Kommentar (Literaturwissenschaft)
Ein literaturwissenschaftlicher Kommentar (auch philologischer Kommentar, oder, in eindeutigem Zusammenhang, kurz Kommentar) ist die Sammlung von Anmerkungen zu einem - im weitesten Sinne - literarischen Text. Ein Kommentar stellt heute in der Regel Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte des Textes dar und beinhaltet einen Überblickskommentar sowie, im sogenannten Stellenkommentar, Erläuterungen von Namen, Begriffen, Fremdwörtern, und Zitaten.[1]
Begriffs- und Sachgeschichte
Die lange Tradition des philologischen Kommentars hängt mit der Entwicklung der Philologie überhaupt zusammen. Lateinisch commentarius liber („Kommentarbuch"), commentarium volumen („Kommentarband"), etymologisch von lateinisch commentus, dem Partizip Perfekt von cominisci („sich etwas ins Gedächtnis rufen") abgeleitet,[2] als Lehnsübersetzung von gleichbedeutendem altgriechischem hypómnēma bezeichnen in römischer Zeit eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Schriften.[3][4][5] Ein Beispiel dafür, welche Bedeutung das Wort commentarius je nach Kontext annehmen konnte, ist die Verwendung durch Cicero, welcher damit amtliche Schriftstücke bezeichnet, aber auch wissenschaftliche Abhandlungen und die Sammlung von Denkwürdigkeiten zur Unterstützung des Gedächtnisses. In dieses letztere Bedeutungsfeld der Denkschriften sind auch Cäsars „commentarii de bello gallico" einzuordnen. Standen anfangs vor allem Gesetzestexte und heilige Schriften im Fokus der wissenschaftlichen Kommentierung, setzt sich im dritten Jhd. n. Chr., seit den alexandrinischen Philologen die Bezeichnung commmentarius allgemein für Inhaltsangaben, Bedeutungserklärungen und Auslegungen älterer poetischer, politischer, philosophischer, rhetorischer oder allgemein wissenschaftlicher Texte durch. Kommentare zu literarischen oder philosophischen Werken wurden als Untersuchung, Traktat, Essay, oder Quaestio veröffentlicht. Dabei spielte es in der Antike und der Renaissance keine Rolle, ob der Kommentar eigenständig, oder im Rahmen einer Edition des Textes publiziert wurde. Vergleichbar mit dem heutigen Stellenkommentar ist die Glosse, welche seit der Antike als Kommentierungsform zu autoritativen Texten, insbesondere zur Bibel, Erklärungen bzw. Übersetzungen von Einzelworten liefert.[6]
In der humanistischen Philologie der Renaissance entstanden im Zuge der Rückbesinnung auf die Antike viele Kommentare zu antiken Schriften, insbesondere zur „Poetik" des Aristoteles, wobei einzelne Textstellen oder ganze Passagen ausgedeutet wurden.[7] Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bemühten sich Kommentatoren um eine rationale Interpretation des Textes. Die literarische Kommentierung, die zunächst vor allem als wertende Literaturkritik begann, zielte im 19. Jahrhundert auf wissenschaftliche Interpretation ab. In der Tradition dieser Begriffsgeschichte steht auch der journalistische Literaturkommentar, der sich vom literaturwissenschaftlichen Kommentar grundlegend darin unterscheidet, dass er vor allem eine Interpretation und Wertung der besprochenen Literatur zum Ausdruck bringt, was literaturwissenschaftliche Kommentare des 20. und 21. Jahrhunderts dezidiert zu vermeiden suchen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Kommentar bewusst aus den textkritischen Editionen ausgegliedert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Kommentar einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Kritik unterzogen und, entgegen der langen europäischen Tradtion wissenschaftlicher Kommentare, zum Teil gar als unwissenschaftlich verworfen. Erst seit den 70er Jahren, nachdem verstärkt eine methodische Reflexion über die wissenschaftlichen Grundlagen des Kommentierens einsetzte, gilt der Kommentar in der germanistischen Literaturwissenschaft als anerkannter Gegenstand wissenschaftlicher Editionen. Seitdem erscheinen Kommentare oftmals im Rahmen von textkritischen Editionen, in Studienausgaben und in kommentierten historisch-kritischen Ausgaben als Anmerkungsteil. Dennoch haben sich auch separate Kommentarreihen erhalten, wie etwa Reclams Erläuterungen und Dokumente.
