Shlomo Sand
Shlomo Sand (* 10. September 1946 in Linz, Österreich) ist Geschichtsprofessor in Tel Aviv, Israel.
Biographie
Sand war aktiv in der anti-zionistischen Gruppierung Matzpen (Kompass).[1]
Sands Hypothesen zur historischen Identität des jüdischen Volkes
Sand löste u.a. in Israel und Frankreich mit seinem Buch "מתי ואיך הומצא העם היהודי?" (dt. „Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?“, dt. Übersetzung des Buchs unter dem Titel Die Erfindung des jüdischen Volkes) Kontroversen aus.
Sand vertritt die These, dass die heute in Israel lebenden Juden in keinster Weise Nachfahren von Bewohnern Judäas zur Zeit des Ersten und Zweiten Tempels seien, sondern Abkömmlinge diverser Bevölkerungsgruppen aus verschiedenen Bereichen des Mittelmeerraumes. Ein jüdisches Volk habe nie als Entität mit gemeinsamem nationalen Ursprung existiert, sondern sei aus einer bunten Mischung verschiedenster Gruppen enstanden, die zu unterschiedlichen Zeiten den jüdischen Glauben angenommen hätten.
Es habe die Jüdische Diaspora nach dem Jüdischen Krieg nie gegeben, eine Infrastruktur und Logistik zur Deportation so großer Bevölkerungsteile nach Rom habe zur damaligen Zeit nicht existiert. Gegen diese Deutung des Befundes wurde u.a. eingewendet, dass nach der verwendeten Schlussweise auch diverse andere Massenevakuationen und Bevölkerungswanderungen unerklärbar wären, etwa der Mongolen nach Osteuropa oder der Araber nach Marokko.[2]
Das spätere Auftauchen jüdischer Gemeinschaften außerhalb Judääs sei nicht auf Vertreibung der dort lebenden Juden, sondern auf Konversion indigener Bevölkerung zum Judentum zurückzuführen. Nicht das jüdische Volk habe sich ausgebreitet, sondern die jüdische Religion. Wenn es überhaupt eigentliche Juden gebe, dann als arabische Palästinenser.[3]
In Buchbesprechungen fanden einige von Sands Überlegungen Zustimmung etwa zu den Ursachen dafür, warum viele heutige Juden abstammen von solchen des biblischen Israels, für das Nichtvorhandensein gemeinsamer Sprache oder Kultur unter vielen Diaspora-Juden sowie zu Problemen der Selbstdefinition des Staates Israel z.B. insofern Judentum definiert werde in Begriffen des traditionellen religiösen Rechts.[4]. Der Leser habe aber große Mühen, gelehrte und kluge Passagen zu unterschieden von der Wiedergabe von Banalitäten, die als revolutionäre Einsichten ausgegeben würden und von einem fortdauernden Einschlagen auf Türen, die schon lange offen stünden.[5] Der genetische Befund werde beispielsweise nicht hinreichend berücksichtigt.[6] Die Tendenz, sämtliche heutigen Juden auf Konvertiten zurückzuführen, scheitere u.a. an diesen Tatsachen.[7] Die Rückführung der sephardischen Juden auf Berberstämme wurde als absurder Fehlschluss kritisiert.[8]
Sands Argumentation basiert u.a. auf Hypothesen zu den Chasaren, die u.a. bereits von Arthur Koestler vertreten[9] worden waren. Koestler zufolge seien die osteuropäischen, ashkenasischen Juden zurückzuführen auf die Konversion der Chasaren. Derartige Thesen sind in der Fachwissenschaft sowie von Journalisten vielfach als unhaltbar bezeichnet worden. Koestler selbst war Zionist, es wurden aber seine Thesen zwischenzeitlich vielfach auch von Neo-Nazis, Holocaustleugnern und dem iranischen Staat propagiert[10] Von Journalisten und Historikern wurde u.a. eingewendet, es gebe durchaus archäologische und historische Belege für die Präsenz von Juden auch nach dem dritten Aufstand.[11]
Sands Ansatz wurde eingeordnet in die konstruktivistische Wende der Nationalismusforschung, wie sie z.B. mit Benedict Anderson etabliert wurde[12], sowie in die Tendenzen der sog. Neuen israelischen Historiker. Sand zufolge sei bereits der Begriff eines jüdischen Volkes eine Erfindung von Zionismus und jüdischem Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Diese Schlussfolgerung wurde in Besprechungen als "absurd" charakterisiert, zumal Israel bzw. das Judentum sich früh als spezifisches (insb. auserwähltes) Volk begriffen habe; kaum irgendeine moderne Nation könne für die Konstruktion ihrer nationalen Identität bereits auf 2500 Jahre diesbezüglicher Bemühungen zurückgreifen.[13] Dass z.B. das Jüdischsein eines äthiopischen Juden im Deutschland des 19. Jh. erfunden worden wäre, sei diesem schwerlich plausibel zu machen.[14]
