Chasaren
Die Chasaren waren ein nomadisches (später halbnomadisches) Turkvolk. Im 6. Jahrhundert ließ sich ein Teil im heutigen Dagestan (bei Derbent im östlichen Kaukasus) als Vasallen anderer westtürkischer Stämme nieder. Im 9. Jahrhundert erstreckte sich das Chasarische Khaganat über die gesamte südrussische Steppe zwischen Wolga und Dnjepr bis an den Kaukasus (das heutige Georgien und Armenien). Über Jahrhunderte kontrollierten die Chasaren vor der Jahrtausendwende den Handel mit Gewürzen, Textilien und Sklaven auf Teilen der Seidenstraße und auf den Handelswegen zwischen Byzanz und dem Baltikum. Weit reichende Handelsbeziehungen unterhielten sie zudem nach Westen bis ins Kalifat von Cordoba.
Geschichte
Das Chasarenreich bestand von 568 bis 1016, war in der Anfangsperiode (568-650) allerdings kaum von anderen westtürkischen Stämmen (Sabiren, Awaren, Hunno-Bulgaren etc.) zu trennen, beziehungsweise war es ein Vasall der Kök-Türken. Im Zuge ihrer Eroberungen unterwarfen die Chasaren weite Teile der einstigen Altyn Oba Horde und deren Bewohner gingen schließlich in ihnen auf. Spätestens mit der Ablösung der Kök-Türkenherrschaft 766 wurden sie jedoch zu einer unabhängigen Größe, in dauerndem Kampf mit den benachbarten Großmächten, dem islamischen Iran einerseits und dem christlichen Byzanz andererseits.
Zu Byzanz standen die Chasaren aber auch in engem kulturellen und politischen Austausch. Die Einsetzung des Armeneniers Philippikos Bardanes zum Kaiser (711-713) durch die Chersonflotte war nur durrch chasarische Untertützung möglich.
Eine wichtige Quelle zu den Chasaren ist der Bericht Ibn Fadlans von einer 921/922 durchgeführten arabischen Gesandschaftsreise in das Chasarenreich.
Eine Besonderheit in der Geschichte der Chasaren stellt die Tatsache dar, dass im Chasarischen Reich etwa zweihundert Jahre lang, vom Beginn der Herrschaft von Khagan Obadja (Anfang 9. Jahrhundert) bis zum Bündnis mit Chorezm in den 970er Jahren, das Judentum Staatsreligion war. Faktisch bedeutet das zumindest, dass ein Großteil der Oberschicht zum Judentum übergetreten ist, während die den verschiedensten Völkern zugehörigen Einwohner auch teils heidnisch, teils christlich, teils muslimisch geblieben waren. Aus dieser Zeit existiert ein berühmter Briefwechsel zwischen dem andalusischen Juden Chasdai Ibn Schafrut, einem Hofbeamten des Kalifen Abd al-Rahman III. al-Nasir, und dem chasarischen Khagan Joseph.
Im 10. Jahrhundert wurden die chasarischen Händler und die wikingischen (warägischen) Händler zunehmend zu ernsthaften Konkurrenten auf den Handelswegen der Wolga. Die ständigen Konflikte verschärften sich nach der russischen Staatsbildung durch die Wikinger. 969 erfolgt nach Kriegen mit den Rus unter ihrem Fürsten Swjatoslaw und der Zerstörung der chasarischen Festung Sarkel und der chasarischen Hauptstadt Itil die Unterwerfung des Chasarenreichs unter die Kiewer Rus. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatte es wiederholt Angriffe der Rus und der Petschenegen gegeben. Trotz der vernichtenden Niederlage gegen die Wikinger bestand das Chasarenreich als Kümmerform unter der Oberhoheit der Kiewer Rus noch einige Zeit als nominell jüdisches Staatsgebilde fort.
Höchst wahrscheinlich sind manche der Juden Osteuropas, wie z.B. die turksprachigen Krimtschaken oder die Karäer, Nachfahren der alten Chasaren. Ob die osteuropäischen aschkenasischen (also Jiddisch-sprachigen) Juden mehrheitlich von den Chasaren abstammen wird unter Historikern kontrovers diskutiert. Sebastian Haffner etwa vertrat in den 1978 erstmals erschienen "Anmerkungen zu Hitler" diese Ansicht und bezeichnete es als Treppenwitz der Geschichte, dass der Antisemit Hitler ausgerechnet Menschen verfolgte, die von einem Turkvolk abstammen.