Aufgaben und wissenschaftlicher Anspruch des Kommentars
Als Aufgabe des philologischen Kommentars wird heute nicht angesehen, eine Interpretation des Textes zu liefern, sondern dem Leser eine Erschließung des Textes zu ermöglichen.[8] Der Kommentar sollte dazu möglichst alle Informationen angeben, die relevant dafür sind, den Text in seinem Kontext und in seiner Geformtheit zu verstehen. Als kommentierungswürdig gelten im Allgemeinen sprachliche, eventuelle metrische Eigentümlichkeiten des Textes, Worterklärungen, sofern die historische Bedeutung eines Wortes von der heute üblichen abweicht, Sacherklärungen zu den im Text vorkommenden Begriffen, Verweise auf Parallelstellen, also auf die Verwendung eines Worts oder eines ähnlichen Worts im Werk des Autors, intertextuelle Bezüge zu anderen (literarischen) Werken, wie etwa markierte oder unmarkierte Zitate, Plagiate, Parodien, Kontrafakturen, oder Anspielungen, außerdem Informationen zum Entstehungskontext, wie etwa Selbstaussagen des Autors, und Informationen zur Wirkungsgeschichte des Textes.[9]
Methodische Probleme
Abgrenzung zur Interpretation
Der Kommentar soll so weit wie möglich frei von Interpretation sein. Dennoch benötigt bereits die Auswahl der Lemmata, die Entscheidung darüber, welche Stellen als kommentierungswürdig angesehen werden, eine interpretierende Entscheidung, die vom Horizont des Herausgebers abhängig ist. Dies kann besonders bei der Kommentierung von Anspielungen und Parallelstellen richtungsweisenden Einfluss auf die Rezeption des Textes haben.[10]
Editorische Abwägungen, die nicht völlig frei von subjektiven Entscheidungen und Wertungen sind, könnten bei der Kommentierung von Anspielungen erforderlich sein, da es mitunter von der Einschätzung des Lesers abhängig ist, ob er eine Stelle als Anspielung auf einen anderen Text ansieht. Der Kommentar beschränkt sich auf Informationen, deren Quellen sich, beispielsweise aus der Kenntnis des Nachlasses oder der Briefe des Autors, nachweisen lassen. Informationen, die sich nur durch Interpretation des Textes gewinnen lassen, sollten im Kommentar vermieden werden.[11]
Intertextualität
Ein weiteres methodisches Problem ergibt sich bei der Kommentierung der Intertextualität des Textes.[12] Da niemand die gesamte Literatur kennt, kann methodisch nicht gewährleistet werden, dass die Kommentierung der intertextuellen Bezüge vollständig ist. Die Aussagekraft des Kommentars ist hier immer durch die Belesenheit des Kommentators begrenzt.
Da die Autorintention die maßgebliche Richtschnur für die Entscheidungen des Herausgeber ist, kommt auf ihn das methodische Problem zu, zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Zitaten zu unterscheiden. Zwar können beabsichtigte Zitate oftmals als solche identifiziert werden. Zu zeigen, dass ein Zitat nicht vom Autor bewusst als solches intendiert ist, ist dagegen nahezu unmöglich. Aus einem ähnlichen Grund kann es auch ungewiss sein, ob es sich bei einer Beobachtung tatsächlich um ein Zitat, oder aber um eine nur zufällige Übereinstimmung zweier Texte handelt, da letzteres in der Regel nur schwer beweiskräftig auszuschließen ist.
