt ausüben. - In Marokko und Persien jedoch wurden ebenfalls jüdische Ghettos eingerichtet. Zeitweise wurde den Juden dort auch eine Kleiderordnung aufgezwungen. - 1033 wurden in Fès mehrere Tausend Juden von aufgebrachten Moslems umgebracht, 1066 folgte ein Blutbad in Granada.
Dennoch waren gewaltsame Übergriffe auf Juden hier deutlich seltener als in Europa. Später wurde die jüdische Minderheit jedoch auch in islamischen Ländern ausgegrenzt. Erst 1492 entstand auf Einladung der islamischen Herrscher wieder eine jüdische Gemeinde in Jerusalem. Die Juden konnten unter den Osmanen lange Zeit unbehelligt dort leben.
Der Weg ins Ghetto

Nach der Erfahrung der Kreuzzüge machte Friedrich II. die Juden 1236 zu so genannten Kammerknechten ("Servi camerae nostrae"). Dadurch gerieten sie in direkte Abhängigkeit vom Kaiser. Dieser ließ sich ihren Schutz mit einer "Judensteuer" bezahlen. Dieses "Judenregal" wurde nach dem Zusammenbruch der kaiserlichen Zentralgewalt im Interregnum von vielen deutschen Territorialfürsten beansprucht. Die Goldene Bulle von 1356 bestätigte den Kurfürsten das Recht dazu. Oft war die Schutzsteuer so hoch, dass sie die jüdischen Geldverleiher zwang, hohe Zinsen zu verlangen. Das erzeugte neue Vorurteile und verstärkte den Hass der christlichen Bevölkerung auf die "Wucherer".
Auch die Päpste sahen sich als Schutzherren der Juden und unterstellten sie ihrer "Sündenknechtschaft". So verlangte Papst Innozenz III. vom fränkischen König, er solle die Juden als Strafe für ihre Schuld am Tod Christi unterdrücken, "damit diese nicht wagen, ihren Nacken, der dem Joch ewiger Knechtschaft unterworfen ist, zu erheben...sondern immer die Scham ihrer Schuld betrachten."
Derselbe Papst dogmatisierte 1215 auf dem IV. Laterankonzil die Transsubstantiation (Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi). Das Konzil verschärfte ältere Kirchendekrete und verpflichtete alle Juden und "Sarazenen" (Muslime) zu einer Kleiderordnung. Es beschloss außerdem ein Ämter- und Missionsverbot für sie und wies ihnen das Wohnen in gesonderten Stadtvierteln zu. Christen durften nicht für sie arbeiten und nicht mit ihnen essen. Bald mussten nur die Juden einen Spitzhut, seit dem 15. Jahrhundert einen gelben Kreis oder Ring auf dem Mantel tragen.
Damit wurden aber nur antijüdische Entwicklungen untermauert, die längst im Gang waren. Berufsverbote für Juden waren seit 100 Jahren üblich. Auch die Einrichtung von Judenghettos lässt sich seit Beginn des 11. Jahrhunderts belegen. Sie wurde durch die Konzilsbeschlüsse verschärft. Es entstanden jüdische Stadtviertel, die von Mauern umgeben und deren Tore nachts verschlossen waren. Dadurch wurden die Juden bei Pogromen zu einem leicht greifbaren Ziel.
All diese Maßnahmen verfestigten die Judenfeindlichkeit in der Bevölkerung. Damit entstand ein gesamteuropäischer Antijudaismus, der eng mit dem herrschenden Katholizismus verbunden war und in Zeiten der Not fatale Folgen haben konnte.
Die religiöse Kriminalisierung

Seit Mitte des 12. Jahrhundert wurden Juden immer öfter "satanische" Verbrechen vorgeworfen, die häufig mit Schauprozessen verbunden waren und zu Pogromen führten.
Man glaubte, dass Juden Kinder opfern, deren Blut tränken und damit Unheil auf die Christen herabbeschwören, unterstellte ihnen also eine Art "Satanskult". 1144 tauchten solche Vorwürfe in Norwich, 1171 im französischen Blois auf und lösten dort Ausschreitungen aus. 1235 wurde in Fulda erstmals im deutschsprachigen Raum ein Gerücht laut, Juden hätten einen Hausbrand und den Tod von fünf Kindern verursacht: Der Mord an 32 örtlichen Juden war von einer Mordanklage gegen alle Juden des Reiches begleitet. Friedrich II. ordnete eine Untersuchung an, die mit Freispruch endete. - Unter Folter "gestanden" manche Juden angebliche Verschwörungen gegen Christen. Papst Innozenz IV. verbot solche Prozesse 1247 und betonte - vergeblich -, dass Juden der Genuss von Blut nach der Tora verboten sei.
Papst Gregor IX. ließ aufgrund der Denunziation eines Konvertiten 1239 alle Talmud-Bücher in Frankreich einziehen. Eine öffentliche Disputation über den Talmud endete mit einem rhetorischen Sieg des Vertreters der Juden; dennoch wurde ihr "Geständnis" behauptet. Darauf wurden 1242 alle Talmudexemplare in Paris öffentlich verbrannt. Damit begann eine europaweite Verhöhnung des Talmud, die häufig zur zusätzlichen Diskriminierung des Judentums diente.
Dieser Vorwurf folgte seit 1215 auf Gerüchte über "Bluthostien", die ungläubige Frevler widerlegen sollten. Wo das nicht gelang, warf man ihnen Hostienraub und Marter des Leibes Christi vor: Wie eine "Voodoopuppe" würden sie die Hostie angeblich mit Messern und Nägeln durchstechen. 1290 wurden Pariser Juden deshalb zum Tod verurteilt. In Deutschland zog der fränkische Adelige Rindfleisch 1298 durch die Lande, um einen angeblichen Hostienfrevel in Röttingen anzuklagen: Dies führte zur Vernichtung von 140 jüdischen Gemeinden in Franken, Bayern und Österreich. Auch in Deggendorf wurde eine jüdische Gemeinde deswegen 1338 vollkommen ausgelöscht.
