Landstände des Großherzogtums Hessen
Die Landstände des Großherzogtums Hessen waren der Landtag des Großherzogtums Hessen zwischen 1820 und 1918. Nach der Novemberrevolution wurde der Landtag des Volksstaates Hessen sein Nachfolger.
Vorgeschichte
Sowohl in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt als auch im Herzogtum Westfalen bestanden Landstände. Während deren Wirkung in der Landgrafschaft gering waren, hatten die Landstände des Herzogtums mit Sitz in Arnsberg es geschaft, in der Auseinandersetzung mit Kurköln erhebliche Mitspracherechte durchzusetzen und zu bewahren. Im Rahmen der Gründung des Großherzogtums und der Auflösung des Alten Reiches wurden die Landstände 1806 durch den Großherzog Ludwig I. aufgelöst.
Von der Gründung des Großherzogtums bis zur Märzrevolution
Der Großherzog war ein überzeugter Monarchist und stand den Forderungen nach einer Einschränkung seiner absoluten Macht kritisch gegenüber. Er konnte sich jedoch der Forderung nach einer Verfassung letztlich nicht verweigern[1]. Mit der Unterzeichnung der Bundesakte 1815 verpflichtet sich der Großherzog gemäß § 13 der Bundesakte eine Volksvertretung einzurichten. Im Winter 1818/1819 wählten eine Reihe von Städten und Gemeinden ohne Zustimmung der Regierung "wilde" Landtage. Diese tagten in Grünberg und Zwingenberg.
Im März 1920 veröffentlichte Staatsminister Grolman einen Verfassungsentwurf, den als großherzogliches Edikt veröffentlicht wurde, aufgrund derer der erste Landtag gewählt wurde[2]. Am 17. Dezember 1820 wurde die Verfassung des Großherzogtums Hessens erlassen, die die Einrichtung von Landständen vorsah[3].
Erste Kammer
Die standesrechtliche Verfassung sah ein Zweikammersystem vor. Die erste Kammer diente der Vertretung des Adels. Neben der großherzoglichen Familie selbst waren es vor allem die Oberhäupter der mediatisierten Familien. Diese hatten zwar im Rahmen des Reichsdeputationshauptschlusses ihre Souveränität verloren, sollten aber weiterhin eine führende Rolle im Staate einnehmen. Dies war im § 16 des Edikt über die standesherrlichen Verhältnisse vom 17. Februar 1820 beschrieben, der ein Teil der Verfassung bildete. An der Spitze dieser Familien stand der Erbmarschall von Hessen, ein Titel, den seit 1432 der jeweilige Senior der Familie Riedesel Freiherren zu Eisenbach trug.
Der Großherzog selbst als Souverän war nicht Mitglied der ersten Kammer, wohl aber die Prinzen des Großherzoglichen Hauses, also die (männlichen) Geschwister und Nachfahren des Großherzogs.
Weiterhin waren qua Amt die Spitzen der katholischen und protestantischen Kirche im Großherzogtum vertreten. Für die katholische Kirche war dies der katholische Landesbischof, für die protestantische Seite war es ein vom Großherzog auf Lebenszeit in das Amt eines Prälaten erhobener protestantischer Geistlicher.
Ebenfalls Mitglied aufgrund des Amtes war der Kanzler der Landes-Universität (der Universität Gießen) oder dessen Stellvertreter. Darüber hinaus konnte der Großherzog bis zu zehn Staatsbürgern aufgrund besonderer Verdienste einen Sitz in der Kammer verleihen durfte."[4]. Voraussetzung für ein Amt in der ersten Kammer war zudem die Vollendung des 25. Lebensjahres.[5]
Zweite Kammer
Die zweite Kammer bestand aus 50 Abgeordneten, die vom Adel (6 Abgeordnete), den Städten (10 Abgeordnete: 2 für Darmstadt und Mainz, jeweils einen für Gießen, Offenbach, Friedberg, Alsfeld, Worms und Bingen) und dem restlichen Land (34 Abgeordnete) gewählt wurden[6] .
Die Wahl erfolgte für 6 Jahre. Es handelte sich um eine indirekte Wahl über 2 Stufen. Die Wahlberechtigten der jeweiligen Gruppe wählten Bevollmächtigte, diese Wahlmänner und diese die Abgeordneten[7].
Die Wahl war auch keine allgemeine Wahl. Wahlberechtigt waren grundsätzlich nur Männer. In der ersten Stufe (der Wahl der Bevollmächtigten) war die Wahlberechtigung an die Vollendung des 25. Lebensjahres und an eine Steuerzahlung von 25 Gulden geknüpft. Als Wahlmann musste man 30 Jahre alt sein und zu den 60 Höchstbesteuerten im jeweiligen Wahlkreis gehörten[8]. In der zweiten Stufe wählten die Bevollmächtigten jeweils maximal 25 Wahlmänner, die (wie auch die Abgeordneten selbst) mindestens 100 Gulden (Adlige 300 Gulden) direkter Steuern zahlten[9]. Damit war die Mitwirkung faktisch auf eine kleine Zahl von adligen und wohlhabenden Bürgern beschränkt. Es wurden auch keine Diäten gezahlt. Die Kosten der Mandatsausübung mussten von den Abgeordneten selbst getragen werden. Es handelte sich also um ein Honoratiorenparlament.
