Ideologie
Der Begriff Ideologie (griechisch ιδεολογία - die Ideenlehre) wurde im Verlauf seiner Begriffsgeschichte auf vielfältige Weise bestimmt, so dass eine allgemein gültige Definition schwer angegeben werden kann. Zumeist wird mit dem Wort Ideologie ein System von Meinungen und Wertvorstellungen bzw. Denkweisen über den Menschen und die Gesellschaft beschrieben.
Der Begriff Ideologie wird auch als Synonym für ein fixiertes Weltbild gebraucht, das auf einer bestimmten (z.B. konservativen, sozialen, liberalen, ökologischen) Grundidee beruht, die in den Augen ihrer Vertreterinnen und Vertreter einen Idealzustand beschreibt.
Begriffsgeschichte
Der Begriff Ideologie entstand im Zuge der Aufklärung, deren Ziel es war, sich von Aberglauben, Irrtümern und Vorurteilen zu befreien, die den mittelalterlichen Machthabern zur Legitimation ihrer Herrschaft dienten.
Der Begriff Ideologie wurde 1796 von dem französischen Philosophen Destutt de Tracy geprägt. Die Schule der Ideologen verstand sich als Gegenströmung zum Rationalismus von René Descartes. Die Ideologen versuchten den Ursprung von Ideen als biologischen Prozess zu erklären, der ihrer Ansicht nach nicht ohne sinnliche Erfahrungen auskäme. Die französischen Ideologen standen in der Tradition der Aufklärung und waren demokratisch orientiert. Unter Napoleon verloren die Ideologen an Einfluss in der französischen Geisteswelt.
Mitte des 19. Jahrhunderts griffen Marx und Engels den von der Propaganda Napoleons stigmatisierten Begriff wieder auf und suchten, die bürgerliche Wirtschaftswissenschaft und Philosophie als Ideologie zu bewerten und den Marxismus als wissenschaftliche Analysemethode dagegen zu setzen. Dem Marxismus zufolge manifestiert sich die Ideologie in Gestalt von Philosophie, Religion und Recht. Ideologie wird hier nicht als bewusste Verführung, sondern als ein "notwendig falsches Bewusstsein" konzipiert, das sowohl den Beherrschten wie den Herrschenden zueigen sei. Bestandteile der kapitalistischen Ideologie seien der Lohn-, Geld-, und Warenfetisch sowie die Verdinglichung. Zusammen bedingten sie eine Verschleierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Denken über die eigentlichen Probleme der Gesellschaft werde behindert und so das bestehende Wirtschafts- und Herrschaftssystem gestützt. Veränderung beginnt demnach mit Ideologiekritik. Lenin und Stalin benutzten den Marxismus als Ideologie, um die Herrschaft der Bolschewisten zu rechtfertigen, gleichzeitig wurde der Marxismus von Kritikern wie Pannekoek dazu benützt, um eben diese Herrschaft zu kritisieren.
Im Anschluss haben Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Vilfredo Pareto (dieser als "Derivation"), Ferdinand Tönnies, Karl Mannheim, Ernst Topitsch, Karl Popper, Hans Albert, Bertrand Russell den Themenkomplex behandelt.
Theodor W. Adorno differenziert im 20. Jahrhundert zwischen der Gesamtideologie eines Individuums und seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens wie Politik, Wirtschaft oder Religion. Demnach sind die Ideologien verschiedener Epochen Ergebnis historischer Prozesse. Die Anhängerinnen und Anhänger geschlossener Ideologien sind dem zufolge eine kleine Minderheit, da zumeist unterschiedliche ideologische Systeme absorbiert und zu einem Denkmuster verwoben werden.
Beispiele
Beispiele für Ideologien sind:
- das Gottesgnadentum zur Rechtfertigung der Herrschaft des Monarchen im Absolutismus
- der Liberalismus zur Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems
- der Historische Materialismus zur Rechtfertigung des Kommunismus
- der Antisemitismus sowie die Rassentheorien des Nationalsozialismus zur Rechtfertigung des Holocaust
- der religiöse Fundamentalismus zur Durchsetzung von Gottesstaaten
- der Neoliberalismus zur Minimierung staatlicher Regulierungen des Wirtschaftsgeschehens
Ideologie und Wissenschaft
Die Abgrenzung von der Ideologie wurde zu einem konstitutiven Bestandteil der im Zuge der Aufklärung entstandenen neuen Wissenschaften, die sich im Gegensatz zur Ideologie und zum Glauben als wertfrei, neutral und objektiv setzten. Von manchen Wissenschaftstheoretikern (u.a. Bruno Latour) wird diese Entgegensetzung von Ideologie und Wissenschaft als moderner Machtmechanismus und Verschleierungstechnik der Aufklärung gesehen.
