Ulysses
Ulysses (lateinisch für Odysseus) ist der bedeutendste Roman des irischen Schriftstellers James Joyce.
Inhalt
Allgemein
Joyce beschreibt im Ulysses in 18 Episoden einen Tag - den 16. Juni 1904- im Leben des Leopold Bloom, seines Zeichens Annoncenakquisiteur bei einer Dubliner Tageszeitung. In Anspielung auf Homers Irrfahrten des Odysseus lässt Joyce den Leser an den Irrgängen seines Protagonisten durch Dublin teilhaben, die in der Nacht schliesslich in der Begegnung mit dem jungen Lehrer Stephen Daedalus (symbolisiert Telemachus, den Sohn des Odysseus) kulminieren, nachdem sich beide während des Tages öfters begegnet sind.
Jedes der 18 Kapitel kann einer Episode aus dem homerischen Epos zugeordnet werden, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die jeweilige stilistische Komposition. So ist ein Kapitel beispielsweise vollständig in der Form kurzer Zeitungsartikel verfasst, ein anderes wie ein wissenschaftliches Kompendium und der berühmte Schlussmonolog von Blooms Frau Molly kommt fast völlig ohne Interpunktionszeichen aus.
In anderen Kapiteln schildert Joyce auch nicht nur die äußeren Geschehnisse, sondern auch die Gedanken seiner Protagonisten mit allen ihren Assoziationen, Erinnerungsfetzen und Vorstellungen. Dieses Stilelement, der sogenannte „stream of consciousness“ (Bewusstseinsstrom) wird hier zum ersten mal zentrales Gestaltungselement eines literarischen Werkes. Ulysses gilt deshalb als richtungsweisend für den modernen Roman.
Um einen ersten Zugang zu diesem schwierigen Werk zu bekommen, verfassste Joyce 1921 für seinen Freund Stuart Gilbert das sogenannte Gilbert Schema.
Die Kapitel im Einzelnen
Telemachus
16.6.1904, es ist etwa acht Uhr am Morgen. Stephen Dedalus begibt sich auf die Brüstung des Martello Tower von Sandycove, etwa 14km entfernt vom Stadtzentrum Dublins, zu seinem Mitbewohner Buck Mulligan. In diesem Wehrturm wohnte Joyce 1904 tatsächlich für etwa eine Woche mit dem Medizinstudenten und Hobbyschriftsteller Oliver St. John Gogarty (1878-1957), welcher das Pendant zu Buck Mulligan darstellt. Joyce hatte Hoffnungen, die Freundschaft mit Gogarty in diesem Turm wieder aufleben zu lassen, als Künstlergemeinschaft im Sinne einer Renaissance irischen Freigeistes. Doch das erste Kapitel gibt Zeugnis von der zerbrochenen Beziehung. Den permanenten selbstverliebten Sticheleien Mulligans begegnet Dedalus nur mehr noch mit mürrischer Introvertiertheit.
Noch berührt vom kürzlichen Tod seiner Mutter, beschwert sich Dedalus bei Mulligan über die nächtlichen Eskapaden des elitären Engländers Haines (ähnlich dem französischen haine, der Hass), der zu dieser Zeit ebenfalls dort nächtigt. Auch Haines entspricht einer realen Figur: dem Studenten Samuel Chevenix Trench aus Oxford, hier als Symbol für einen überheblich-freundlichen britischen Kolonialismus, oder wie Joyce es formuliert: "Horn eines Stieres, Huf eines Pferds, Lächeln eines Sachsen." Trench wurde von Gogarty hofiert, und so nutzt Joyce dieses Duo als Symbol des usurpierten Irland: Mulligan als Verräter Irlands und kleingeistiger Versemacher, Haines als der nachsichtige, reiche Engländer, der Irland mit dem überheblichen Auge eines Touristen in Augenschein nimmt.
Nach einem kargen Frühstück verkündet Haines, in die Bibliothek zu gehen. Mulligan möchte erst ein Bad in der See nehmen. Nachdem alle den Turm verlassen haben, unterhalten sie sich noch einige Minuten, dann macht sich Stephen allein auf den Weg. Ihm wird klar, dass er am Abend nicht in sein Domizil zurückkehren wird. Wie Telemachus in der Odyssee bricht er auf, um seinen verschollenen Vater zu suchen, den er später in übertragenem Sinne in Leopold Bloom finden wird.
