Ihr Gebiet überdeckte sich nur zum Teil mit dem ursprünglichen Siedlungsgebiet der Räter. Seit dem 3. Jahrhundert bildete sich in ihrem nordwestlichen Bereich der germanischeStamm der Alamannen. Im früheren 6. Jahrhundert unterstand sie den Ostgoten; in der Folge entstand unter weiterem Eindringen der Alamannen in ihrem östlichen Bereich der Stamm der Bajuwaren.
Karte des obergermanisch-rätischen Limes Die Nordgrenze und Verteidigungslinie bildete zwischen Castra Batava (Passau) und dem Kastell Eining bei Kelheim der Danuvius (Donau).
Westlich davon wurde sie von dem 166 km langen rätischen Limes markiert, der sich vom Kastell Celleusum (Markt Pförring) in nordwestlicher Richtung nach Gunzenhausen (Altmühl), von dort weiter in südwestlicher Richtung nach Lorch (bei Schwäbisch Gmünd) zog, wo Raetia an Germania Superior grenzte und der Limes sich als obergermanischer nach Norden fortsetzte (→ ORL: Streckenverlauf). Im 3. Jahrhundert wurde er aufgegeben, fortan bildeten Iller und Donau die nordwestliche und nördliche Grenze der Provinz zur Germania Magna, Teil des Donau-Iller-Rhein-Limes.
Die Westgrenze verlief südwärts vom Ausfluss des Untersees des Bodensees über Ad Fines (Pfyn) ins Gebiet zwischen Zürichsee und Walensee zum Oberalppass, wobei das Tal der Linth (Glarus) sicher und dasjenige der Reuss (Uri) inklusive Urseren sowie Hasle wahrscheinlich zu Rätien gehörten.[3] und über den Furkapass (vielleicht) zum Fletschhorn.
Die Grenze zu Noricum verlief nordwärts durchs Zillertal und dann dem Inn (Aenus, Oenus) entlang zur Donau.
Der Verlauf der südlichen Grenze Rätiens im heutigen Tessin und südlichen Graubünden ist in der Forschung umstritten. Die eine Seite legt den Grenzverlauf auf den Alpenhauptkamm, weil die spätere Ausdehnung der Bistümer Mailand, Como und Novara die Zugehörigkeit des ganzen heutigen Kantons Tessin und des Misox sowie des Bergell und des Veltlins zu drei Stadtgemeinden bereits in römischer Zeit wahrscheinlich mache. Die andere Seite rechnet das Gebiet der Lepontier zu Rätien und legt die Grenze südlich einer Linie zwischen Domodossola-Locarno und Bellinzona. [4] Das Bergell und das Veltlin inklusive Valposchiavo und Bormio werden im allgemeinen jedoch eher zu Italien gerechnet. Keine Seite konnte jedoch bis heute entscheidende Argumente oder archäologische Belege beibringen.[5]
Römische Herrschaft
Ursprüngliche Bewohner
Die Namen der Provinz, ihrer späteren Teilprovinzen, ihrer Verwaltungssitze (Raetia, Vindelicia, Augusta Vindelicorum etc.) beziehen sich auf die Volksgruppen der
→Räter und der →Vindeliker,
die römischen Quellen zufolge den größten Teil der Provinz bewohnten oder bis zu ihrer Eroberung durch Rom bewohnt hatten, deren wiederholte Angriffe auf Nachbargebiete auch Anlass für den entscheidenden Feldzug von 15 v. Chr. gewesen sein sollen.
