Zum Inhalt springen

Überfremdung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 9. August 2005 um 19:51 Uhr durch Rafl (Diskussion | Beiträge) (revert | Quellen?). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Überfremdung ist ein ideologischer Leitbegriff der Rechten in den deutschsprachigen Ländern. Er unterstellt, dass die Zahl der ins eigene Land kommenden Ausländer so hoch sei, dass die normale Entwicklung der eigenen Kultur beeinträchtigt bzw. ganz verhindert würde und stattdessen immer mehr die Fremden die Herrschaft übernähmen.

Entstehung des Begriffs und Wiederauftauchen

Geprägt wurde der Begriff schon in den 1920er Jahren in der Schweiz. Dort ist der Ausländeranteil traditionell sehr hoch; dies auch aufgrund der Gesetzgebung, die die Einbürgerung von Ausländern erschwert.

Der Begriff tauchte in der politischen Diskussion in Deutschland unter anderem in der Unterzeichnerversion des rassistischen Heidelberger Manifests vom 17. Juni 1981 auf. In einem "Aufruf an alle Deutschen zur Notwehr gegen die Überfremdung" haben sich 1998 intellektuelle Rechtsextremisten wie Helmut Schröcke bemüht, die "Überfremdung" als eine schwere Gefahr für die Gesellschaft darzustellen. Diese vielfach verbreitete Hetzschrift zeichnete sich besonders durch einen verschärften Antisemitismus aus. Hier wurden "alle volkstreuen Deutschen zur Notwehr auf gegen den von der Staatsführung amtlich geplanten und mit brutalen Methoden durchgeführten Völkermord am deutschen Volk" aufgerufen und aufgefordert, "den Rechtsanspruch Fremder auf Asyl sofort auszuschließen", "allen Deutschen von jetzt an die uneingeschränkte Freiheit der Gesinnung, Meinung und der Meinungsäußerung zu gewähren" und die Zuwanderung osteuropäischer Juden zu stoppen. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren des Bundeskriminalamts (BKA) gegen die 65 Unterzeichner wegen Volksverhetzung eingeleitet, das 1999 jedoch eingestellt wurde.

Rechte Agitatoren verzeichnen Erfolge mit dem Propagandabegriff "Überfremdung". Bestimmte fremdenfeindliche Redewendung bedienen verbreitete Ressentiments und finden eine breite Aufnahme, z.B: Das Boot ist voll.

Überfremdungsdiskurs in der Schweiz

Der Überfremdungsbegriff entspricht einer spezifisch schweizerischen Begriffsbildung. Es ist ein eigentliches Schlüsselwort für die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Als ideologisches Konstrukt wurde die Vorstellung zum eigentlichen kulturellen Code (Shulamit Volkov) in der Schweiz. Der Begriff bleibt diffus und unbestimmt. Genau dadurch erreicht er eine sehr breite Zustimmung und stellt so ein grosses geistiges Integrationspotential dar. Die Angst vor Überfremdung ist ein Krisenphänomen und hängt stark mit Identitätskrisen der Schweizer Gesellschaft zusammen. In Phasen sozialer Krisen sind Identitätsdebatten sehr wichtig, dabei wird automatisch Fremdes von Eigenem abgegrenzt.

Die Anfänge des Überfremdungsdiskurses in der Schweiz liegen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und früher, als die Ausländerzahlen aufgrund der Wirtschaftsentwicklung rasant auf ca. 15% stiegen. Als erstes thematisierte die politische Elite die drohende Gefahr der Überfremdung. Sie richtete sich zunächst gegen das deutsche Sendungsbewusstsein. Die öffentliche Diskussion in der Bevölkerung war allerdings in den Nachkriegsjahren am grössten, als die Ausländerzahlen bereits markant am sinken waren. Oft gibt es zwischen der empfundenen Angst vor Überfremdung und tatsächlichen Ausländerzahlen keinen direkten Zusammenhang. Der Erste Weltkrieg markiert die Zäsur von einer liberalen zu einer restriktiven Ausländerpolitik der Schweiz. 1914 ergriff das EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten) Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz durch Ausländer. 1917 wurde das Zentralbüro der Fremdenpolizei eingerichtet. In der Wirtschaftskrise der 30er Jahre erlebte der Überfremdungsdiskurs eine neue Blüte. Das Thema Überfremdung war Teil des offiziellen Diskurses der Schweizer Behörden. Ein neuer Konservativismus hatte sich durchgesetzt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Überfremdungsangst und die geistige Landesverteidigung kulturelle Codes. Die geistig-kulturelle Überfremdungsangst, die Angst vor dem Fremden, schützte bis zu einem gewissen Grad auch vor Weltbildern wie dem Nationalsozialismus, dem Faschismus und dem Bolschewismus. Gegenüber den Juden nahmen die Schweizer eine ambivalente Haltung ein. Sie unterschieden zwischen Schweizer Juden und sogenannten Ostjuden. Während man die Schweizer Juden mehr oder weniger akzeptierte, hatte man gegen die Ostjuden bedenken, da sie im damaligen Verständnis als rückständig und vor allem kaum assimilierbar galten. Man glaubte, dass von den Ostjuden die grösste Überfremdungsgefahr ausgehen würde. Diese Einstellung teilten die Schweizer Behörden. Die Fremdenpolizei befürwortete die Zuwanderung von Juden aus dem Osten (z.B. Polen, Galizien) nicht. 1926 erschien eine Richtlinie in diesem Sinne. 1938 wurde auf Schweizer Initiative hin der Judenstempel eingeführt.