Nestor
In diesem Kapitel geht Stephen seiner Arbeit als Hilfslehrer in Geschichte nach. Auch hier gibt es autobiographische Hintergründe. Im Jahr 1904 unterrichtete Joyce an der Clifton School in Dalkey. Dem Schulleiter Francis Irwin ist die Figur des patriotischen Mr. Deasy im Ulysses nachempfunden.
Mit zwei Personen kommt Stephen im Laufe des Kapitels näher ins Gespräch. Nach dem Ende der Schulstunde, als die Schüler sich eilig zum Hockeyspielen verabschieden, ist es zunächst der schüchterne Cyril Sargent, der ihn um Hilfe bei Mathematik-Aufgaben bittet. Stephen sieht sich selbst in dem Schüler: "Meine eigene Kindheit krümmt sich da neben mir." Schließlich begibt er sich in das Arbeitszimmer von Mr. Deasy, um sich sein Gehalt abzuholen. Dort muss er sich Auslassungen über die grassierende Rinderseuche, über Sparsamkeit und den Sinn des Lebens anhören. Mr. Deasy als Nestor ist hier nicht im übertragenen Sinne eines Weisen und Ratgebers zu verstehen, sondern ganz analog zur Odyssee: Dort sucht Telemach den alten König Nestor auf, um Informationen über seinen Vater zu erhalten. Doch Nestor weiß nichts von dessen Verbleib und hält ihn lediglich mit seiner Beredtsamkeit auf.
Der Leserbrief, den Mr. Deasy im Zusammenhang mit der Maul- und Klauenseuche an Stephen übergibt, damit er ihn an bekannte Redakteure der Tagespresse weiterreiche, verweist auf damals aktuelle politische Hintergründe. So schrieb Joyce selbst 1912 einen Aufsatz über "Politik und Viehkrankheit". England nutzte einzelne Fälle der Viehkrankheit für ein Embargo gegen das selbstbewusste Irland, welches auf die Exporte nach England angewiesen war. Irland sollte in seine Schranken verwiesen werden.
Einige Motive des Telemach-Kapitels werden wieder aufgegriffen. So erweist sich Mr. Deasy ebenso wie bereits Haines als unverhohlener Antisemit: Die "jüdischen Kaufleute haben ihr Zerstörungswerk bereits begonnen. Old England liegt im Sterben." Der irische Freiheitskampf gegen England taucht im Gespräch mit Mr. Deasy ebenfalls mehrfach auf, etwa mit Verweisen auf Daniel O'Connell und die Orange Logen. Auch das Mutter-Motiv wird thematisiert: Zunächst in jenem Nonsens-Rästel, das Stephen seiner Schulklasse in Gedichtform präsentiert - der Fuchs, der seine Großmutter begräbt, ist letztlich Stephen selbst, den noch der Verlust seiner Mutter schmerzt. Und Cyril Sargent lässt Stephen an seine Mutter denken: "Und doch hatte ihn eine geliebt, hatte ihn auf ihren Armen getragen und in ihrem Herzen."
Proteus
Der Meeresgott Proteus ist ein Meister der Verwandlung. Als Menelaos sich an ihn wandte, um eine Weissagung zu erhalten, verwandelte er sich in eine Vielzahl von Tieren und Gestalten, bevor er ihm schließlich - von dessen Geduld ermattet - eine Antwort gab.
Im Proteus-Kapitel des Ulysses ist es ein Hund, der diese Verwandlungen durchmacht - jedoch mehr im Geiste von Stephen Dedalus, der den Hund bei seinem Spaziergang am Strand von Sandymount beobachtet. Das Umhertollen des Hundes, bis dieser schließlich auf ein Hundekadaver trifft ("Ach, du armes Hundeaas, du! Hier liegt des armen Hundeaases Aas." - Und nicht ganz zufällig hatte auch Buck Mulligan Stephen als "Hundeaas" bezeichnet), beschreibt Joyce in einer furiosen, kraftvollen Prosa.