- "Wucher":
Juden war der Geldhandel zugewiesen worden, da Christen das Zinsnehmen verboten war. Der zunehmende Hass auf die Gläubiger hing auch mit einer ökonomischen Krise zusammen: Um 1330 griffen Hungerkatastrophen und Seuchen um sich, die die Gegensätze zwischen Arm und Reich und Stadt und Land verschärften. Immer mehr verarmte Bauern mussten Kredite bei städtischen Juden aufnehmen. Unzufriedene verschuldete Bauern rotteten sich nun als "Judenschläger" zusammen, um an Ghettojuden wahllos Rache zu üben. So kam es 1336-38 erneut zu einer Pogromwelle in Franken, Schwaben, Österreich, der Steiermark, dem Elsaß und Rheingau.
Öffentliche Passionsspiele boten viel Raum für Verunglimpfung von Juden. Sie wurden häufig als der Antichrist dargestellt und "entlarvt". Das Publikum durfte ihre Bestrafung fordern und festlegen, die auf der Bühne sofort vollzogen wurde. Das drang nun auch in die Dramaturgie der Fastnachtsspiele ein. So wurden Pogrom und Vertreibung eingeübt und symbolisch vorweggenommen. Auch damalige Karikaturen zeigen die wachsende Judenfeindlichkeit.
Pogrome im Spätmittelalter
Im 13. und 14. Jahrhundert kam es zu zahlreichen schweren Pogromen an und Vertreibungen der jüdischen Minderheit.
1221 wurde die jüdische Gemeinde in Erfurt ausgelöscht, 1235 folgte die in Fulda, 1285 die in München. 1264 wurden englische Juden Opfer eines Pogroms in London. In sämtlichen Fällen ging dem Pogrom der Vorwurf eines angeblichen Ritualmords voraus.
Nun begann auch eine Welle von Vertreibungen jüdischer Gemeinden. 1290 vertrieb König Eduard I. von England alle Juden aus seinem Reich. 1306 tat Philipp IV. es ihm in Frankreich nach. Doch Ludwig X. erlaubte 1315 die Rückkehr der französischen Juden. 1394 wurden sie unter Karl VI. endgültig vertrieben.
Die meisten vertriebenen Juden aus England und Frankreich flohen zunächst in das Heilige Römische Reich, in deutsche oder italienische Gebiete. Dort waren sie keineswegs überall vor Verfolgung sicher. Sie wurden in den europäischen Königreichen und Fürstentümern nur geduldet, solange sie den Herrschern wirtschaftlichen Nutzen brachten.
1348 brach die Pest in weiten Teilen Mitteleuropas aus. Damit erreichten die Judenverfolgungen einen grausamen Höhepunkt. Sofort kam das Gerücht auf, sie hätten "Brunnen vergiftet" und damit die Seuche ausgelöst. Angesichts des um sich greifenden Zerfalls der Autoritäten, die hilflos gegenüber dem "Schwarzen Tod" waren, fand die Bevölkerung in ihnen den geeigneten Sündenbock. Zwar versuchten Kaiser und Papst, ihre Pflichten wahrzunehmen und die Juden zu schützen. Klemens VI. argumentierte erstmals rational: Die Pest wüte auch dort, wo keine Juden lebten, und raffe auch sie dahin, wo sie lebten. Er verbot das Hinrichten von Juden ohne Gerichtsverfahren. Das half ihnen jedoch nur in Avignon. 1349 kam es in vielen Städten noch vor Ausbruch der Pest zu Massakern an Juden, oft angeheizt durch die Flagellanten. Vielfach brachten sich Juden selbst um, um der Folter und Verbrennung zu entgehen. Ein Jahr darauf lebten nur noch wenige Juden in Mitteleuropa. Nur in Spanien, Österreich und Polen erreichten die Herrscher ein vorzeitiges Ende der Pogrome.
Die Massenmorde waren nicht nur von religiösem Hass, Aberglauben und politischer Unfähigkeit verursacht. Hinzu kamen Interessen der verschuldeten Adeligen und Bürger, die eine willkommene Gelegenheit sahen, ihre Gläubiger loszuwerden.
Neuzeit
Martin Luthers Stellung zum Judentum
Martin Luther äußerte sich schon in frühen Vorlesungen über die Juden. 1523 betonte er, "dass Jesus Christus ein geborner Jude sei", den aber eine Jungfrau geboren habe. Israel sei Gottes ersterwähltes Volk. Gott habe ihm besondere Privilegien verliehen. Würden Juden Christus annehmen, dann würden sie nur zum Glauben ihrer Väter zurückkehren. Da Gottes Wort durch die Reformation wirke, sei klar, dass die katholische Kirche die Juden nicht habe bekehren können.
Luther erwartete aber, dass sie sich nach erfolgreicher Reformation zum evangelischen Glauben bekehren ließen. Gewalt und ihren Ausschluss aus der Gesellschaft lehnte er damals ab und fragte: "Wenn man sie zwingt, als Geldverleiher ihren Unterhalt zu verdienen, wie sollte sie das bessern?" Er wollte sie nicht politisch unterdrücken, sondern aus ihrer eigenen Bibel heraus überzeugen.
Dazu stellte er seine Exegese einiger Schriftstellen vor: Der Messias sei schon gekommen, so dass die jüdische Messiaserwartung Irrtum sei. Dies sei die erste Einsicht, die man ihnen nahebringen müsse. Erst dann könne man ihnen erklären, dass "Gott ... muge mensch seyn": eine Erkenntnis, die Juden nur schwer begreifen könnten.
Nachdem Luther erlebte, dass die Juden nicht evangelisch wurden, sondern junge Christen in Mähren zum Judentum bekehrten, änderte er seine Einstellung und wurde ein Judenhasser, der dies öffentlich vertrat. 1538 schrieb er den "Brief wider die Sabbather an einen guten Freund", 1544 "Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi". Er kannte die antijudaistischen Schriften des Antonius Margaritha und las sie bei Tisch.
1543 schrieb er "Von den Juden und jren lügen", um Christen über die aus seiner Sicht falsche jüdische Theologie aufzuklären. Ihr Grundfehler sei, dass sie glaubten, ihre Erwählung rechtfertige sie bereits vor Gott. Er betonte, dass alle Menschen Sünder sind und unter Gottes Zorn stehen.