Ein (hypothetisches) Beispiel
Begegnet man einem Auto mit dem Aufkleber: „Ich bremse auch für Cetaceae", so benötigt man verschiedene Informationen, um diesen Satz zu verstehen: Zunächst einmal ist das Wort „Cetaceae" kommentierungsbedürftig. Derjenige, der nicht weiß, dass dies der lateinische Artname der Wale ist, kann diesen Satz nicht verstehen. Ein Kommentar dieses Satzes müsste also diese Worterklärung beinhalten. Aber auch dieses Wissen allein reicht nicht aus, den Satz zu verstehen. Denn die Aussage „Ich bremse auch für Wale." ist unsinnig, wenn man sie wörtlich liest, da das Zusammentreffen eines Autos mit einem Wal im Straßenverkehr unmöglich ist. Der Satz beinhaltet eine Aussage, die über die rein wörtliche Aussage des Satzes hinausgeht: Die ironische Botschaft des Textes wird erst deutlich, wenn er als Anspielung auf die Slogans „Ich bremse auch für Tiere." und „Rettet die Wale." verstanden wird. Ein Kommentar müsste also auch den Hinweis auf diese Texte enthalten, um demjenigen das Verstehen des Textes zu ermöglichen, dem diese Prätexte, diese intertextuellen Vorlagen, und der mit ihnen verknüpfte gesellschaftliche Diskurs über Tierschutz nicht bekannt sind.
Literatur
- Frühwald, Wolfgang u.a. (Hg.): Probleme der Kommentierung: Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Frankfurt am Main, 12. - 14. Oktober 1970 und 16. -18. März 1972. Referate und Diskussionsbeiträge. Boppard: Boldt 1975
- Martens, Gunter (Hg.): Kommentierungsverfahren und Kommentarformen. Hamburger Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition 4. bis 7. März 1992, autor- und problembezogene Referate. Tübingen: Niemeyer 1993
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Norbert Oellers: Kommentar. In: Fricke, Harald u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin, New York: Walter Gruyter 2000, Bd.2, S.302-303
- ↑ Vgl. Kommentar. In: Pfeifer, Wolfgang (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Berlin: Akademie Verlag 1989, S.884
- ↑ Für diesen Abschnitt vgl. Ralph Häfner: Kommentar1. In: FRICKE2000, Bd.2 S.298-302
- ↑ Vgl. auch Nikolaus Wegman: Kommentar, philologischer. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Auflage, Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler 2008, S.364-365
- ↑ Vgl. auch Rainer Hess: Literaturkritik. In: Hess, Rainer u.a. (Hg.): Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten (LWR). 4. Auflage, Tübingen und Basel: A. Francke 2003, S.161-168, insbesondere den Abschnitt 1b auf S.162-163
- ↑ Vgl. Nikolaus Henkel: Glosse1. In: FRICKE2000, Bd.1, S.727-728
- ↑ Für den folgenden Absatz vgl. auch Aline Loicq: Commentaire. In: Aron, Paul u.a. (Hg.): Le dictionnaire du Littéraire. Paris: Presses Universitaires de France 2002, S.108-109
- ↑ Vgl. Bodo Plachta: Texterschließung durch Erläuterung und Kommentar. In: ders.: Editionswissenschaft. Stuttgart: Reclam 1997 [=RUB 17603], S.122-129
- ↑ Vgl. Thomas Zabka: Kommentar. In: Burdorf, Dieter u.a. (Hg.):Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3. Auflage, Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler 2007 S.390-391.
- ↑ Vgl. Andreas Thomasberger: Über die Erläuterungen zu Hoffmannsthals Lyrik. In: MARTENS1993, S.11-16
- ↑ Vgl. Andreas Thomasberger: Über die Erläuterungen zu Hoffmannsthals Lyrik. In: MARTENS1993, S.14
- ↑ Für den folgenden Absatz vgl. Wolfram Groddeck: "Und das Wort hab' ich vergessen". Intertextualität als Herausforderung und Grenzbestimmung philologischen Kommentierens, dargestellt an einem Gedicht von Heinrich Heine. In: MARTENS1993, S.1-10.