Sand wurde vorgehalten, methodisch äußerst unsauber einzelne Zitate isoliert aus ihrem textlichen und historischen Kontext zu verwenden und für damit nicht belegbare Hypothesen zu missbrauchen[15], er gründe seine Argumente auf die esoterischsten und kontroversesten Interpretationen[16]. Sand wurde u.a. als Pseudo-Historiker bezeichnet, seine Monographie als Fiktion.[17] Da Sand sich zuvor vor allem mit der marxistischen Ideengeschichte des 20. Jh. beschäftigt hatte, wurde vielfach seine Expertise für das antike Judentum in Frage gestellt.[18]
Sands Stellungnahmen zum Zionismus
Sand bezeichnet sich weder als Zionist noch Anti-Zionist. Er verglich die Gründung Israels mit einer Vergewaltigung, was aber dessen Existenzrecht nicht in Frage stelle, analog dazu, wie man dies auch dem aus einer Vergewaltigung hervorgegangen Kind nicht bestreite.[19]
Sand wurde u.a. vorgeworfen, antisemitische Bestrebungen zu fördern.[20] Dabei wurde z.B. hervorgekehrt, dies entspreche der Tendenz vieler "Neuen Linken", u.a. auch der Tendenz des Verlages Verso Books.[21]
Werk
- L'Illusion du politique: Georges Sorel et le débat intellectuel 1900 , Paris, La Découverte, 1984
- Georges Sorel en son temps, mit Jacques Julliard (Hg.), Paris, Seuil, 1985
- Intellektuelle, Wahrheit und Macht: Von der Dreyfus-Affäre zum Golfkrieg, Tel Aviv, Am Oved, 2000 (auf hebräisch)
- Le XXe siècle à l'écran, Paris , Seuil, 2004 — auch als Film as History – Imagining and Screening the Twentieth Century, Tel Aviv, Am Oved & Open University Press, 2002 (auf hebräisch)
- Kino und Erinnerung - eine gefährliche Beziehung?, mit Haim Bresheeth & Moshe Zimmerman (Hg.), Jerusalem, The Zalman Shazar Center for Jewish History, 2004 (auf hebräisch)
- Historiker, Zeit und Vorstellung. Von der Annales-Schule zum postzionistischen Mörder, Tel Aviv, Am Oved, 2004 (auf hebräisch)
- Les Mots et la terre - Les intellectuels en Israël, Paris, Fayard, 2006
- Die Erfindung des jüdischen Volkes, Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Propyläen, Berlin [April] 2010, ISBN 3549073763, zuerst erschienen als מתי ואיך הומצא העם היהודי? [Matai ve'ech humtza ha'am hayehudi?, Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden?]. Tel Aviv: Resling 2008, engl. Übersetzung unter dem Titel The Invention of the Jewish People.; franz. Übersetzung Comment le peuple juif fut inventé - De la Bible au sionisme. Paris: Fayard 2008.
Einzelnachweise
- ↑ [1]
- ↑ [2]
- ↑ [3]
- ↑ [4]
- ↑ Schama, l.c.
- ↑ Shapira, 69f; [5]
- ↑ [6]
- ↑ [7]
- ↑ The Thirteenth Tribe, 1976.
- ↑ [8], [9], [10].
- ↑ [11]
- ↑ [12]
- ↑ [13]
- ↑ [14]
- ↑ [15]
- ↑ Shapira, l.c.
- ↑ Vgl. [16], [17], [18], [19]
- ↑ Z.B. [20]
- ↑ Vgl. [21]
- ↑ Vgl. [22], [23].
- ↑ [24], [25].
Weblinks
- Texte von Sand
- „Es gibt kein jüdisches Volk“ Interview mit Shlomo Sand von Sybille Oetliker in der Frankfurter Rundschau vom 12. Juni 2009
- Kurzer Lebenslauf auf der Tel-Aviv-Universitätsseite (engl.)
- Texte über Sand
- Anita Shapira, Review Essay: The Jewish-people deniers, The Journal of Israeli History, Vol. 28, No. 1, March 2009, 63-72 (in engl.)
- Simon Schama: The Invention of the Jewish People, Financial Times, November 13 2009 (in engl.)
- Max Hastings: Review, in: The Sunday Times, 19.11.2009
- Patricia Cohen: Review, in: The New York Times, 24.11.2009
- Jonathan Wittenberg: Review, in: The Guardian, 9.1.2010
- Stephen Howe: Review, in: The Independent 27.11.2009
- Shattering a 'national mythology' . Besprechung von מתי ואיך הומצא העם היהודי? in der israelischen Zeitung Haaretz (engl.), 21- März 2008
- Kritik von Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden? vom israelischen Historiker Israel Bartal im Haaretz (engl.)
Personendaten | |
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NAME | Sand, Shlomo |
KURZBESCHREIBUNG | Geschichtsprofessor in Tel Aviv/Israel |
GEBURTSDATUM | 10. September 1946 |
GEBURTSORT | Linz, Österreich |