In den Alpen nördlich der Linie Como–Verona[6]
sollen die →Räter gesiedelt haben. Verschiedene Autoren seit der Antike hielten sie für mit den Etruskern verwandt. Neuere linguistische Analysen rätischer und etruskischer Inschriften stützen diese Vermutung; jedenfalls wird das Volk heute als nicht keltisch (oder sogar nicht indogermanisch) angesehen. Römische Autoren beschrieben die Räter als „kriegerisch“, zu Raubzügen gegen Nachbarvölkern neigend – was anderen als übertreibender Vorwand für römische Feldzüge in die Alpen erschien.[7]
Im selben Gebiet sollen aber auch Kelten wie die Venosten (Venostes im heutigen Vinschgau)[8] oder die (indogermanischen, aber nicht keltischen) Veneter gesiedelt haben. Letztere gaben eigentlich Venetien (dem Hinterland Venedigs) den Namen, aber auch der Bodensee wurde zuweilen Lacus Venetus genannt.[9]
Auf seinem Zug über die Alpenpässe 15 v. Chr. traf Drusus auf die Breonen (Breuni),
[10][11][12]
von denen der Brennerpass auf allerdings nicht lückenlos erkennbare Weise seinen Namen bekommen haben könnte. Strabon bezeichnet sie als Illyrer.[6] (indogermanisch, doch nicht-keltisch)
Aus archäologischer Sicht könnten sie aber auch Räter gewesen sein,[13] ohnehin wurden die Räter zeitweilig als keltisch-illyrisches Mischvolk angesehen (im Widerspruch zu neuesten linguistischen Erkenntnissen), tatsächlich kann man auch auf die Behauptung stoßen, die Breonen oder sogar die Venosten seien rätische Volksgruppen gewesen. Man findet also unterschiedliche „Auslegungen“ des Begriffs Räter.[14]
Horaz ordnet die Breonen als Vindeliker ein:[15]
Die →Vindeliker siedelten zumindest im heutigen Vorarlberg und Allgäu und von dort vielleicht bis hin zu Inn und Donau. Sie werden im allgemeinen als Kelten angesehen. Unter Geographie stellt der Artikel über die Vindeliker die Schwierigkeiten dar, aus den Quellen auf die Zusammenhänge bzw. Unterschiede zwischen den aufgeführten Bevölkerungsteilen zu schließen. Als besonders „kriegerisch“ und „raublüstern“ wurden neben den Rätern auch die Vindeliker, die Breonen und andere dargestellt.[6] Eine Liste von 46 im römischen Feldzug des Jahres 15 v. Chr. bezwungenen Alpenvölkern enthielt das Tropaeum Alpium.
Römischer Vorstoß zur Donau seit 25 v. Chr.
Seit 25 v. Chr. wurde die Nordgrenze der früheren Provinz Gallia cisalpina Norditaliens in das rätische Siedlungsgebiet verschoben, etwa ins Veltlin (Addatal) und im Etschtal bis über das heutige Bozen hinaus.[16] Der römische Feldherr Drusus zog 15 v. Chr. mit einem Heer über den Brennerpass sowie flankierend über den Reschenpass in das Gebiet nördlich der
Alpen.[7] Zuvor hatte er oberhalb Trients heftigen Widerstand der Isarken (Eisacktal) zu brechen.[17] Im gleichen Jahr eroberte sein Bruder Tiberius, der spätere Kaiser, das Gebiet weiter westlich und erreichte über das Rheintal den Bodensee, wo sich das Gebiet der Vindeliker befand. Laut Strabon[18] benutzte er eine Insel auf dem See als Basis für den Kampf gegen die Vindeliker.
Caesar hatte bis 51 v. Chr. den Rhein als Grenze des römischen Imperiums etabliert. Zwischen 35 und 28 v. Chr. erweiterten C. Iulius Octavianus und der jüngere M. Licinius Crassus das römische Herrschaftsgebiet auf dem Balkan an der unteren Donau. Im nächsten Jahr 27 wurde der genannte Octavianus zum Augustus. Er fasste den Plan, die Lücke zwischen dem Rhein und der unteren Donau zu schließen und Italien bereits an Rhein und Donau gegen germanische Einfälle zu verteidigen.[19][7][17] Der Feldzug von 15 v. Chr. unterwarf auch das keltische Königreich Noricum östlich Raetias; Drusus und Tiberius eroberten 12 und 9 v. Chr. zuletzt das dem Noricum benachbarte Pannonien. So waren die Römer insgesamt an die Donau gelangt. Dieser größere Zusammenhang blieb über die nächsten Jahrhunderte bestimmend (vgl. Markomannen).
