Carlos Latuff
Carlos Latuff, eigentlich Carlos Henrique Latuff de Souza (* 30. November 1968 in Rio de Janeiro) ist ein brasilianischer Cartoonist und Karikaturist libanesischer Abstammung.[1][2] Er sieht sich selbst als „künstlerischer Aktivist“. Seine Bilder versteht er als „antikapitalistisch und antiimperialistisch“.[3] Seine politischen Karikaturen thematisieren häufig den Nahostkonflikt und wurden vor allem aufgrund ihrer teilweise antisemitischen Inhalte wiederholt kritisiert.
Leben
Latuff wurde während der Militärdiktatur in Rio de Janeiro, im Stadtteil São Cristóvão, geboren und ist der Sohn eines Beamten und einer Hausfrau. Schon als Kind war er ein begeisterter Zeichner. Nach einer Banklehre arbeitete Latuff seit 1989 für eine Werbeagentur, seit 1990 für linke Gewerkschaftszeitungen.[4][3] Seine ersten politischen Arbeiten fertigte er nach eigener Aussage 1998 aus Anlass des Aufstands der Zapatistas in Chiapas an. Mit dem Zeichnen von Karikaturen über den Nahostkonflikt, für die er nach eigener Aussage keine Bezahlung annimmt, will er nach einer Reise ins Westjordanland begonnen haben, die er auf Einladung der Organisation Palestinian Centre for Peace and Democracy im Jahr 1999 unternahm. Danach habe er große Sympathien für die „Sache der Palästinenser“ empfunden. 2009 besuchte er palästinensische Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon.[3] Latuff verwendet auf seiner Website ein Foto, auf dem er die Flugzeugentführerin Leila Khaled umarmt,[5] die im Westen als Terroristin angesehen und in der arabischen Welt als Befreiungskämpferin verehrt wird.
Karikaturen
Gegenstand seiner Karikaturen sind unter anderem Darstellungen des Nahostkonflikts, des Irakkriegs, der Lebensbedingungen von Armen in Lateinamerika, des Schicksals der Ureinwohner in Mexiko und der Unterdrückung der Tibeter. Latuff karikarierte u. a. Politiker wie den israelischen Ministerpräsident Ariel Sharon, den US-amerikanischen Präsident George W. Bush, den brasilianischen Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, den britischen Premierminister Tony Blair, den ehemaligen mexikanischen Präsident Ernesto Zedillo, den chilenischen Diktator Augusto Pinochet sowie die US-amerikanische Politikerin Condoleezza Rice.
Oft vergleicht er das Schicksal der Palästinenser mit dem der Juden im Holocaust, etwa indem er einen Palästinenser als Häftling eines Konzentrationslagers darstellt. Mit dieser Karikatur nahm Latuff am Internationalen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb teil und belegte dort den zweiten Rang.[6] In einem Interview äußerte Latuff, dass er grundsätzlich wenig Interesse an einer Wettbewerbsteilnahme hätte, der Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb aber eine Möglichkeit geboten habe, auf das Leiden der palästinensischen Bevölkerung aufmerksam zu machen.[3][7]
Im Jahr 2002 veröffentlichte Latuff die Cartoon-Serie We are all Palestinian (Wir sind alle Palästinenser) mit Figuren, die erkennbar Gruppen zugehören, die in der Vergangenheit unterdrückt wurden, darunter neben Südafrikanern zur Zeit der Apartheid, Tibetern unter chinesischer Herrschaft und Chiapas-Indianern im Widerstand gegen mexikanische Truppen auch Juden im Warschauer Ghetto. Die dargestellten Figuren rufen jeweils: „Ich bin Palästinenser!“[8] Die Serie ist umstritten, da das Bild eines Palästinenserjungen Assoziationen an das Warschauer Ghetto weckt und die Aktionen der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen mit der Behandlung der Juden zur Zeit des Nationalsozialismus vergleicht. Das Bild zeigt einen Palästinenserjungen mit Davidstern, der auf einem mit der Tafel „Wohngebiet der Juden - Betreten verboten“ beschilderten Platz vor einer Mauer und vor verschlossener Türe steht. Gemäß einer Bildanalyse der Aktion Kinder des Holocaust relativiere das Bild des Jungen den Holocaust. Juden würden nur noch in ihrer Symbolhaftigkeit wahrgenommen und die Einzigartigkeit des Holocaust werde verunglimpft.[9] Die Aktion Kinder des Holocaust klagte gegen die Schweizer Niederlassung von Indymedia wegen der Veröffentlichung des Bildes, verlor den Prozess jedoch. Laut dem Gerichtsurteil der Züricher Bezirksanwaltschaft vergleiche der Cartoon nicht die eigentliche Judenvernichtung, sondern die territoriale Ausgrenzungspolitik der Nationalsozialisten mit dem heutigen Verhalten des israelischen Staates.[10][11]
2004 zeichnete Latuff die Reihe Forgiveness (Vergebung), die Israelis und Palästinenser in Versöhnungssituationen zeigt.[12][13]
Latuff kritisiert mit seinen Karikaturen auch die US-Militäreinsätze im Irak und Afghanistan. Einige Cartoons zeigen getötete oder schwer verletzte amerikanische Soldaten, andere schildern, wie amerikanische Soldaten irakische Zivilisten töten. In seiner Comic-Serie über die US-Besetzung des Irak Tales of Iraq War (Märchen des Irak Krieges) legt er die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen des Landes dar.[13] Er porträtiert u. a. „Juba, den Bagdad-Sniper“, einen mutmaßlichen irakischen Scharfschützen, dessen Existenz nie bewiesen wurde.