Brisanz des Themenkreises Chasaren, Juden und Israel
Nicht nur rechtsgerichtete deutschsprachige Autoren haben das Chasarenargument aufgegriffen. Auch US-amerikanische Christian Identity-Sekten nennen Juden fast durchwegs „Khasaren“.
Der Kulturanthropologe und Theologe Prof. Thomas Schirrmacher (vgl. Textverweis unten) weist auf die Problematik zwischen dem geschichtswissenschaftlichen Forschungsgegenstand und dem feindseligen Gebrauch der objektiv gegebenem Forschungsergebnisse durch die neuen Rechten hin: "Die Frage nach dem mittelalterlichen Reich der Khasaren im heutigen Russland, der Ukraine und im Nordkaukasus ist von der Forschung zu sehr vernachlässigt worden und die Existenz und der Verbleib dieses jüdischen Reiches bleibt Aufgabe der historischen Forschung. Man kann ja die historische Forschung und Wahrheit nicht verbieten, nur weil Rechtsradikale sie dann – völlig aus dem Zusammenhang gerissen – missbrauchen. Man sollte lieber deutlich machen, dass die rechtsradikale Verwendung der Khasarenthese ein radikaler Bruch mit dem Nationalsozialismus darstellt."
Professor Schirrmacher weist wie andere Spezialisten auch auf folgenden Sachverhalt hin: Die antijüdische Argumentation von Autoren wie Erwin Soratori in „Attilas Enkel auf Davids Thron: Chasaren, Ostjuden, Israeliten“ beruhe darauf, dass - so Soratori -, "die Juden "keine biologische Rasse sein können" weil sie "keine einheitlichen Rassenmerkmale aufweisen".
Und genau hier, argumentiert Schirrmacher, habe ausgerechnet der Judenfeind Soratori den Nationalsozialismus am Nerv getroffen, weil er aufzeige, dass bereits die Prämisse Hitlers ein reiner Wahn gewesen sei.
Kuriosa
Die chasarische Hauptstadt Itil (Astrachan) und die Entwässerung des Flusses Wolga sowie weitere geografische Besonderheiten des Chasaren-Khanats entsprechen weitgehend dem Kartenwerk, das Tolkien seiner Trilogie "Herr der Ringe" im Anhang beigelegt hat. Auch dort ist von Ithillien als permanent umkämpftem Territorium die Rede. Offensichtlich übten auf den Geschichtskenner Tolkien die jahrhunderte währenden Kämpfe der europäischen Völker mit den Westhunnen und ihren Nachfolgevölkern eine große Faszination aus, die er literarisch verfremdet verarbeitete.
Literatur
- S. A. Pletnjowa: Die Chasaren. Mittelalterliches Reich an Don und Wolga. Wien-Leipzig, Anton Schroll/Koehler und Amelang VEB 1979.
- Arthur Koestler: Der dreizehnte Stamm. Das Reich der Khasaren und sein Erbe. Übersetzung aus dem Englischen von J. Eidlitz. Wien: Molden 1977.
- Hugo Freiherr von Kutschera: Die Chasaren, Wien, 1910
- Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, 1981, ISBN 3596234891
- The Jews of Khazaria, Kevin Alan Brook
- Alfred H. Posselt: Geschichte des chazarisch-jüdischen Staates. Wien, Verlag des Vereines zur Förderung und Pflege des Reformjudentums, 1982.
- Milorad Pavic: "Das chasarische Wörterbuch"; Carl Hanser Verlag; München Wien (1988) [historischer Roman zur chasarischen Frage]
- D. M. Dunlop: The History of the Jewish Khazars, Princeton University Press: Princeton, 1954
Weblinks
- http://sophistikatedkids.com/turkic/btn_GeographyMaps/AD%20850%20KhazariaR1.gif
- IDGR - Lexikon Rechtsextremismus - Khasaren
- [[1]] (Hochinteressanter Text von Prof. Schirrmacher, der sich mit den objektiven historischen Fakten und ihrer Missbrauchsmöglichkeit auseinandersetzt.)
- [2] (umfasssende Bibliografie über Literatur zu den Chasaren)