Errichtung und Ausdehnung der Provinz (1./2. Jahrhundert)
Die römischen Provinzen im Alpenraum nach dem Tod des Augustus 14 n. Chr.Die römischen Provinzen im Alpenraum und das römische Strassennetz ca 150 n. Chr.
Unter den Kaisern Tiberius (14–37 n. Chr.) oder Claudius (41–54 n. Chr.) wurden die Gebiete des heutigen Graubünden, Vorarlberg, Südbayern und Oberschwaben zwischen Donau und Inn sowie des nördlichen Tirol zur Provinz (zuerst Militärbezirk) Raetia et Vindelicia zusammengefasst – bald nur noch Raetia
genannt.
Das zunächst ebenfalls zugehörige Wallis wurde um 43 n. Chr. abgetrennt und als Vallis Poenina (oder Alpes Poeninae) eigenständige
Provinz
oder[20] mit Alpes Graiae zusammengelegt.
In den weiteren Jahren wuchs Raetia nordwestlich über die Donau hinaus (vgl. Agri decumates). Seit Domitian (81–96) wurde die Errichtung des rätischen Limes in Angriff genommen, einer baulichen Kennzeichnung und Sicherung der Grenze des von Rom beanspruchten Gebiets, die sich nicht an Gewässern oder vergleichbaren geografischen Merkmalen orientierte. Um 90 n. Chr. wurde der nördlichste Punkt Gunzenhausen erreicht. Als Bauwerk wurde der Limes unter Antoninus Pius (138–161)
vollendet (→ ORL: Baugeschichte).
Damit griff „Raetia“ nicht nur um das Gebiet der Vindeliker und weiter nach Norden über das vermutliche Siedlungsgebiet der Räter hinaus, vielmehr wurde noch deren Siedlungsgebiet südlich des Inntals dem Kerngebiet Italiens zugeschlagen (frühere Gallia cisalpina, römisches Bürgerrecht). So gehörte das Veltlin zur späteren ProvinzGallia transpadana und die heutige Region Trentino-Südtirol zu Venetia et Histria.[21] Diese waren die bereits vor der nordwärtigen Durchschreitung der Alpen 15 v. Chr. erworbenen Gebiete gewesen.
Wohl unter Kaiser Trajan (98–117 n. Chr.) wurde Augusta Vindelicorum (auch Augusta Vindelicum; heute Augsburg) zur HauptstadtRaetias erhoben. Die Provinz wurde von einem Statthalter (Procurator) aus dem Ritterstand verwaltet. In der Regierungszeit des Kaisers Mark Aurel, spätestens kurz vor 180, wurde in Raetia eine Legion (Legio III Italica) stationiert. Der Statthalter (legatus Augusti pro praetore) war damit in den folgenden Jahrzehnten ein Senatorpraetorischen Ranges.
Rückzug, Alamannen (3. Jahrhundert)
Wanderung und Ausbreitung der Alamannen 200–500 n. Chr. Die roten Punkte bezeichnen alamannische Schlachten bzw. Einfälle, vgl. →Alamannen.
Im Verlauf der Reichskrise des 3. Jahrhunderts wurde die über die Donau vorgeschobene Reichsgrenze nach und nach wieder aufgegeben. Einzelheiten werden aus Schriftquellen nicht völlig klar, eine größere Rolle für die Rekonstruktion der damaligen Vorgänge spielen neuere archäologische Befunde (→ ORL: Untergang). Längere Zeit war der römische Rückzug auf einen germanischen Ansturm um 260 bezogen worden; tatsächlich kam es bereits seit 230 immer wieder zu tief ins Reichsgebiet greifenden germanischen, namentlich alamannischen Plünderungen und Zerstörungen. Dem Einsatz römischer Kräfte gegen die Ostgoten und Sassaniden an den östlichen Reichsgrenzen wurde Vorzug gegeben. Die rätische Reichsgrenze wurde zur Donau und Iller zurückgenommen. Die dort neu stationierten Garnisonen (so etwa Guntia/Günzburg oder Konstanz) blieben bis ins 5. Jahrhundert besetzt.