Mit dieser reformatorischen Predigt verquickte er aber die seit 1000 Jahren bekannte antijüdische Polemik: Juden seien alle verstockt, blutdurstig, rachsüchtig, geldgierig, leibhaftige Teufel usw. Sie würden die christliche Jugend wider besseres Wissen verführen, auf einen anderen Christus zu warten. Auch das Klischee des jüdischen Ausbeuters griff er auf:
- "Jawohl, sie halten uns (Christen) in unserem eigenen Land gefangen, sie lassen uns arbeiten in Nasenschweiß, Geld und Gut gewinnen, sitzen dieweil hinter dem Ofen, faulenzen, pompen und braten Birnen, fressen, sauffen, leben sanft und wohl von unserm erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir arbeiten und sie faule Juncker lassen sein (...) sind also unsere Herren, wir ihre Knechte."
Luther appellierte hier an den Sozialneid der Bevölkerung und baute ein Zerrbild auf, das die reale Lage der allermeisten Juden ins Gegenteil verkehrte. Sie waren ja die "Kammerknechte" der "Juncker", für die sie hart arbeiten mussten, nicht deren heimliche Herren. Luthers Problem war nicht ihr angeblicher oder wirklicher Reichtum, sondern ihre "Verstocktheit" und ihre Missionserfolge unter Christen.
Darum forderte er eine "scharfe Barmherzigkeit" gegen sie: ihre Synagogen zu verbrennen, ihre Häuser zu zerstören, sie in Ställen unterzubringen, ihre Bücher wegzunehmen, ihren Rabbinern das Lehren, ihren Händlern das Reisen, ihren Geldverleihern das "Wucher"-Geschäft zu verbieten, sie von den Straßen zu verbannen, ihr Geld und ihren Schmuck einzuziehen als Staatsrücklage, sie zu harter körperlicher Arbeit zu zwingen und - summa summarum - sie aus allen evangelischen Ländern auszuweisen.
Dieser harte Maßnahmenkatalog sollte die jüdische Religionsausübung vollständig unterbinden, nicht die Bevölkerung zu Pogromen aufhetzen. Luther verbot explizit, Juden zu verfluchen und persönlich anzugreifen. Er wandte sich an die Obrigkeit, da sie von Gott zur Abwehr des Bösen eingesetzt sei. Er forderte von den evangelischen Fürsten nun die Gewalt, die er 1523 noch abgelehnt hatte.
Er konnte also die jüdische Religion nicht neben dem Christentum anerkennen und bestehen lassen. Da er keine theologische Lösung sah, suchte er eine politische. Doch wohin sollte man die Juden ausweisen? Sie waren ein Wirtschaftsfaktor, auf den die Fürsten nicht ohne weiteres verzichten konnten. Sie setzten Luthers Forderungen daher auch nicht um. Nur der Kurfürst von Sachsen erließ ein Lehrverbot für Rabbiner.
Luthers Schrift kann als Bündelung der mittelalterlichen Judenfeindschaft verstanden werden. Er sammelte und verstärkte sämtliche Klischees, die in Umlauf waren, und überlieferte sie der Neuzeit. Er folgte darin dem Hauptstrom der christlichen Theologie, die Juden erst zu bekehren versuchte, dann ihre Verfolgung rechtfertigte und aktiv betrieb.
In seiner letzten Predigt am 15. Februar 1546 jedoch mahnte Luther erneut, sich um die Bekehrung der Juden zu bemühen: Damit revidierte er seine antijüdischen Forderungen im Kern. Der theologische Hintergrund blieb derselbe: Ohne das Evangelium gibt es keine Erlösung, nur den Tod. So wollte Luther im Grunde auch die "verstockten" Juden bis zuletzt retten.
Der zeitgeschichtliche Kontext: Die Reformation
Luthers Reformation war ein Frontalangriff auf die theologische Basis der katholischen Kirche. Der Glaube an die Rechtfertigung des Sünders aus reiner Gnade Gottes stellte ihre "Werkgerechtigkeit" und damit ihre Macht, Organisation, Kultformen und Politik von Grund auf in Frage. Erstmals nach 1200 Jahren Religionsmonopol wurde es möglich, unter Berufung auf den wahren Glauben gegen die Zentralmacht zu opponieren, ohne als Ketzer verbrannt zu werden. Das löste große Erwartungen bei jenen aus, die seit langem Kirchen- und Sozialreformen gefordert hatten (vergleiche die "Gravamina").
Luther wollte Glaube und Politik trennen. Doch er erwartete von der Obrigkeit, diese Trennung durchzusetzen. Indem diese die Kirchenreformen durchführte, machte sie sich weithin die evangelische Pfarrerschaft dienstbar. So wurden die evangelischen Konfessionen bald in "Landeskirchen" eingebunden und tendenziell zu "Nationalreligonen". Die Reformation verstärkte den Interessengegensatz der nordeuropäischen Länderfürsten gegen Kaiser und Papst. Das Interesse der Bevölkerung, die Leibeigenschaft zu mildern oder gar abzuschaffen, blieb dabei auf der Strecke. Um die aufständischen Bauern niederzuschlagen, stellten katholische und evangelische Feudalherren ein gemeinsames Heer auf. Luthers Aufruf zum Abschlachten der "mörderischen Rotten" (1525) trug entscheidend zu ihrem Sieg bei.
Danach kamen die vom Volk getragenen sozialen Reformansätze zum Erliegen. Die Landesfürsten übernahmen die praktische Durchführung der Reformation und legten den Glauben ihrer Untertanen fest. Die Fronten verhärteten sich und spalteten die Christenheit, so dass Luther sein Ziel verfehlte, die ganze Kirche zu reformieren. Eine Kirchenreform ohne begleitende Sozialreform erwies sich als unmöglich. Die Bedingung dafür - ein Bündnis der Bauern mit freien Städten und evangelischen Territorialherren - war in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung nicht denkbar.
