Arierparagraph
Ein Arierparagraph war eine Bestimmung im Statut einer Organisation oder Gebietskörperschaft, die die Mitgliedschaft bzw. das Heimatrecht für Angehörige der postulierten Rasse der „Arier“ reservierte und damit vor allem Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung ausschloss. Arierparagraphen waren von 1885 bis 1945 ein wesentlicher Aspekt des öffentlichen Lebens in Deutschland und Österreich.
Frühe Arierparagraphen
Der österreichische Nationalistenführer und Rassenantisemit Georg von Schönerer erweiterte das als Linzer Programm bekannte Grundsatzpapier des österreichischen Deutschnationalismus 1885 um einen der frühesten dokumentierbaren Arierparagraphen. Zahllose deutschnationale Sportvereine, Gesangsvereine, Schulvereine, Lesezirkel und Burschenschaften schlossen sich an und nahmen ebenfalls Arierparagraphen in ihre Satzungen auf.
Im Zuge des erstarkenden Antisemitismus auch unter den nicht von Anfang an offen völkischen Wehrverbänden in der Weimarer Republik wurden in diesen, in Folge von ideologischen Auseinandersetzungen über „die Judenfrage“, Arierparagraphen eingeführt – so im Jungdeutschen Orden, im Nationalverband Deutscher Offiziere, im Verband nationalgesinnter Soldaten, im Nationalverband Deutscher Soldaten und im Stahlhelm.
Auch im deutschen Adel gab es vermehrt Versuche, nur Adel „reinen deutschen Blutes“ als akzeptabel gelten zu lassen. Daraufhin nahm die größte deutsche Adelsorganisation, die Deutsche Adelsgenossenschaft, einen Arierparagraphen auf.
Zeit des Nationalsozialismus
Staat
Am 7. April 1933 erließ die nationalsozialistische Reichsregierung unter Reichskanzler Adolf Hitler das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Dieses erste offen rassistische Gesetz des NS-Regimes folgte dem Judenboykott vom 1. April 1933 und enthielt als Paragraph 3 die Forderung:
- Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.
Ziel war die Gleichschaltung des öffentlichen Dienstes durch Entlassung missliebiger, vor allem jüdischer und politisch als oppositionell eingestufter Beamter. Mit dem am selben Tag erlassenen Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, der Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen vom 22. April und dem Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April wurde der Arierparagraph in der Folgezeit auf immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt.
Die Einführung des Arierparagraphen war der erste Schritt des NS-Regimes zum gesetzlichen Ausschluss der Juden und anderer sogenannter Nichtarier aus der deutschen Gesellschaft und ihrer fortschreitenden Entrechtung. Der zweite Schritt waren die antisemitischen Nürnberger Rassengesetze vom 15. September 1935, durch die auch anfangs noch geltende Ausnahmen wie das Frontkämpferprivileg für jüdische Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs abgeschafft wurden.
Diese rassistischen Gesetze beruhten auf der Annahme einer jüdischen Rasse, durch die eine angebliche „Minderwertigkeit der Juden“ behauptet und aus angeblich unveränderlichen, erblichen Rasseneigenschaften abgeleitet wurde. Aus diesem Grund müsse dem „zersetzenden Geist … einer minderwertigen Rasse“ „mit den Mitteln der Rassenhygiene Einhalt geboten werden“.[1]
Verbände
Auch nahezu alle Organisationen und Verbände übernahmen seit 1933 Arierparagraphen in ihre Statuten und Regelungen.
Kirchen
Im Bereich der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) verfügten einige Landeskirchen seit Herbst 1933 analog zum staatlichen Arierparagraphen den Ausschluss von Christen jüdischer Herkunft aus Kirchenämtern: Pfarrer und höhere Kirchenbeamte mussten in den Ruhestand versetzt werden, wenn sie jüdische Eltern oder mindestens ein jüdisches Großelternteil hatten.
Die Generalsynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union beschloss als erste Leitung einer evangelischen Teilkirche am 6. September 1933 einen solchen kirchlichen Arierparagraphen. Entsprechende Maßnahmen beschlossen in den Folgejahren auch die Landeskirchen in Sachsen, Schleswig-Holstein, Braunschweig, Lübeck, Mecklenburg, Hessen-Nassau, Thüringen und Württemberg. Der Ausschluss betraf etwas über 100 Personen, vor allem Theologen. Die Initiative dazu ging von der Kirchenpartei der Deutschen Christen (DC) aus, die seit den Kirchenwahlen im Juli 1933 einige Synodenmehrheiten und Kirchenleitungen erobern konnten.
Der preußische Beschluss veranlasste Martin Niemöller mit weiteren Gegnern der DC zur Gründung des Pfarrernotbundes, dessen Mitglieder den von Dietrich Bonhoeffer angeregten oder formulierten Satz unterschrieben:
„Ich bezeuge, daß eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche Jesu Christi geschaffen ist.“
Zugleich sollten sie die jüdischstämmigen Christen vor Angriffen schützen und materiell unterstützen. Die theologischen Fakultäten von Marburg und Erlangen erstellten Gutachten zur Vereinbarkeit des Arierparagraphen mit der Verfassung der DEK; die Marburger verneinten diese, die Erlanger empfahlen nur zurückhaltende Anwendung. 20 deutsche Neutestamentler erklärten, dass ein kirchlicher Arierparagraph nicht vom Neuen Testament legitimiert sei.
Aus dieser Opposition zu den DC ging 1934 die Bekennende Kirche hervor, die mit deren Positionen auch kirchliche Arierparagraphen als gegen das evangelische Glaubensbekenntnis gerichtete Häresie ablehnte. Den staatlichen Arierparagraph dagegen betrachteten die meisten evangelischen, auch bekennenden, Christen als politisch erlaubt oder sogar erforderlich.[2]
Siehe auch
Literatur
- Ursula Trüper: Das Blut der Väter und Mütter. Otto Hegner und der Arierparagraph. In: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.) ... Macht und Anteil an der Weltherrschaft. Berlin und der deutsche Kolonialismus. Unrast-Verlag, Münster 2005, ISBN 3-89771-024-2
- Heinz Liebing (Hrsg.): Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche: eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934; aus Anlaß des 450-jährigen Bestehens der Philipps-Universität Marburg. 1. Auflage, Elwert, Marburg 1977, ISBN 3-7708-0578-X
Weblinks
- Reiner Zilkenat: Daten und Materialien zur Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung der Juden in Deutschland im Jahre 1933 (PDF, 164 kB; 2004)
Einzelnachweise
- ↑ Herbert Sallen: Zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Konzepte, Methoden und Ergebnisse der empirischen Antisemitismusforschung. Haag und Herchen, Frankfurt/Main 1977, S. 51ff.
- ↑ Joachim Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen, in: Theologische Realenzyklopädie, Band 24, Walther de Gruyter, Berlin/New York 1994, S. 54f