Die Römischen Provinzen und Diözesen im Alpenraum um 395 n. Chr.
Im Zuge der Diokletianischen Reichsreformen des frühen 4. Jahrhunderts wurde Raetia Teil der DiözeseItalia und in die beiden Teilprovinzen Raetia prima (Curiensis) und Raetia secunda (Vindelica) aufgeteilt. Diese wurden nun von einem Dux (Dux Raetiae) befehligt und von Statthaltern niederen Ranges, sogenannten Praesides, verwaltet, die in Curia (Chur) und Augusta Vindelicorum (Augsburg) ihre Amtssitze hatten. Von diesen leiteten sich die späteren deutschen Bezeichnungen „Churrätien“ und „Vindelicien“ ab.
Dieser Auffassung trat Richard Heuberger seit →1931 entgegen. Vielleicht seither wird die Teilungslinie als ungefähr bei Isny beginnend, über den Arlberg und dann ungefähr entlang der heutigen Grenze zwischen der Schweiz und Tirol („Münstertal“ – „Stilfserjoch“) verlaufend angegeben.[22] Man hält sich an die Annahme, Raetia prima habe im wesentlichen das ursprüngliche Siedlungsgebiet der →Räter und Raetia secunda das der →Vindeliker umfasst; diese Siedlungsgebiete sind jedoch ihrerseits nicht klar. Ausschlag gab wohl auch Heubergers These, dass die Teilungslinie mit der späteren Grenze zwischen den BistümernChur und Säben-Brixen zusammenfiel.
Alamannen am Lech, Franken, Ostgoten, Baiern (5./6. Jahrhundert)
Im Verlauf des 5. Jahrhunderts überschritten germanische Stämme zunehmend die nördlichen Grenzen des römischen Reichs; hiervon war auch der transalpine Teil der Raetia (Raetia secunda/Alpenvorland) betroffen. Verschiedene Entwicklungen, zu denen die Quellen schweigen, können hier mit Hilfe der Archäologie nachvollzogen werden.
Die römischen Grenzkastelle an der Donau wurden um die Mitte des 5. Jahrhunderts nach und nach aufgegeben, weniger aufgrund militärischer Schläge, eher weil etwa der ohnehin von germanischen Föderaten versehene Militärdienst mangels Anbindung an Italien zum Erliegen kam (zum Beispiel wegen versiegender Soldzahlungen). Der Vita Sancti Severini zufolge wurden zuletzt gegen 470 die noch romanisch geprägten Militärlager Quintanis (Künzing) und Batavis (Castra Batava, Passau) der Raetia secunda geräumt,[23] in der Tat unter dem Eindruck ständiger Überfälle durch Alamannen; archäologisch wird sie mit Abstrichen bestätigt.[24]
(Die folgenden Angaben werden im Artikel Bajuwaren: Ethnogenese vertieft.)
Ab etwa 500 setzte eine verstärkte Besiedlung durch Alamannen ein, wobei aber zumindest Teile der romanisierten Zivilbevölkerung im Land geblieben sein werden,
da sich eine größere Zahl entsprechender Orts- und Flussnamen erhalten hat. Die Alamannen, die 496 durch die Franken unter Chlodwig I. besiegt wurden, kamen als Flüchtlinge, nicht als Eroberer nach Raetien, das zu jener Zeit den Ostgoten unterstand; deren König Theoderich nahm sie einer Chronik des Magnus Felix Ennodius zufolge im Jahr 506 n. Chr. in sein Reich auf, weil er sich von ihnen eine bessere Grenzsicherung gegen die vorrückenden Franken erhoffte.
Das Siedlungsgebiet der Alamannen dehnte sich spätestens jetzt von der Iller bis über den Lech aus.