Da Luther alles von Gottes Wort allein erhoffte, musste ihn diese Entwicklung umso tiefer treffen. Die Enttäuschung darüber kann mit ein Grund dafür sein, dass er die "verstockten" Juden 1543 als "Wucherer" darstellte, ihr "sanftes Leben", "Fressen und Saufen", "Pomp" und ihre Verhöhnung der arbeitenden Christen geißelte. Dies entsprach genau den Vorwürfen, die der Reformator und Bauernführer Thomas Müntzer 1525 gegen Luther als "Fürstenknecht" erhoben hatte. Nun gab dieser die Vorwürfe an die Juden weiter und griff sie als Verursacher jener unüberwindbaren Werkgerechtigkeit an. So setzte er das alte christliche Feindbild fort und verstärkte es.
Anti- und projudaistische Schriften der Reformationszeit
Die Reformation geschah in einer Zeit großer sozialer Umbrüche und Veränderungen. Der soeben erfundene Buchdruck ermöglichte eine Flut von Schriften, die weit verbreitet und heftig debattiert wurden. Die antijudaistische Kirchenpropaganda setzte sich fort. Luthers Bibelübersetzung erleichterte die Überprüfung der Quelltexte. Das verstärkte bei einigen Reformatoren judenfeindliches Gedankengut, während sich philosophisch geschulte Humanisten wie Reuchlin, Erasmus, aber auch Melanchthon eher mäßigend zu Gunsten der Juden äußerten.
Die hier aufgeführten Schriften geben einen Eindruck vom Judenhass in der damaligen Geisteswelt. Dieser Hass war aber nicht immer Hauptanliegen der Autoren, sondern Konvention und Mittel, um sich Gehör zu verschaffen (Details siehe Links).
- Der Hexenhammer
Die Dominikaner Jakob Sprenger und Heinrich Institoris verfassten diese "Hexenbulle". Sie wurde in riesigen Mengen verbreitet und erlebte von 1487 bis 1609 29 Auflagen. Sie lieferte Rechtfertigungen nicht nur für Hexen-, sondern auch breit angelegte Judenverfolgung im Gefolge der Inquisition.
Er verfasste 1508 "Die Judenbeichte". Diese Flugschrift beschrieb die Juden als gefährlicher als der Teufel und als Bluthunde. Im "Osterbuch" hieß 1509 es: "Juden trachteten den Christen nach dem Leben". Es sei Pflicht jedes Christen, sie "wie räudige Hunde zu verjagen". Mit dieser Forderung drohte Pfefferkorn sich im Kölner Raum durchzusetzen, fand aber Widerspruch:
Dieser Humanist war der einzige Katholik, der damals die Hebräische Sprache beherrschte, die er vom berühmten jüdischen Arzt Jacob Ben Jehiel Loans gelernt hatte. Er konnte die Vertreibung der Juden nur verhindern, indem er sich antijüdisch äußerte: Er beteuerte, die Juden seien "barbarisch, ohne Kunstsinn... abergläubisch, niedrig und verworfen, sie lästerten zudem Jesus, Maria und die Apostel". Gegen Pfefferkorns "Handspiegel", der das Verbot von jüdischen Büchern forderte, wandte sich Reuchlin 1511 in seinem "Augenspiegel". Darin deckte er zahlreiche Vorurteile seines Gegners auf.
1536 verfasste er "Eine kurtze underrichtung". Darin bezeichnete er jüdische Gläubige als "Heuchler und Blender", ihren Glauben als "ungegrundte erdichtete Ceremonien". Das war ein "aufklärerischer" Ansatz, der sich aber nur gegen Juden richtete.
Ebenfalls 1536 erschien sein judenfeindliches "Buch der Altveter / des Israelitischen Volks / nemlich woher di Synagog, das Volck Gottes / oder die Kirche iren ursprung habe". Er stand in der Tradition der frühchristlichen Geschichtsfälschung.
Dieser jüdische Konvertit tat sich als Berater christlicher Herrscher für antijüdische Maßnahmen hervor. Sein Werk "Der gantz judisch Glaub" von 1531 zog das Fazit: "In summa kein Jud will keynem Christen wol." Der Exjude musste es ja wissen und wurde daher gern von Reformatoren zitiert. Er gab auch späteren Antisemiten Vorlagen. So hieß es über die Arbeitsmoral der Juden auf Kosten der Christen:
- "Nach diesem tun die Juden den ganzen Tag nichts. Wenn sie bedürfen einzuheizen, Licht anzuzünden, Kühe zu melken etc., nehmen sie etwa einen einfältigen armen Christen, der ihnen solches tue. Des berühmen sie sich, sie bilden sich ein, sie seien also Herren und die Christen ihre Knechte, sprechen, sie haben noch das wahre Regiment und die Herrschaft, sintemal die Christen ihnen dienten in aller Arbeit und sie müßig liegen."
Auch das beliebte Motiv einer feindlichen Allianz von Türken und Juden gegen Christen trug er vor:
- "Die Juden frohlocken sehr, wenn sich ein Krieg in der Christenheit vor allem durch den Türken erhebt. Dann beten sie weiter gegen alle Obrigkeit der Christen. Sie können nicht leugnen, dass ihr Fluche auf die jetzigen christlichen Königreiche und das Kaisertum gehe."
Doch 1530 auf dem Reichstag in Augsburg verlor er eine öffentliche Disputation gegen Josel von Rosheim, den damaligen Rechtsanwalt ("Schtadlan") der Juden im Kaiserreich. Dieser widerlegte den Verdacht der Illoyalität und unterstützte den Kaiser gegen die evangelischen Reichsstände und Kurfürsten, weil er Luthers Ablehnung der Juden schon erkannt hatte. Sein Gegner musste die Versammlung verlassen. - Dessen ungeachtet übernahm Luther 1543 einen Großteil von Margarithas antijüdischen Stereotypen und Forderungen.
Dieser Reformator schrieb 1539 einen Ratgeber, der Juden wie Nutztiere sah: "von den jude/ ob un wie die unde den Christe zu halten sind". Er griff Margarithas Sicht auf und gab für den Umgang mit Juden die Parole aus:
- "ir Recht ist jnen von dem Barmhertzigen Gott vff erlegt, das sie bey den volkern, bey denen sie wonen, die vndersten und der schwanz sein vnd am aller herttestenn gehalten werden sollen."