Latuffs Zeichnungen waren in brasilianischen Ausgaben von MAD oder dem Z Magazine[14] zu sehen. Da er viele seiner Karikaturen unter Copyleft-Lizenz veröffentlicht, verbreiten sie sich in Blogs und globalisierungskritischen und antikapitalistischen Veröffentlichungsplattformen wie z. B. Indymedia. Eine Anzahl von Karikaturen sind auf der Website des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman Finkelstein veröffentlicht.[15] Es interessieren sich vor allem arabische Medien für seine Arbeiten. Einige seiner Bilder wurden nach Aussage Latuffs von Al Jazeera und dem staatlichen iranischen Sender Press TV gezeigt. Latuff sagte jedoch, dass dies eher selten sei.[3]
Kritik

Latuffs Bilder wurden vielfach wegen der Verwendung judenfeindlicher Stereotype als antisemitisch kritisiert.[16] Nach Ansicht des deutschen Gesellschaftswissenschaftlers Christoph Hamann vertritt er einen „äußerst aggressiven Antiamerikanismus und Antisemitismus“. Er vollziehe eine „Täter-Opfer-Umkehr“, wobei er den Holocaust nicht leugne, sondern sich dessen bekannter Ikonografie bediene und eine Analogie zwischen dem Nationalsozialismus und der Palästinenserpolitk Israels herstelle.[17] Der belgische Politologe Joel Kotek sieht in einigen Werken Latuffs Neuformen der Ritualmordlegende sowie das Motiv der jüdischen Kindestötung.[18][19] Er bezeichnete ihn in seinem Buch „Cartoons and Extremism“ als den „zeitgenössischen Drumont des Internet“.[20] Der Jahresbericht 2003 des Stephen Roth Institute meint, eine Sharon-Karikatur Latuffs erinnere an die antisemitischen Karikaturen von Philipp Rupprecht im Stürmer.[21]
Der iranische Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb, bei dem Latuff einen zweiten Platz belegte, wurde u.a. von Kofi Annan, den Reportern ohne Grenzen und der Anti Defamation League kritisiert.[22][23][24] Latuffs Beitrag wurde als typisches Beispiel für das antisemitische Darstellungsmotiv der „Umkehrung des Holocausts“ beschrieben.[19]
Eine von der regierungsnahen ägyptischen Tageszeitung Al-Watani al-Youm veröffentlichte Karikatur Latuffs, die den Ship-to-Gaza-Zwischenfall thematisiert, führte zu einer Beschwerde der israelischen Botschaft in Kairo an die ägyptische Regierung.[25] Die Karikatur zeigt ein Schiff der Gaza-Flottille, das von den Tentakeln einer riesigen Krake umfasst wird. Auf der Stirn der Krake befindet sich eine israelische Flagge, deren Davidstern durch ein Hakenkreuz ersetzt ist. Dies sei „gleichbedeutend mit einer antisemitischen Aussage“, so die israelische Botschaftssprecherin.[26] Latuff bezeichnete die Vorwürfe als „bösartig“ und sagte, israelische Kritik werde ihn nicht abhalten, weiter seine Cartoons für das „tapfere palästinensische Volk“ anzufertigen.[27]
Latuff verneint Antisemitismus als Motiv seiner Arbeit, seine Kritik richte sich gegen Israel als politische Entität, insbesondere aufgrund der Behandlung der Palästinenser. Wenn die Unterdrücker Christen, Muslime oder Buddhisten wären, würde er sie ebenso kritisieren.[7] Diese Auffassung wird durch den jüdischen Kulturwissenschaftler Edward Portnoy unterstützt, der Latuff zwar für einen „Propagandisten der palästinensischen Seite“ hält, der seine Kritik auf „furchtbar widerwärtige Art und Weise“ („in terribly obnoxious ways“) ausdrücke, nicht aber für einen Antisemiten. In einer Kritik an Joel Koteks Buch „Cartoons and Extremism“ führt Portnoy aus, dass Latuff den Staat Israel, dessen Führung und die Armee auf bösartige Weise angreife („to viciously attack“), seine Darstellungen aber nicht gegen das jüdische Volk an sich gerichtet sei. Obwohl Latuff den Holocaust als „Metapher“ nutze, israelische Führer als „Teufel und Vampire“ und israelische Soldaten als „Baby-Killer“ darstellt, sei es daher, so Portnoy, „weit hergeholt“ („a far stretch“) seine Arbeiten als antisemitisch zu bezeichnen.