Östlich des Lech, davon gehen heute die meisten Historiker und Archäologen aus, entstand aus den verbliebenen keltischen Vindelikern, der römischen Zivilbevölkerung, den eingewandernden Alamannen sowie weiteren Gruppen (elb-)germanischer Stämme wie zum Beispiel den Markomannen ein neuer germanischer Stamm, die Bajuwaren oder Baiern. Im Gegensatz zu älteren Meinungen gibt es offenbar keine Anzeichen für eine Einwanderung eines schon vorher existierenden einheitlichen bajuwarischen Stammes aus dem heutigen Böhmen, da eine weitgehende Kontinuität der Bevölkerung im Alpenvorland auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches gegeben ist.
Diese Entwicklung betraf jedoch über den Inn hinweg auch die (frühere) römische Provinz Noricum.
Die Verbindungen der transalpinen Rätia nach Süden waren aber von nun an, spätestens seit der Zerschlagung des Ostgotenreiches durch den oströmischen Kaiser Justinian I. um 540, nicht mehr politisch bestimmend, und so verlor die römische Kultur und lateinische Sprache nach und nach ihren Einfluss. Jedoch überlebten keltische und römische Begriffe und Ortsnamen im Wortschatz der verbliebenen Mischbevölkerung.
Rund um den Bodensee fanden irische Mönche um Pirminius im 6. Jahrhundert
stark verwilderte
christliche Gemeinden. Es folgten die Neugründungen von Kirchen und Klöstern auf der Reichenau.
Im südlichen, alpinen Bereich der früheren Raetia (insbesondere der Raetia prima) blieb die politische bzw. vor allem kulturelle Verbindung zu Italien noch längere Zeit bestehen, und die lateinische bzw. romanische Sprache und der christliche Glaube überdauerten die Völkerwanderungszeit.
Die Bezeichnung Raetia wurde später nur noch für Gebiete in der Raetia prima verwendet. Daneben erscheint auch die deutsche Bezeichnung Churrätien.
Weitere Zerteilung im Mittelalter
Das Herzogtum Schwaben (rechts oben) und Hochburgund im 10. und 11. Jahrhundert. Rechts unten Churrätien als Teilgebiet.
Das bayerische Stammesherzogtum um 788. Im Westen grenzt es an den Lech. Südwestlich umfasst es einen Teil der früheren Raetia. Östlich des Inn entspricht es fast dem früheren Noricum. Nördlich überragt es die frühere Raetia entlang der Naab.
Neben einer nord-südlichen Auseinanderentwicklung aufgrund des Schwindens der römischen Kontrolle über das Alpenvorland bildet bzw. verfestigt sich in der Folge eine ost-westliche Teilung der früheren Raetia:
Die Alamannen besiedelten nicht nur das Alpenvorland der Raetia secunda bis über den Lech, sondern auch Gebiete um den Bodensee im Bereich der Raetia prima. Im 10. Jahrhundert schloss sich das graubündische Churrätien mit diesen und den in der früheren Raetia secunda und weiter nordwestlich siedelnden Alamannen zum Herzogtum Schwaben zusammen.
Die Bajuwaren prägten nicht nur östlich des Lech die Kultur der Raetia secunda, sondern ergriffen auch nach und nach von der gesamten früheren Raetia südlich dieses Gebiets Besitz (im Sinne des Herzogtums Bayern).
Das Romanische – seine im Bereich der Raetia gebildeten, eigenständigen Formen werden als Rätoromanische Sprachen zusammengefasst – konnte sich nur im Süden der früheren Raetia (Raetia prima) halten. (Rätoromanisch im engeren Sinne ist das Romanische Churrätiens/Graubündens.) Der christliche Glaube (und die lateinische Sprache) wurde von den Bischöfen in Chur und Säben (?) bzw. Brixen gepflegt. Die Raetia secunda zerfiel kulturell-politisch entlang des Lech,[25] aus der Raetia prima bildete sich unter dem Namen →Churrätien, zunächst vertreten durch das Bistum Chur, welches das Inntal nur bis Finstermünz regierte. Von dort ab gehörte die frühere Raetia zum Bistum Säben-Brixen. Um 550 steht die westliche frühere Raetia bis zum Lech und im Süden einschließlich Churrätiens unter fränkischer Hoheit. Die Franken ließen aber das Religionswesen und damit auch Sprache und Kultur Churrätiens bestehen. Östlich des Lech wird das bairische Herzogtum erstmals 555 bezeugt, erst unter Karl dem Großen gerät auch dieses und damit der ganze Ostteil der früheren Raetia ebenfalls unter fränkische Hoheit (788).