Das entsprach den Konzilsedikten von 1215, zeigt also die Kontinuität der judenfeindlichen Maßnahmen. Dass auch schriftkundige Reformatoren, die sonst der gesamten katholischen Tradition den Kampf angesagt hatten, hier nur dem Zeitgeist folgten, ließ für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
Trotz Luthers Autorität fanden seine judenfeindlichen Auslassungen in seinem Umfeld nicht überall Anklang. So verteidigte 1539 Melanchthon auf dem Ständetag in Frankfurt am Main posthum die Unschuld von 38 Juden, die 1510 wegen Hostiendiebstahls verbrannt worden waren. Besonders der Schem Hamphoras (1544) stieß bei Melanchthon wie auch beim Schweizer Reformator Heinrich Bullinger auf Kritik: Er sei "...von einem Schweinehirten, nicht von einem berühmten Seelenhirten geschrieben."
Dieser Reformator schrieb 1540 eine anonyme Flugschrift, wurde aber bald als ihr Autor entdeckt: "Ob es wahr und glaublich sey, daß die Juden der Christen kindt heymlich erwürgen und ihr Blut gebrauchen". Darin ging er engagiert und differenziert gegen das Stereotyp des Ritualmords vor und fasste zuletzt zusammen: "Wer aber will so teuflische Hirngespinste glauben, die gegen Gottes Wort, die Natur und alle Vernunft sind?" Viele Christen antworteten darauf auch dann noch mit "Wir", als Renaissance, Humanismus und beginnende Aufklärung bessere Kenntnis des Judentums ermöglichten.
Luthers Wirkungsgeschichte
Luther verstand das Evangelium als Gnadenzusage, die Gewissensfreiheit, gleichrangiges "Priestertum aller Gläubigen" und ständige Kirchenreform ("ecclesia semper reformanda") begründet. Seine Bibelübersetzung war ein Schritt in Richtung der Aufklärung, weil sie eigene Urteilsbildung über kirchliche Lehren und ihre Kritik ermöglichte. Seine Sakramentenlehre entzog dem Klerus die Verfügungsmacht über Heil oder Unheil.
Doch zugleich transportierte Luther den Antijudaismus des Mittelalters bruchlos in die Neuzeit weiter. Auch Huldrych Zwingli und Johannes Calvin, die kaum mit Juden zu tun hatten, definierten das Judentum nur als überholtes Beispiel der "Werkgerechtigkeit", die Gottes Gnade in Jesus Christus beendet hat. Sie stilisierten es zur Negativfolie des wahren Glaubens an das geschenkte Heil und verteilten "Gesetz" und "Evangelium", Gericht und Gnade erneut auf zwei Religionen. Die rabbinische Exegese der Hebräischen Bibel lehnten sie ab. Nur einzelne Juden konnten für sie durch die Taufe gerettet werden.
Die Reformation blieb in den konfessionellen und politischen Machtkämpfen stecken. Die Rechtfertigungslehre wurde zum dogmatisch konservierten Eigentum der lutherischen und reformierten Orthodoxie. So konnten sich Konfessionalismus mit Nationalismus verbinden.
Aber die Fürsten lehnten Luthers Gewaltmaßnahmen ab und verboten Juden stattdessen den Gebrauch ihrer Schriften, das Lästern des christlichen Glaubens, die Mission und die Sonntagsarbeit. Die Kirchen forcierten daraufhin die Judenmission. Das Neue Testament und viele Katechismen wurden ins Hebräische übersetzt. Zugleich wurden die Angriffe auf jüdische Theologie verschärft. In Straßburg empfahl der Konvertit Elias Schadäus (1540-1593), den Talmud zu verbieten, um "des Teufels Reich zu zerstören". Da Gott nur ein Volk habe, dürften sich Juden nicht mehr so nennen.
Da ihnen rechtliche Gleichstellung versagt wurde, bauten die Juden eigene Gerichte in den Ghettos auf und schlossen Betrüger vom Judentum aus, um den Christen keine Angriffsflächen zu bieten. Viele reagierten auf die Mission mit verstärkter Hinwendung zur Kabbala und Mystik. Andere starteten Gegenangriffe. So trug Isaak ben Abraham (1533-1594) aus Wilna eine Exegese vor, die schon fast historisch-kritisch argumentierte: Die alttestamentlichen Weissagungen hätten mit Christus nichts zu tun. Er sei nicht der Messias, die Christus- und Trinitätslehre der Kirche sei falsch und nicht von Gott, sondern von "leeren, leichtfertigen und unwahrhaftigen Männern" abgefasst worden.
Wo Juden zu viel wirtschaftlichen Erfolg hatten, kam es weiterhin zu Pogromen: 1614 wurden die Frankfurter, 1615 die Wormser Juden verfolgt und vertrieben. Nach Frankfurt durften sie ein Jahr darauf jedoch zurückkehren und erreichten sogar, dass der Kaiser Luthers antijüdisches Pamphlet von 1543 verbot.
Wegen des Zerfalls der Reichseinheit konnte sich die Lage der Juden in Europa nun ganz verschieden entwickeln. In den Niederlanden kam es beispielsweise zu einem regelrechten Aufschwung, so dass polnische Juden bei den Pogromen von 1650 dorthin flohen. Sie wurden allerdings nicht gern aufgenommen. Das verstärkte anderswo das Werben der Christen um sie. Man bestellte Juden aufs Rathaus, las ihnen die geltenden Gesetze vor und hielt ihnen eine Predigt. Doch das hatte wenig Erfolg, so dass diese Versuche bald wieder eingestellt wurden.
Vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution
Seit dem 17. Jahrhundert traten dann vermehrt philosemitische Stimmen auf, die eine generelle Verurteilung des Judentums ablehnten und auf seine Vorzüge hinwiesen: so beispielsweise Hugo Grotius, Simon Episcopius (1583-1643), Pierre Jurieu (1637-1713), Johann Christoph Wagenseil (1633-1705). Dieser verlangte sogar, die jüdische Literatur für die christliche Exegese der Bibel heranzuziehen. Im Pietismus wurde Israel als Gottes ersterwähltes Volk dann weithin anerkannt, jedoch umso mehr versucht, es zu Christus zu bekehren.
Einige aufgeklärte Philosophen und Theologen des 18. Jahrhunderts, beispielsweise Montesquieu und auf jüdischer Seite Moses Mendelssohn haben dann die rechtliche Gleichstellung der Juden verlangt. Diese Entwicklung ging jedoch mit der Abkehr von den biblischen Traditionen einher. Sie verallgemeinerte die Besonderheit von Juden- und Christentum zu einer humanen Idee, Moral und Religiösität.
Kulturprotestantismus und katholischer Kulturkampf
Im Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts wurde es dann zur Regel, den angeblich überlegenen Universalismus und Moralismus der "absoluten" christlichen Religion am unterlegenen, engen, materialistischen, überholten Judentum zu profilieren. Gerade die idealistischen und romantischen Heroen des Geistes erwiesen sich als hilflos und anfällig für das Umsichgreifen des sozialdarwinistisch und rassistisch begründeten Antisemitismus. Dazu kam eine handfeste Politisierung des Christentums in lutherischer Tradition wie bei Adolf Stöcker. Luthers antijüdische Schriften wurden wiederentdeckt und weidlich ausgeschlachtet. Das gab der späteren Propaganda von Nazis wie Julius Streicher, Alfred Rosenberg und dem "Stürmer" genug Munition.
Dabei wurde allerdings Luthers theologischer und zeitgeschichtlicher Kontext stets ignoriert. Viel zu spät begann die evangelische Kirche seit 1945, zeitbedingte Judenfeindlichkeit und genuine Wort-Gottes-Theologie bei Luther auseinanderzuhalten.
Antijudaistische Theologie in der Weimarer Republik
Der Zusammenhang von Antijudaismus und Antisemitismus
Antijudaistische Klischees im Christentum
Die einfache Bevölkerung war von theologischen Fragen kaum berührt und mit ihren Existenzsorgen befasst. Der katastrophale Bildungsgrad im Mittelalter - an die 90% waren Analphabeten -, die von Endzeitfantasien und Aberglauben durchsetzte Frömmigkeit bildete den Nährboden für ein Konglomerat verschiedener tiefverwurzelter Vorurteile gegen Juden.
In mittelalterlichen Schriften, Bildern, Skulpturen, Schnitzfiguren, Kirchenfenstern finden sich eine Reihe typischer, immer wiederkehrender antijüdischer Motive, die mit den bei Luther versammelten Stereotypen übereinstimmen:
- "Die Juden sind Christus- oder Gottesmörder."
Dieses religiöse Motiv entstand, nachdem die meisten Juden in Israel Jesus nicht als Messias anerkannt hatten. Daraufhin machten schon die Christen der 2. Generation sie kollektiv für den Tod des "Sohnes Gottes" haftbar (Mk 14,64; 15,14.32; Lk 23,18; Joh 19,7). Sie verbanden ihren Antijudaismus also mit dem Zentrum der christlichen Heilsbotschaft.
Der Christusmord zog sich durch die Theologie der Kirchenväter, der Scholastiker, auch der Reformatoren wie ein roter Faden. Mit ihm waren die übrigen Motive der Enterbung des Gottesvolks und Ersetzung durch die Kirche (Mk 12,7-9) und des ewigen Fluchs (Mt 27,25) verknüpft: Jüdisches Leiden wurde als Strafe Gottes für Jesu Ablehnung gedeutet. Christliche Mitschuld daran wurde auf sie zurückprojiziert. Das lehrte die alleinherrschende Kirche ständig, so dass es bei Bedarf zur Kanalisierung von Neid, Wut und Hass gegen Juden benutzt werden konnte.
Jesu Tod erinnerte die Heidenkirche an ihren jüdischen Ursprung: Der wehrlos gekreuzigte Jude zeigte unübersehbar die Unvereinbarkeit von Glaube und Macht. Darum wurden seine Züge seit Konstantin I. aus dem Bild des "Christus Triumphator" getilgt. Erst Luther entdeckte in Jesu Kreuz wieder den einzigen Glaubensgrund, so dass er Kirche und politische Macht strikt zu trennen suchte. Doch auch er trennte "Gesetz" und "Evangelium" so voneinander, dass das Judentum nur noch Beispiel des tödlichen Gerichtsfluchs sein konnte.
- "Die Juden sind heimtückische Verbrecher ('Satanisten')."
Dieses Kriminalmotiv war mit dem Gottesmord-Motiv eng verwandt und aus ihm abgeleitet. Wer Gottes Sohn ablehnte, konnte nur vom Teufel sein und Verbrechen an guten Seelen planen. Im Mittelalter kam das Rachemotiv hinzu: Juden üben mit hinterhältigen Verbrechen "Rache" an den Christen.
In Wahrheit rächten sich die Christen für die erfolglose Zwangsbekehrung der Juden, indem sie uralte Klischees einer religiösen Kriminalität auf sie projizierten:
- Brunnen vergiften,
- Kinder entführen,
- Ritualmorde,
- Hostien schänden u.ä.
Derartige Verbrechen unterstellte die römische Propaganda bis 313 den Christen, um sie als "Feinde des Menschengeschlechts" zu verfolgen. Christliche Theologen nahmen diese Polemik dann auf und wendeten sie gegen die Juden: Als Gottesmördern war ihnen auch sonst jedes erdenkliche Verbrechen zuzutrauen.
1. "Brunnenvergifter" variiert das antike Motiv des Brunnenverstopfens. Wo sauberes Wasser - vor allem wegen fehlender Hygiene - Mangelware war, konnte dieser Vorwurf unmittelbar Pogrome auslösen. Das geschah im Kontext der Pest im 14. Jahrhundert.