Ideologiekritik
Als früher Kritiker an Ideologien gilt Francis Bacon ((1561 - 1626)), der in seiner Idolenlehre die Reinigung des Denkens von Idolen (Trugbildern) als Voraussetzung von Wissenschaft sieht. Quellen dieser Trugbilder können Tradition, Sprache, Herkunft und Sozialisation sein. Die französischen Materialisten, u.a. Paul Heinrich Dietrich von Holbach und Claude Adrien Helvétius, kritisierten insbesondere die Religion und bezeichneten deren - im Interesse der Machterhaltung verbreiteten - Behauptungen als Priestertrug.
Ideologiekritik beginnt mit der wissenschaftlichen Analyse der Theorie, die einer Ideologie zugrundeliegt. Jede Theorie ist vorläufig, muss sich der Überprüfung stellen, und aufgegeben werden, wenn sie widerlegt wird. Eine falsche oder nicht falsifizierbare Theorie allein ist allerdings noch keine Ideologie. Dazu wird sie erst, wenn sie bewusst zur Verfolgung der eigenen Ziele verbreitet wird. Die zweite Komponente der Ideologiekritik wäre also die Offenlegung dieser Ziele.
Kritikerinnen und Kritiker von Ideologien verbinden mit ihnen Einseitigkeit, Intoleranz, Manipulation und Herrschaft über andere Menschen. Diese Sichtweise geht davon aus, dass eine Ideologie grundsätzlich Bezug auf das Zusammenleben von Menschen nimmt und daher schon im Ansatz die mögliche Tendenz in sich trägt, anderen eine bestimmte Sichtweise aufzudrängen.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die meisten Ideologien (bzw. deren Anhänger) Grundideen als gegeben voraussetzen, mit denen die Hauptidee begründet wird. Viele Anhänger betrachten bereits ein Hinterfragen dieser Grundlagen als impliziten Angriff auf "ihre" Ideologie. Manche Anhängerinnen und Anhänger von Ideologien neigen dazu, die Freiräume der Mitmenschen dem eigenen Idealbild unter zu ordnen und durch Dogmatisierung die Individualität der Gemeinschaftsmitglieder zu verletzen.
Der Vorwurf einer durch Ideologie bestimmten Argumentation ist häufig im politischen Diskurs anzutreffen. Damit soll ausgedrückt werden, dass ein Standpunkt deswegen als nicht stichhaltig angesehen wird, weil er auf einer Ideologie basiere. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ist die Skepsis gegenüber umfassenden und mit Heilsversprechungen durchsetzten Theoriengebäuden gewachsen, insbesondere wenn sie mit Handlungsaufforderungen verbunden sind. Unausgesprochene Ideologeme (einzelne Elemente einer Ideologie) beherrschen deshalb oft die Debatte, ohne dass dies in den Diskursen immer zu Bewusstsein käme.
siehe auch
Literatur
- Gerhard Hauck: Einführung in die Ideologiekritik : Bürgerliches Bewusstsein in Klassik, Moderne und Postmoderne, Argument Verlag, ISBN 3886192091
- Hans Kelsen: Aufsätze zur Ideologiekritik (mit einer Einl. hrsg. von Ernst Topitsch), Neuwied 1964
- Kurt Lenk (Hg.): Ideologie - Ideologiekritik und Wissenschaftssoziologie ISBN 3593334283
- Karl Marx, Friedrich Engels: in Marx-Engels-Jahrbuch 2003. Die Deutsche Ideologie ISBN 3050038373
- Karl Popper: Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde ISBN 3161459512 (Band1) ISBN 3825217256 (Band 2)
- Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik, Wien 1958, 2. Aufl. München 1972 (DTV).
- Ernst Topitsch: Gottwerdung und Revolution, München 1973
- Ernst Topitsch: Erkenntnis und Illusion, Hamburg 1979, 2. erw. Aufl. Tübingen 1988
- Ernst Topitsch: Heil und Zeit. Ein Kapitel zur Weltanschauungsanalyse, Tübingen 1990