Die bis heute bestehende Grenzziehung bei Finstermünz durchs Inntal verfestigt sich mit dem Aufstieg der Grafschaft Tirol seit dem 12. Jahrhundert im Osten und mit dem Bündnis der Bevölkerung des Bistums Chur im Westen gegen das Bestreben des Bischofs, sein Gebiet den Habsburgern zu übereignen (Gotteshausbund 1367). Dieses Bündnis folgte dem Vorbild der Eidgenossenschaften der westlichen Nachbarschaft und führte letztlich zur Eingliederung der Landschaft in die heutige Schweiz. Die Grafschaft Tirol hingegen fiel im 14. Jahrhundert dauerhaft an die Habsburger; hierauf beruht es, dass sich der östliche Teil der alpinen Raetia heute auf Österreich und Italien verteilt.
Rätien vom 18. Jahrhundert bis heute
Der geographische Begriff „Rätien“ wurde im ganzen Mittelalter und vermehrt wieder im 18. und 19. Jahrhundert für den Freistaat der drei Bünde verwendet. Als am 21. April 1799 der Freistaat der drei Bünde als neuer Kanton in die Helvetische Republik aufgenommen wurde, erhielt dieser vorerst die Bezeichnung Rätien, später Graubünden. Bis heute wird das Adjektiv „rhätisch“ bzw. „rätisch“ alternativ für „graubündnerisch“ bzw. „-bündner“ verwendet – etwa für die Rhätische Bahn oder die Rätoromanen.
Rudolf Degen: Die raetischen Provinzen des römischen Imperiums. In: Historisch-antiquarische Gesellschaft von Graubünden (Hrsg.): Beiträge zur Raetia Romana. Voraussetzungen und Folgen der Eingliederung Rätiens ins römische Reich. Terra Grischuna, Chur 1987, ISBN 3-908133-37-8, S. 1–43.
Richard Heuberger: Rätien im Altertum und Frühmittelalter. Forschungen und Darstellungen. Band I. Wagner, Innsbruck 1932. (Schlern-Schriften Bd. 20; Neudrucke Scientia, Aalen 1971 und 1981)
Andreas Kakoschke: Die Personennamen in der römischen Provinz Rätien. Olms, Hildesheim 2009. (Alpha-Omega, Reihe A; 252)
Gerhard Rasch: Antike geographische Namen nördlich der Alpen. de Gruyter, Berlin 2005. ISBN 3-11-017832-X (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Ergänzungsbände 47; ursprünglich schon 1950 erschienen als Heidelberger Dissertation, mit erschöpfenden Angaben zu den Quellen).
Felix Staehlin: Die Schweiz in Römischer Zeit. Dritte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Schwabe, Basel 1948.
Gerhard H. Waldburg: Raeti, Raetia. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 10, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01480-0, Sp. 749–754.
Gerold Walser: Die römischen Straßen und Meilensteine in Raetien. Württembergisches Landesmuseum, Stuttgart 1983. (Kleine Schriften zur Kenntnis der römischen Besetzungsgeschichte Südwestdeutschlands Nr. 29)
Weblinks
Commons: Raetia – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Gallien, Britannien, Donauprovinzen (www.maproom.org) Raetia ist die linke der grün umrandeten Donauprovinzen rechts unterhalb der Bildmitte. Zum Einzoomen mehrmals darauf klicken, Rückkehr zur Gesamtansicht mit Aktualisieren (F5); oder die Navigationssymbole am unteren Rand anklicken. Es handelt sich um Karte 11 aus: Heinrich Kiepert: Atlas antiquus. 5. neubearb. u. verm. Aufl. Reimer, Berlin 1869.
