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Religiöser Sozialismus

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Die Bewegung des Religiösen Sozialismus entstand mit der erstarkenden Arbeiterbewegung in Mitteleuropa seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Besonders seit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs gewann auch unter Christen und Juden die Überzeugung an Boden, dass dauerhafter Frieden entsprechend dem Gebot der Nächstenliebe nur verwirklicht werden könne, wenn das auf Egoismus, Konkurrenz und Ausbeutung gegründete kapitalistische System überwunden werde. Sie wollten vor allem die nationalistische, militaristische und demokratiefeindliche Mehrheit in den Kirchen verändern.

Der Begriff

Die Verbindung von "Religion" und "Sozialismus" hat seit dem Aufkommen dieser Bewegung zu vielen Missverständnissen geführt. Gemeint war jedoch von Anfang an die bewusste Entscheidung von Menschen aus unterschiedlichen Religionen - in Europa: vor allem von Christen , aber auch Juden - für das politische Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Aus dem Glauben an eine transzendente Realität, das kommende "Reich Gottes", heraus nehmen sie am diesseitigen Kampf für eine Gesellschaft teil, die die freie Entfaltung Aller zur Bedingung für die Freiheit des Einzelnen macht.

Nicht gemeint war damit

  • eine besondere Art von Sozialismus
  • eine religiöse Deutung real existierender Formen des Sozialismus
  • eine Gleichsetzung des Glaubensziels mit dem politischen Ziel, also die Identifizierung von "Reich Gottes" und sozialistischer Zukunftsgesellschaft
  • die Herbeiführung dieses Gottesreichs durch menschliches Tun.

Der Begriff der "Religion" wurde gewählt, um die Mitgliedschaft in der religiös-sozialen Bewegung nicht von einer bestimmten Glaubensrichtung abhängig zu machen. Katholiken, Protestanten und Juden sollten hier neben- und miteinander Aufnahme finden. Nicht gemient war damit wiederum eine allgemeine, unspezifische Religiösität, sondern der Bezug zu den konkreten sozialkritischen und revolutionären Traditionen innerhalb der jeweils eigenen Religion. Damit grenzen religiöse Sozialisten sich auch gegen einen so genannten "christlichen" Sozialismus ab, wie ihn zum Beispiel die CDU in ihrem ersten Nachkriegsprogramm von 1947 vertrat.

So heißt es im heutigen Programm des deutschen Bundes der religiösen Sozialisten:

"Die Verwirklichung des Liebesgebotes und die Befreiung des Menschen durch Jesus lässt uns nach sozialistischen Konzeptionen suchen, in denen die gegenseitige geschwisterliche Hilfe und die Möglichkeit und die Selbstentfaltung des einzelnen Menschen - als Bedingung der Selbstentfaltung aller - Leitlinien sind."

Wurzeln

Die Verbindung von Judentum und Christentum mit einem Sozialismus geht auf die Anfänge beider Religionen zurück. Die Israeliten sahen den Boden des "gelobten Landes" als Geschenk Gottes, des Sklavenbefreiers, das man eigentlich nicht besitzen und verkaufen könne. Daraus leiteten sie eine regelmäßige gerechte Umverteilung der "gepachteten" Erbgüter ab (3. Buch Mose 25). Nachdem Israel und Juda um 1000 v. Chr. Monarchien geworden waren, erinnerten immer wieder Propheten an dieses Recht der Besitzlosen (z.B. 1. Könige 21; Amos 2). Da auch Jesus von Nazareth sich genau auf das vergessene "Gnadenjahr" der Landreform und Entschuldung berief und sie anfing umzusetzen (Lukas 4, 18-20), übten die Urchristen eine Art kommunistische Gütergemeinschaft und Besitzverteilung (Apg. 2, 44f), die sie als Nachfolge Jesu zu Gunsten der Armen verstanden.

Solche und andere Traditionen in der Bibel entdeckte die historische Bibelforschung erst seit etwa 1890 wieder: etwa durch Arbeiten des Alttestamentlers Albrecht Alt oder des Neutestamentlers Albert Schweitzer. Dazu gehörte

Mittelalter: Armuts- und Ketzerbewegungen

Nachdem die Kirche zur alleinherrschenden Staatsreligion geworden war, gab es daher im Mittelalter immer wieder Anläufe zu Kirchenreformen, die zugleich eine Gesellschaftsveränderung zu Gunsten der Besitz- und Rechtlosen anstrebten und sich dabei auf biblische Tradition bezogen.