Ein rationaler Grund ist nicht zu sehen. Die Tora verlangte zwar Reinheit im Alltag, so dass Juden ihre Brunnen tiefer anlegten und eher auf saubere Gassen, Wasserkanäle und Körperhygiene achteten als die übrige Stadtbevölkerung. Doch sauberes Wasser war auch in ihren Ghettos knapp. Die Pest betraf sie ebenso. Die Pogrome an ihnen waren sehr oft eine "Prävention", bevor die Pest einen Ort erreichte. Die Hetzer waren oft bei Juden hoch verschuldet und nutzten die Gelegenheit, ihre Gläubiger loszuwerden.
2. "Kindesentführer" - das Rattenfänger-Motiv - reflektiert die Angst vor dem "verderblichen" Einfluss jüdischen Andersseins auf die eigene Jugend. Man warf ihnen vor, was Christen real den Juden antaten: Missionare und Inquisitoren nahmen "Ketzern" und Juden in Spanien und anderswo ihre Kinder durch Zwangstaufe oder Zwangsadoption weg, um sie ihrem "gottlosen" Einfluss zu entziehen.
3. "Ritualmörder" war auch ein Motiv, mit dem Römer anfangs die Christen denunzierten: Sie deuteten deren Abendmahlfeier als kannibalischen Akt. Im Kontext der Eucharistielehre und der Pestgefahr wendeten Christen das vermehrt gegen Juden, besonders zu Ostern. Folter- und Schauprozesse dazu gab es vom 12. bis ins 20. Jahrhundert.
Auch hier floss viel Projektion ein: Das jüdische Pessachfest löste Menschenopfer ja gerade durch ein Tieropfer ab und erinnert an Israels Befreiung aus der Sklaverei. Doch Christen brauchten in der Nachfolge des Pharao weiterhin Menschenopfer, da sie den Juden und den Völkern die irdische Befreiung verweigerten.
4. "Hostienschänder" tauchte vermehrt auf, nachdem der Papst 1215 die substantielle Wandlung der Elemente dogmatisiert und damit die heidnische Magie in den christlichen Kult integriert hatte. Nun wurde Juden die Fortsetzung des Gottesmords an der gewandelten Hostie, dem Leib Christi, unterstellt. Der Glaube an die Heilswirkung des stellvertretenden Leidens Jesu wurde in den Aberglauben an die Unheilswirkung kultisch verehrter Lebensmittel verkehrt.
- "Die Juden sind Schweine."
Als marranos - Schweine - beschimpfte man in Spanien seit dem 7. Jahrhundert jüdische Konvertiten. Da man sie oft zwangsweise taufte, glaubte man auch den freiwillig Getauften ihre christliche Überzeugung nicht. Da Zwangstaufen Juden kaum vom christlichen Glauben überzeugen konnten, galten sie bald alle als Schweine. - Das "Judensau"-Motiv war in mittelalterlichen Karikaturen verbreitet. Oft zeigten sie den Juden, der lieber aus dem Trog des Schweins isst als es zu schlachten. Diese Verachtung galt nicht nur ihrem Elend, Aussehen und "gieriger" Allesfresserei, sondern sollte sie in ihrer religiösen Identität treffen: Die Tora verbot ihnen den Genuss von Schweinefleisch.
- "Die Juden sind eine Plage, eine Pest, ein Unglück."
Luther übernahm dieses sozialpsychologische Motiv 1543 von Antonio Margaritha (s.u.) und nahm damit den Nazi-Topos "Die Juden sind unser Unglück" vorweg. Juden belasten angeblich die Allgemeinheit: Ihr böses Tun - sie vergiften Lebensmittel und verursachen Plagen - wurde zum Bösesein - sie sind Gift für uns alle - ausgedehnt. Darum mussten sie vertrieben werden. - Dass dies oft geschah, "bewies" dann wieder, dass sie am Unglück der Täter schuld waren. So projizierten diese ihr Tun auf ihre Opfer zurück: Christen vertrieben die Juden, bewirkten also deren Unglück. Die realen Ursachen des Elends - Feudalherrschaft, Raubzüge, Krieg, soziale Verhältnisse - blieben unbegriffen und unangetastet.
- "Die Juden sind Wucherer, Ausbeuter, Blutsauger, Nutznießer fremder Arbeit."
Dieses ökonomische Motiv ergänzt das Unglück- und Verbrechermotiv. Es reflektiert die kirchliche Politik seit 313. Sie zwang Juden dauerhaft, die von Christen verachteten Berufe zu übernehmen: Trödelhandel, Geldbranche, Kreditwesen. Die christlichen Herrscher nahmen die Kredite jüdischer Handelshäuser dann gern an, um ihre Raubzüge zu finanzieren. Waren sie hochverschuldet, vertrieben oder ermordeten sie die Gläubiger. Deren geraubten Besitz verwendeten sie dann wieder für neue Kriege: Auf die Vertreibung von Mauren und Juden folgten seit 1495 die Raubzüge im neuentdeckten Kontinent Südamerika. Das Raubgold legten die Herrscher dann wieder in anderen jüdischen Handelshäusern an. Hierin wurzelt die klischeehafte Vorstellung, dass das Judentum mit Finanzkapital gleichzusetzen sei.
- "Die Juden wollen (oder besitzen) die Weltherrschaft."
Auch dieses Machtmotiv reflektiert kirchliche Politik: Das Papsttum besaß im Mittelalter das Religionsmonopol in ganz Europa und beanspruchte außerdem die Weltherrschaft. Nur die Juden entzogen sich diesem Absolutheitsanspruch. An der Reformation zerbrach er. Nachdem die Reform der katholischen Kirche gescheitert und ihre Spaltung besiegelt war, übernahm Luther die Intoleranz der Kurie: Nicht der Papst, sondern die jüdische Minderheit stand nun angeblich dem "Sieg" des evangelischen Glaubens im Weg.