Peter Lieckfeld, Bayern: Rätien soll leben! (Spiegel Online, 30. März 2005: So könnte der Bericht eines Legaten an Kaiser Claudius II. gelautet haben. Erstmals erschienen im „Merian extra“-Heft Deutschland, Dez. 2004)
↑Handbuch der Schweizer Geschichte Bd. 1. Zürich 1972, S. 68. Vgl. auch die ausführliche, wenn auch ältere Diskussion in: Richard Heuberger:Die Westgrenze Rätiens, in: Praehistorische Zeitschrift XXXIV, Bd. V, 1949/50, S. 47–57. PDF 4,25 MB
↑Sie argumentieren mit einer Stelle bei Ammian 15, 4, 1 «imperator...in Raetias camposque venit Caninos», wobei gemäss Sidonius Apollinaris, carm. 5, 373ff. und Gregor von Tours, hist. Franc. 10,3 die Campi Canini ein Gebiet südlich der Alpen um Bellinzona waren. Auch nennt Plinius n. h. 3, 133f. die Lepontier nicht bei der Aufzählung der Völker, die einer italischen Stadtgemeinde zugeteilt waren. Staehlin, Die Römer in der Schweiz, S. 111. Stählin verweist insbesondere auf die Arbeiten Heubergers und Oechslis (Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich (MAGZ), 26, 1 [1903] 69.)
↑Handbuch der Schweizer Geschichte Bd. 1, S. 68. Für den vollständigen Literaturüberblick siehe hier.
↑Die unterschiedlichen Bedeutungen, die die Ausdrücke Rhaitoi, Raeti, Rhaeti in antiken Quellen annehmen, analysiert Richard Heuberger: Die Räter in der Zeitschrift des Deutschen Alpenvereins, Bruckmann, München 1939, S. 186–193. (PDF, 5,89 MB)
↑Richard Heuberger: Tirol in der Römerzeit. In: Hermann Wopfner und Franz Huter (Hrsg.): Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde, XX. Band, Tyrolia-Verlag, Innsbruck und Wien 1956, S. 133–138. PDF (1,38 MB)
↑So zuletzt in Sp. 753 von: Gerhard H. Waldburg: Raeti, Raetia. In: Der Neue Pauly (DNP). Band 10, Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01480-0, Sp. 749–754. DNP verweist auf Thomas Fischer: Spätzeit und Ende, in: Wolfgang Czycz, Karlheinz Dietz, Thomas Fischer, Hans-Jörg Kellner: Die Römer in Bayern, Theiss, Stuttgart 1995, S. 358–404, wo dieselbe Grenze allerdings ohne ersichtlichen Nachweis angegeben ist. Kritisch zum selben angeblichen Grenzverlauf Rudolf Degen: Die raetischen Provinzen, S. 31.
↑Konkret S. 409 von (zum Absatz): Thomas Fischer: Spätzeit und Ende bzw. Von den Römern zu den Bajuwaren. Das Alpenvorland im 5. Jahrhundert. In: Wolfgang Czycz, Karlheinz Dietz, Thomas Fischer, Hans-Jörg Kellner: Die Römer in Bayern. Theiss, Stuttgart 1995, S. 358–404 bzw. 405–411.
↑P. Fried nimmt an, dass der Lech um 550 trotz weiterer Ausbreitung der Alamannen nach Osten als Grenze zwischen dem fränkisch-allamannischen und dem bairischen Herzogtum festgelegt wurde.
↑Um eine korrekte Ansetzung der Orte bemüht sich: Gerhard Rasch: Antike geographische Namen nördlich der Alpen. de Gruyter, Berlin 2005. ISBN 3-11-017832-X (Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Ergänzungsbände 47).