Pietismus und Marxismus

Doch erst im 19. Jahrhundert wuchs mit der Arbeiterbewegung eine neue soziale Kraft heran, die diese Gesellschaftsveränderung ihrerseits aktiv verfolgte. Sie wandte sich dabei aber weitgehend von Christentum und Kirche ab, da sie diese mit den herrschenden Klassen verbunden sah, und versuchte ihre Ziele zunehmend wissenschaftlich und rational zu begründen. Eine erste Reaktion darauf war der Pietismus, der neben der persönlichen Glaubensentscheidung des Einzelnen auch die soziale Verantwortung der Gemeinschaft betonte und die Diakonie begründete. Manche Christen gingen weiter: Schon Wilhelm Weitling vertrat um 1848 einen utopischen Sozialismus aus christlichen Motiven, gegen den sich dann besonders Karl Marx abgrenzte. Dennoch konnten Christen auch Elemente der Marxschen Religionskritik und Gesellschaftsanalyse aufgreifen und als Anstoß zu stärkerem Engagement in Teile des christlich geprägten Bürgertums hineintragen.

Mit den sich verschärfenden sozialen Gegensätzen wuchs das Industrieproletariat in vielen europäischen Staaten. Nun begannen auch einige jüdische und christliche Theologen, sich mit der "sozialen Frage" auseinander zu setzen, und begründeten einen Sozialismus aus der Bibel heraus.

Hauptvertreter im 20. Jahrhundert

Nun lehrten einige deutschsprachige evangelische Theologen den Sozialismus als Folge oder Verwirklichung des Christentums. Als erster Vertreter und Gründer der religiös-sozialen Bewegung gilt gemeinhin Christoph Blumhardt, ein wortgewaltiger evangelischer Pfarrer in Württemberg aus der dortigen Tradition des Pietismus. Er sah die sozialistische Bewegung als Zeichen für die Nähe des Reiches Gottes und trat nach öffentlicher Anfeindung bewusst in die SPD ein. Er beeinflusste die Schweizer Theologen Leonhard Ragaz und Hermann Kutter, die einen teils eher politisch, teils eher christlich geprägten Sozialismus vertraten.

Prominentester Schüler aller drei Vorbilder wurde der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth: Er brach mit seinen deutschen Lehrern, nachdem diese im August 1914 mit großer Mehrheit für den Krieg eingetreten waren, wurde 1917 Sozialdemokrat und begrüßte die Versuche Lenins, mit den "Zimmerwalder Konferenzen" eine neue Antikriegs-Internationale zu gründen. 1919 löste er mit seinem berühmten Kommentar zum Römerbrief eine theologische "Revolution" aus: Dabei trennte er Theologie und politische Ideologie streng voneinander, um gerade so ein neues positives Verhältnis von Kirche und Arbeiterbewegung anzubahnen. Eine anderen theologischen Ansatz vertrat Paul Tillich, der im Sozialismus eine zeitgeschichtliche Gestalt des "Kairos", der innergeschichtlichen Offenbarung Gottes fand.

Der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands

Erste Gruppen verschiedener Christen und Juden mit ähnlichen politischen Zielen entstanden Ende 1919 in Berlin, Anfang 1920 in Köln und bald in vielen anderen Städten. Sie schlossen sich seit 1926 im Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD) zusammen. Diesem Bund gehörten bis 1933 über 20.000 Mitglieder an, darunter eigene Untergruppen katholischer und jüdischer Sozialistinnen und Sozialisten. Von Anfang an warnten die Mitglieder des BRSD immer wieder vor der Gefahr durch Nationalismus und Antisemitismus.

Daher gehörten sie schon im Frühjahr 1933 zu den ersten von den Nazis Verfolgten. Als erste Pfarrer wurden die Religiösen Sozialisten Kleinschmidt und Francke verhaftet. Paul Tillich verlor als erster nichtjüdischer Professor seinen Lehrstuhl in Frankfurt und emigrierte in die USA. Unter diesen Bedingungen konnte der BRSD zur Zeit des Nationalsozialismus nicht offen weiterarbeiten, viele seiner Mitglieder schlossen sich unterschiedlichen Widerstandsgruppen an.