Religiöse, sozialökonomische und machtpolitische Motive wuchsen im Verlauf des Mittelalters immer mehr zusammen und bedingten einander. Woher aber kam die Angst der mächtigen Mehrheit vor der machtlosen Minderheit? - Sie geht auf den Ursprung des Christentums zurück. Die Ablehnung Jesu durch die meisten Juden bedrohte die Glaubwürdigkeit der neuen Religion von Anfang an. Erst die Trennung vom Judentum ermöglichte den Aufstieg und "Sieg" der Kirche. Danach grenzte diese die Juden aus, weil sie religiös nicht integrierbar waren. Ihre Theologen projizierten ihr eigenes Machtstreben auf die Juden, um kirchliche Maßnahmen gegen sie zu rechtfertigen. Das Elend der ghettoisierten Juden wurde dann als legitime Reaktion der Völker auf ihr "hinterhältiges" Machtstreben gerechtfertigt: Es diente angeblich dem "Schutz" der Mehrheit vor der Minderheit und sollte diese "eindämmen". So wurden die Vorurteile von "Fremdheit" und "Heimtücke" dauernd bestätigt und vertieft. Dann ließen sie sich als sozialpolitisches "Ventil" bei Bedarf aktivieren.
Das logische Gefälle zum Holocaust
Europas Verhalten zum Judentum lässt sich rückblickend in 3 Perioden einteilen (nach Raul Hilberg):
- 3. - 11. Jahrhundert: Frühes und Hohes Mittelalter
Die Kirche errang das Religionsmonopol. Sie bestimmte über die Juden. Diese wurden bald zu den "Ketzern" gerechnet. Die "wahre" Religion gebot die Gewaltmission. Da die Zwangstaufen wenig erfolgreich waren, griff die Kirche zu "Schutz"-Maßnahmen: Juden wurden ghettoisiert. - Diese Periode folgte dem Motto: "Ihr habt kein Recht, als Juden unter uns zu leben!"
- 12.-17. Jahrhundert: Spätmittelalter und Frühe Neuzeit
Seit den Kreuzzügen wurden Juden immer öfter vor die Wahl gestellt: Bekehrt euch oder ihr werdet vertrieben. Vertreibungen und Pogrome von Fall zu Fall, ähnlich wie Hexenverfolgung bei Pestepedemien, wurden die Regel. Martin Luther deutete dieses Leiden als Strafe Gottes für Unglauben und Verstocktheit. Er übernahm damit das Judenbild des Mittelalters und überlieferte es der Neuzeit. - In dieser Periode lautete das Motto: "Ihr habt kein Recht, unter uns zu leben!"
- 18.-20. Jahrhundert: Neuzeit
Das Religionsmonopol der Kirche war nun gebrochen. Doch die Emanzipation des Bürgers schloss die Juden weiterhin aus. Ihre Vertreibung blieb das Ziel. Romantik, Idealismus und Nationalismus machten den Antisemitismus ohne Gott zur bürgerlichen Normalität. Rassistische Theorien gewannen an Boden. - Der Nationalsozialismus setzte diese in die Tat um. Vor 1939 ging es den Nazis überwiegend um die Entrechtung und Enteignung der Juden. Der Vernichtungsplan nahm erst während des Krieges Gestalt an. Die "Endlösung" war einfacher und billiger als die Vertreibung. - Diese Periode folgte dem Motto: "Ihr habt kein Recht, zu leben!"
Der Holocaust war also kein absolutes "Novum", kein "Betriebsunfall", keine unbegreifliche "Katastrophe". Die deutsche Bürokratie konnte ihn nur darum so schnell und gründlich durchführen, weil sie auf jahrhundertelange Erfahrungen mit diesem Vorgehen zurückgreifen konnte. Das kanonische Recht der katholischen Kirche (von 1917 und davor) enthielt sämtliche Maßnahmen, die die Nazis übernahmen:
- Ghettos (Judenviertel),
- Boykott jüdischer Geschäfte,
- Synagogen verbrennen,
- Schriften verbrennen,
- Enteignungen,
- gelbe Kennzeichen auf der Kleidung,
- Berufsverbote, Entfernung aus Ämtern,
- Apartheid in den Schulen und öffentlichen Einrichtungen,
- Arbeitslager.
Die lange Gewöhnung der Bevölkerung an die Isolation, Verachtung und Verfolgung der Juden schuf die Voraussetzungen dafür, dass der Holocaust fast ohne Widerstand dagegen durchgeführt werden konnte.
Antijudaismus in anderen Ländern Europas
Ein Ergebnis der europäischen Geschichte war ein latenter Antijudaismus in vielen Ländern und bei verschiedensten Gruppen. Das betraf
- Christen sowohl in orthodoxer wie in abendländischer Tradition;
- Protestanten, besonders Lutheraner;
- zum Christentum konvertierte Juden;
- Nationalisten und Rechtsextremisten (oft handelt es sich dort um getarnten Antisemitismus);
- Muslime.
Hinzu kamen Einzelpersonen, die sich durch antijudaistische oder antisemitische Betätigung einen persönlichen Vorteil verschaffen oder erhoffen.
Alle europäischen Nationen haben auch heute antijudaistisch eingestellte Bevölkerungsanteile. Dabei ist aber die spezifische Geschichte jedes Landes zu berücksichtigen.
In der Regel ist der Antijudaismus in der westlichen Welt heute moderat, das heißt er geht nicht gewaltsam gegen Juden vor. Weiterwirkende antijudaistische Klischees stärken aber offene Abneigung gegen Juden und gewaltbereite Neonazis oder Terroristen. Neuer Antijudaismus kann durch soziale und politische Spannungen in multikulturellen Gesellschaften entstehen.
Literatur
- Thomas Brechenmacher: Der Vatikan und die Juden, München 2005, ISBN 3406529038
- David I. Kertzer: Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus. Propyläen Verlag, Berlin 2001, ISBN 3549071477
- Wolfgang Benz: Bilder vom Juden, C.H.Beck Verlag, München 2001, ISBN 3406475752
- Raul Hilberg: Die Ziele des Antisemitismus
- Michael Ley: Holokaust als Menschenopfer, ISBN 3825864081
- Karl Heinrich Rengsdorf (Hrsg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Darstellung mit Quellen. 2 Bände, DTV (Klett-Cotta) TB Nr. 4478, München 1988, ISBN 3129067205 (Bd. 1), ISBN 3129067302 (Bd. 2)