Das Kapitel ist geprägt vom Gedankenstrom Stephens. Der Wechsel zwischen Realem und Gedachtem erfolgt unangekündigt und wird dem Leser häufig erst nachträglich gewahr. Der Spaziergang hat offensichtlich kein Ziel - eine Rückkehr zum Martello Tower kommt nicht in Betracht, und ein anderes Zuhause hat Stephen nicht. Er fragt sich, ob er seiner Tante einen Besuch abstatten sollte, doch während er nachsinnt, verpasst er den Weg zu ihr ("An der Abzweigung zu Tante Sara bin ich schon vorbei. Geh' ich denn nicht hin? Anscheinend nicht."). Schließlich lässt sich nieder und schreibt einige Gedichtzeilen. Zum Ende des Kapitels erblickt er einen Dreimaster, "ein schweigendes Schiff", das "heimwärts, stromauf" fährt - ein Hinweis darauf, dass Stephen in Dublin keine Heimat mehr sieht.
Kalypso
Zur gleichen Zeit wie Mulligan bereitet auch Leopold Bloom das Frühstück in seinem Haus in der Eccles Street zu. Dazu hat er sich beim Metzger in der Nachbarschaft eine Schweineniere gekauft, die er nun brät. Er bringt seiner Frau die Morgenpost ans Bett und liest dann in der Küche den Brief seiner Tochter. Danach begibt sich Bloom auf das Klohäuschen im Hofe, um sich für den Tag zu erleichtern.
Lotophagen
Bloom beginnt seine Wanderung durch Dublin. Auf Umwegen geht er zum Postamt. Wir erfahren, dass er unter dem Pseudonym „Henry Flower“ mit einer gewissen Martha Clifford korrespondiert. Vor dem Postamt begegnet er einem flüchtigen Bekannten und ist gezwungen, sich mit diesem zu unterhalten, obwohl er viel lieber den Brief lesen würde. Als er wieder allein ist, öffnet er den Brief und wirft den zerrissenen Umschlag in den Rinnstein. Er kürzt seinen Weg durch eine Kirche ab und reflektiert dabei über die Dominanz der katholischen Kirche über Irland. Nachdem er in einer Apotheke eine kleine gelbe Zitronenseife erstanden hat, trifft Bloom auf Bantam Lyons, einen weitere flüchtigen Bekannten (Es wird deutlich, dass Bloom in jeder Szene eine Aussenseiterrolle einnimmt). Durch ein Missverständnis meint dieser, Bloom hätte ihm einen Tip für das nachmittägliche Pferderennen gegeben. Das Kapitel endet mit einer beruhigten Nachdenklichkeit, als Bloom langsam in das Wasser einer öffentlichen Badeanstalt gleitet.
Hades
Nun wird deutlich, warum Bloom sich frischgemacht hat. Bevor er zu seiner Arbeitsstelle geht, muss er nämlich an einer Beerdigung teilnehmen. In der Kutsche, die ihn zur Beisetzung fährt, sitzt ebenfalls Stephens Vater, Simon Daedalus. Aus den Augenwinkeln erblickt Bloom Stephen, zum ersten mal an diesem Tag kreuzen sich ihre Wege. Das Gespräch der Passagiere dreht sich um den Tod, um Arten des Sterbens und die Strassenbahn. Nachdem der Sarg in die Erde gelassen ist, streift Bloom über den Friedhof und denkt noch lange über den Tod nach.
Äolus
Im der Setzerei der Tageszeitung versucht Bloom dann, eine Annonce in der Nachmittagsausgabe zu platzieren. Nachdem er das Büro seines Vorgesetzten verlassen hat, kommt Stephen herein, um den Leserbrief für Mr Deasy abzugeben.
Lästrygonen
Bloom bekommt Hunger, ist jedoch durch die Gier der Gäste und den Dunst im Restaurant angewiedert und verlässt es postwendend wieder, um im „Davy Byrnes“ ein Gorgonzolasandwich zu essen.
Scylla und Charybdis
In der Nationalbibliothek legt Stephen einigen Gelehrten seine Theorie dar über die Beziehung von Shakespeare und Hamlet dar. Auch Bloom geht zum Zeitvertreib in die Bibliothek, die beiden treffen sich jedoch nicht.
Schwimmende Felsen
In 19 kurzen Episoden werden kurze Erlebnisse unterschiedlichster Bürger von Dublin erzählt, teilweise überschneiden sich diese Begebenheiten.
Sirenen
In diesem Kapitel steht die Musik im Vordergrund. Bloom speist mit Stephens Onkel Richie Goulding im Ormond Hotel, während Blazes Boylan, Molly Blooms heimlicher Geliebter, vorbeigeht.