Einzelnachweise
- ↑ Brazilian artist lives up to his promise. Gulf News, 18. Januar 2009
- ↑ A Nova Democracia, Juli 2007
- ↑ a b c d e Interview with Carlos Latuff: I Don't Trade Ideology for Money Salem-News vom 17. April 2010
- ↑ A Nova Democracia, Juli 2007
- ↑ Latuff and Leila Khaled in WSF Foto bei deviantART
- ↑ Manfred Gerstenfeld: Ahmadinejad, Iran, And Holocaust manipulation: Methods, aims and reactions. Scholars for peace in the Middle East, 10. Februar 2007.
- ↑ a b Latuff Cartoonist and opinion-maker. MENASSAT, 23. Dezember 2008
- ↑ Steven George Salaita, Peter Gran: The Holy Land in transit: colonialism and the quest for Canaan. Syracuse University Press, 2006, S. 63ff
- ↑ Ist die vorliegende, bei indymedia-switzerland veröffentlichte Karikatur von Latuff antisemitisch? Eine Analyse von Aktion Kinder des Holocaust
- ↑ Strafanzeige gegen switzerland.indymedia.org Aktion Kinder des Holocaust akdh.net
- ↑ Cartoon: Ein Palästinenserjunge mit Davidstern steht auf einem Platz mit Tafel "Wohngebiet der Juden - Betreten verboten". Stiftung GRA
- ↑ Eine deutsch-palästinensische Identität Vortrag von Anis Hamadeh, im Rahmen einer öffentlichen Universitäts-Ringvorlesung in Leipzig unter Leitung von Prof. Georg Meggle.
- ↑ a b Cheryl Heines: „Brazilian Cartoonist highlights Palestinian plight“. Jordan Times, 26. Februar 2007"
- ↑ Z magazine, Volume 19, Institute for Social and Cultural Communications, 2006
- ↑ Website des Politikwissenschaftlers Norman Finkelstein mit Werken von Latuff
- ↑ Cartoon symbols of the Israeli-Palestinian conflict, Arab cartoons that use antisemitic images are evidence of the damage done by festering hostilities, von Ian Black, guardian.co.uk, 19. Dezember 2008
- ↑ Christoph Hamann: Der Holocaust im Nahostkonflikt - Schlüsselbilder als visuelles Paradigma. In: Christian Geißler, Bernd Overwien: Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung: Festschrift für Prof. Hanns-Fred Rathenow zum 65. Geburtstag. LIT Verlag Münster, 2009, S. 271ff
- ↑ Joel Kotek: Au nom de l'antisionisme. L'image des Juifs et d'Israël dans la caricature depuis la seconde Intifada. Editions Complexe, 2005, S. 117ff. 161 et passim.
Engl. Übersetzung: Cartoons and extremism, Israel and the Jews in Arab and Western media, Vallentine Mitchell, Edgware 2009. - ↑ a b Manfred Gerstenfeld: Holocaust Inversion: The Portraying of Israel and Jews as Nazis. JCPA, 1. April 2007
- ↑ Eddy Portnoy; Simply Offensive and Out there. Extreme Cartoons Distort Israel and the Jews. 2008
- ↑ Antisemitism and Racism
- ↑ Moroccan wins first place in Iran Holocaust cartoon contest in: Haaretz, 1. November 2006
- ↑ Associated Press: Iran says Holocaust cartoon contest expresses hatred toward oppressors, 2. November 2006
- ↑ Arab Media Review: Anti-Semitism and Other Trends July - December 2006, 24. Januar 2007
- ↑ Israeli mission complains over Egypt press cartoon Nachrichtenagentur Reuters vom 28. Juni 2010
- ↑ Israel Complains to Cairo Over Anti-Zionist Swastika Cartoon. Arutz Sheva, 29. Juni 2010
- ↑ Egyptian paper criticised for Nazi cartoon. Jewish chronicle, 29. Juni 2010
Weblinks
Personendaten | |
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NAME | Latuff, Carlos |
KURZBESCHREIBUNG | brasilianischer Karikaturist |
GEBURTSDATUM | 30. November 1968 |
GEBURTSORT | Rio de Janeiro |