Nicht alle Christen, die Sozialismus anstrebten, waren zugleich im BRSD organisiert, bejahten und unterstützten aber dessen Ziele. Dazu gehörte auch Karl Barth, der in der SPD blieb und seit 1933 maßgeblich den Kampf der Bekennenden Kirche unterstützte. Doch auch er musste nach seinem verweigerten Beamteneid auf Adolf Hitler Deutschland verlassen und emigirierte 1937 in die Schweiz, von wo aus er weiter in das deutsche Geschehen einzugreifen versuchte. Noch vor dem Kriegsende trat er 1945 in das "Nationalkomitee Freies Deutschland" ein, in dem von den Nazis verfolgte Sozialisten, Kommunisten und Antifaschisten gemeinsam eine freie und soziale Verfassung für ganz Deutschland konzipierten.

Nach 1945 wurde der BRSD in den Westzonen neu gegründet. Doch im Kalten Krieg gelang es ihm nie, zur früheren Stärke zu finden: Religiöse Sozialisten blieben zwischen dem Antikommunismus des Westens und dem Stalinismus des Ostens eine verschwindende Minderheit. Erst durch die Studentenbewegung bekam der BRSD seit 1970 neuen Zulauf und wuchs auf einige Hundert Mitglieder. Ende der 1980er Jahre gingen diese teilweise altersbedingt zurück; doch gelang es dem BRSD in den letzten Jahren, diesen Trend aufzuhalten und neue Mitglieder zu gewinnen. Dazu gehören heute parteigebundene oder parteilose Linke, die sich in keiner Linkspartei mehr aufgehoben fühlen. Der BRSD ist seinerseits Mitglied im Internationalen Bund Religiöser SozialistInnen (ILRS), in der Initiative Kirche von unten (IKvu) und im Attac-Netzwerk.

Internationale religiös-soziale Ansätze

Die Basis der religiös-sozialen Bewegung ist jedoch weitaus größer, als ihre Organisationsversuche in Deutschland vermuten lassen:

  • In Nordamerika vertreten viele der traditionellen Freikirchen, besonders die Quäker, Methodisten, Mennoniten und manche Baptisten der USA, nicht nur liberale, sondern auch antikapitalistische und sozialistische Ideen.
  • Katholische Ordensgemeinschaften wie die Franziskaner und ihre internationalen Missionsgesellschaften bauen seit langem religiös-soziale Selbsthilfe-Projekte auf.
  • In den 60er und 70er Jahren sind vor allem in Südafrika, Asien und Lateinamerika zahlreiche so genannte Basisgemeinden entstanden, die die Selbstorganisation der Armen mit einer sozialistischen Landreform und Umgestaltung der Gesellschaftsordnungen ihrer Länder verknüpfen.
  • Daraus ging die so genannte "Theologie der Befreiung" hervor, die ähnlich wie die frühen religiösen Sozialisten Evangelisierung und Sozialisierung miteinander verbindet. Diese hat auf die Kapitalismus-Kritik des Vatikans und der katholischen Soziallehre zurückgewirkt.
  • In der Ökumenischen Bewegung findet ein reger Austausch zwischen den reicheren Kirchen der Industriestaaten und der riesigen Mehrheit armer Christengemeinden der "Zwei-Drittel-Welt" statt, die auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung hin drängen.
  • Auch in Europa und Nordamerika wirken zahlreiche religiös-soziale Nichtregierungsorganisationen in dieser Richtung. Sie verfolgen selten ein einheitliches sozialistisches Programm, bereiten aber oft politische Veränderungen vor und begleiten diese.

Bekannte religiöse Sozialisten und sozialistische Theologen

Literatur

  • Ulrich Peter: Der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD). Versuch einer Geschichte im Überblick. In: Christ und Sozialist / Christin und Sozialistin. 1-2/2001. S. 6-23, ISSN 0945-828-X (auch online)
  • Ulrich Peter: Der Bund der religiösen Sozialisten in Berlin von 1919 bis 1933. Peter Lang Verlag, Frankfurt/M. 1995, ISBN 3-631-48604-9, ISSN 0721-3409 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23, Bd. 532)
  • Ulrich Peter: Christuskreuz und Rote Fahne. Der Bund der religiösen Sozialisten in Westfalen und Lippe während der Weimarer Republik, Luther-Verlag, Bielefeld 2002, ISBN 3-7858-0445-8 (Beiträge zur westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 24)
  • Arnold Pfeiffer: Religiöse Sozialisten. Frankfurt/M. 1976