Der Zyklop
Dieses Kapitel wird von einem namenlosen Mann erzählt, der unterwegs Hynes trifft und mit ihm in den Pub geht. Dort treffen sie Alf Bergmann und den sogenannten „Bürger“. Später kommt Bloom hinzu, um auf Martin Cunningham zu warten. Der Bürger stellt sich als engstirniger irischer Nationalist heraus und fängt an, Bloom zu belästigen. Schnell treten auch seine antisemitischen Ansichten hervor. Die Atmosphäre wird immer gespannter und als Martin Cunningham schliesslich eintrifft, nimmt er Bloom mit sich, da dieser gerade begonnen hat, sich verbal gegen die Attacken zu wehren. Der schreiende und tobende Bürger schleudert ihnen eine Keksdose hinterher.
Nausikaa
Drei junge Damen gehen am Strand von Dublin spazieren, wo sich auch Bloom aufhält. Die Mädchen necken sich gegenseitig und wollen gerade den Heimweg antreten, als ein Feuerwerk anfängt. Zwei von ihnen gehen ein Stück weiter, um eine bessere Sicht zu haben, nur die dritte, Gerty McDowell, bleibt, um sich einem romantischen Flirt mit dem Fremden Wanderer hinzugeben. Sie setzt sich auf einen Stein und zeigt ihm ihre nackten Beine. Bloom onaniert.
Die Rinder des Helios
Im Krankenhaus von Dublin liegt Mina Purefroy wegen Problemen während ihrer Schwangerschaft. Bloom möchte sie besuchen. Er begibt sich in den Aufenthaltsraum der Ärzte und findet dort Stephen, der mit Buck Mulligan und anderen Medizinstudenten dort ein Saufgelage abhält. Später gehen alle in einen Pub, um weiterzutrinken.
Circe
In diesem Kapitel, dass einer einzigen Halluzination gleicht, besuchen Bloom und Stephen Bella Cohens Bordell. Dies ist das längste Kapitel des Ulysses und im Stil eines Theaterstückes geschrieben.
Eumäeus
Bloom und Stephen gehen ins Cabmans Shelter um etwas zu essen und treffen dort auf einen betrunkenen Matrosen.
Ithaka
Bloom nimmt Stephen mit zu sich nach Hause, um ihm einen Schlafplatz für die Nacht anzubieten, den dieser jedoch ablehnt. Beide urinieren im Hinterhof gegen den Zaun und Stephen geht nach Hause.
Penelope
Das letzte Kapitel ist der berühmte Monolog der Molly Bloom, der aus nur acht(!) Sätzen ohne jedwedes Interpunktionszeichen besteht.
Geschichte und Wirkung
1918 werden Episoden aus Ulysses in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht, das 1920 veröffentlichte Gesamtwerk wird aber wegen angeblicher Obszönitäten verboten und erst am 1. September 1922 in Paris in zensierter Form veröffentlicht. Die erste von James Joyce autorisierte deutsche Übersetzung des Romans besorgte 1927 Georg Goyert. Diese Übersetzung wiederum soll den deutschen Schriftsteller Alfred Döblin inspiriert haben, der damals an seinem Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" - erschienen 1929 - arbeitete. Tatsächlich gibt es in der Modernität der Erzähltechnik auffällige Parallelen zwischen den beiden Romanen. Allerdings bestritt Döblin stets, etwas von Joyce übernommen zu haben.
Kurt Tucholsky verglich den Roman mit Fleischextrakt: Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.
1975 übersetzte Hans Wollschläger den Roman in einer von der Kritik sehr gelobten Fassung erneut ins Deutsche.
James Joyce: Ulysses, Penguin Books Ltd, 2000, ISBN 0141182806 (englische Fassung)
James Joyce: Ulysses, Suhrkamp, 2004; ISBN 3518415859 (kommentierte Ausgabe, Übersetzung von Hans Wollschläger),
Literatur
Don Gifford: Ulysses Annotated University of California Press 1989. ISBN 0-520-06745-2
Frank Budgen: James Joyce und die Entstehung des Ulysses Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 1977. ISBN 3-518-37252-1
Therese Fischer-Seidel (Hrsg,): James Joyce Ulysses - Neuere deutsche Aufsätze Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 1977. ISBN 3-518-00826-9
Stuart Gilbert: Das Rätsel Ulysses Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 1990. ISBN 3-518-36867-2
Hugh Kenner: Ulysses Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 1977. ISBN 3-518-11104-3
Frank Zumbach: Joyce's Ulysses. Piper-Verlag, München 2000. ISBN 3-492-23138-1