In den 30er und 40er Jahre findet der Begriff "Jude" immer weniger Verwendung, man sprach allgemeiner vom "Fremden". Angesichts der Geschehnisse in Deutschland wurde der Antisemitimus in der Schweiz tabuisiert (J. Picard). Die begriffliche Konstruktion der Überfremdung diente dazu, Juden von der Schweiz fernzuhalten, ohne dass man sie explizit nannte, und sich dabei zur NS-Ideologie bekannte. Picard nennt dies "Verschweizerung des Antisemitismus", Rieder "Prophylaktischer Antisemitismus". Diese dialektische Weise der Argumentation führte zu einer restriktiven Fremden- und Flüchtlingspolitik.

Der wirtschaftliche Aufschwung in der Schweiz in den 50er Jahren brauchte ausländische Arbeitskräfte. Nach Ende des Wirtschaftswunders mehrten sich erneut die Stimmen, die wieder von Überfremdung sprachen. Erstaunlicherweise kamen die Warnungen vor Überfremdung zuerst aus dem Linken Lager und aus Gewerkschaftskreisen. Erst danach organisierten sich populistische Parteien wie die "Nationale Aktion" oder die "Schweizer Demokraten". 1964 hielt eine staatliche Studienkommission fest, die Schweiz befinde sich in einem Stadion ausgesprochener Überfremdungsgefahr. Für ausländerkritische und -feindliche Kreise war die Überfremdung bereits erreicht, sie verlangte vermehrt Abweisungspolitik. Ende der 60er Jahre folgten Volksinitiativen und Debatten, die die Überfremdung zum Thema nationaler Politik machten. 1970 erfolgte die berühmte "Schwarzenbach-Initiative", 1971 erreichte die "Nationale Aktion" erhebliche Sitzgewinne an den Nationalratswahlen. Es foltgen weitere Überfremdungsintiativen, die jeweils eine hohe Stimmbeteiligung erreichen, aber abgelehnt wurden. Der Diskurs über die geistige Landesverteidigung der 30er und 40er Jahre wurde weitergeführt und umgebaut zum Problem der Integration. Man diskutierte nun über Schweizertum und Geschichts- und Staatsmythen. Die nationale Eigenart wurde als wichtigste Grundlage der Staatlichen Eigenständigkeit und Demokratie genannt. Hinzu kam ethnopluralistisches Denken: Die Assimilation von fremden Kulturkreisen gelinge im allgemeinen nicht.

Auch in den 80er Jahren blieb Überfremdung ein Schlagwort. Der Schwerpunkt verschob sich nun aber von der Ausländerpolitik auf die Asylpolitik. Im Zuge der ökonomischen Krise wurde neu unterschieden zwischen echten und unechten, zwischen wirtschaftlichen und politischen Asylanten. Der Überfremdungsdiskurs erstreckte sich auf vier konkrete Dimensionen: 1. demographische Einwanderung und Überlagerung, 2. Belastung des Ökosystems, 3. gesellschaftliche Wertekrise, 4. Verlust der politischen Eigenständigkeit. Angst wurder geschürt vor der demographischen Überlagerung durch unkontrollierte Einwanderung und als Folge das Aussterben der Schweizer. Dies verband sich mit der Umwelt- und Lebensraumproblematik Ende der 80er Jahre. Schliesslich wurde auch die Wertekrise auf die Überfremdung zurückgeführt und populistische Kreise prophezeiten den Verlust der nationalen Souveränität durch EU- oder UNO-Beitritt.

In jüngster Zeit ist zu beobachten, dass von populistischer Seite zunehmend der religiöse Aspekt in die Ausländer- und Asylpolitikpolitik-Debatte hineingetragen wird. (Beispielsweise Plakatkampagne, die suggeriert, dass Schweizer von Moslems als zweitgrösster Religionsgemeinschaft überlagert werden könnten.)

Siehe auch

  • www.uni-marburg.de/ Matthias Arning: Die alten Rechtsextremen verbreiten ihren radikalen Antisemitismus. Hetzschrift verzerrt historische Fakten und spricht von "Völkermord an Deutschen". SPD will Unis unter die Lupe nehmen. Frankfurter Rundschau 8. Januar 1998.
  • www.bpb.de/ Informationen zur politischen Bildung aktuell: Überfremdung
  • www.doew.at/ FPÖ gegen "Überfremdung" oder: Wie Nazi-Diktion salonfähig wird (1999)

Vorlage:Schweizlastig