Der Abgeordnete selbst genoss aber bereits damals ein Privileg, das die Rechte der heutigen Abgeordneten vorwegnahmen: Abgeordnete waren keinen Weisungen unterworfen[9]. Wesentlich ist auch das traditionelle Recht der Stände, der Erhebung von Steuern zustimmen zu müssen[10]. Auch bestanden erste Ansätze eines Budgetrechts. Die (3-Jährigen) Haushaltspläne mussten zunächst der 2. Kammer vorgelegt werden[11]
Im Gegensatz zu modernen Parlamenten waren die Landstände aber nicht die Träger der Staatlichen Souveränität. Es war den Landständen unter Strafandrohung verboten, sich mit Gegenständen zu beschäftigen, die nicht explizit zu ihrem Aufgabenfeld gehörten[12]. Vor allem aber hatte der Großherzog allein jederzeit das Recht, die Landstände einzuberufen, zu vertagen, aufzulösen oder zu schließen[13]. Das Recht zur Gesetzgebung lag beim Großherzog. nicht beim Parlament.
Wahlen und Politik
Aufgrund des Edikte vom März 1820 wurde im Frühsommer 1820 der erste Landtag gewählt. Die Diskussion im Landtag wurde zunächst von der Verfassungsdiskussion bestimmt. Die meisten Abgeordneten verweigerten den Eid auf den Verfassungsentwurf und setzen eine Reihe von Veränderungen durch[14].
In den zwanziger Jahren konnte die Regierung regelmäßig auf Mehrheiten in den Landständen vertrauen. Im Jahr 1830 änderte sich die Situation jedoch. Die Julirevolution in Frankreich führte zu einer deutlichen Verstärkung der Aktivitäten der liberal gesinnten Bürger in ganz Europa. Die Zensur der Karlsbader Beschlüsse verlor ihre Wirkung und die Restauration schien ihr Ende gefunden zu haben. Im Herbst 1830 kam es zu Bauernunruhen in Oberhessen, die militärisch niedergeschlagen wurden.
In dieser politischen Situation starb Großherzog Ludwig I. im April 1830 und sein reaktionär gesinnter Sohn Ludwig II. trat am 6. April seine Nachfolge an. Er erneuerte die Zensurbestimmungen, verschärfte die Polizeimaßnahmen gegen liberal und demokratisch gesinnte Personen und brachte den Landtag mit der Forderung gegen sich auf, dass das Großherzogtum Privatschulden des Großherzogs von 2 Millionen Gulden übernehmen solle. Mit deutlicher Mehrheit wiedersetzen sich die Kammern diesem Anliegen und vertraten die Forderungen nach erneuten Liberalisierungen. Im Dezember 1832 löste Ludwig II. die Landstände auf und entließ liberale Regierungsmitglieder (u.a. Heinrich Karl Jaup) und Beamte (u.a. Heinrich von Gagern).
Ludwig gewann nach den folgenden Neuwahlen wieder eine Mehrheit in den Landständen. Der Führer der liberalen Opposition von Gagern erreichte jedoch bereits im 6. Landtag, der am 26. April 1834 eröffnet wurde wieder eine Mehrheit. Erneut löste Ludwig (im Oktober 1834) die Landstände auf. Ab dem 7. Landtag (1835) konnte Ludwig dann wieder auf Mehrheiten in den Kammern zählen. Die liberale Opposition war marginalisiert.
Der zehnten Landtag (1844-47) behandelte das Zivilgesetzbuch und löste damit Konflikte zwischen der Provinz Rheinhessen und den anderen Provinzen aus. Der Versuch, unterschiedliche Rechtstraditionen in einem einheitlichen Gesetzeswerk zu vereinen, wurde von den rheinhessischen Abgeordneten als Angriff auf ihre Traditionen gewertet und entsprechend heftig abgelehnt. Dennoch fanden sich Mehrheiten für das Gesetz[15].
Revolution und Restauration
In Hessen endete Vormärz mit den Landtagswahlen zum elften Landtag im Dezember 1847 bei der die Liberalen wieder eine Mehrheit erreichten. Vorangegangen waren Parteigründungen der Liberalen auf Versammlungen in Heppenheim und Offenburg im Herbst 1847 sowie mehrere Mißernten und Hungerwinter.
Ludwig II. löste den Landtag nicht auf, vertagte ihn aber auf den 28. Februar 1948. Die Sitzung der zweiten Kammer stand unter dem Eindruck der Februarrevolution in Frankreich. Von Gagerns im Landtag vorgetragene Forderung nach der Schaffung einer deutschen Nationalversammlung wurde von den Landständen angenommen. Spätestens mit der Annahme des Antrags von Theodor Reh zu einem grundlegenden "Wechsel des bisherigen, mit den Wünschen des Hessischen Volkes nicht im Einklang stehenden Regierungssystems" war die Märzrevolution auch in Hessen angekommen. Karl du Thil wurde am 5. März entlassen, Heinrich von Gagern wurde Ministerpräsident in der Märzregierung und Erbprinz Ludwig wurde "Mitregent"[16].
Die wichtigsten Forderungen der Liberalen (Pressefreiheit, Volksbewaffnung, Versammlungsfreiheit, Zurücknahme des Polizeistrafgesetzbuches, die Garantie der rheinhessischen Institutionen, freie Parteigründungen und die Einführung der Schwurgerichte) wurden per Regierungsedikt beschlossen.
Wahlrechtsreform 1849
Von entscheidender Bedeutung war die Änderung des Wahlrechts, um einen Landtag zu bilden, der den tatsächlichen Wünschen der Bevölkerung entsprach. Das Wahlgesetz von 1849 sah eine direkte und allgemeine Wahl der Abgeordneten der zweiten Kammer vor. Auch die erste Kammer sollte gewählt werden. Hier war jedoch das Stimmrecht von der Steuerzahlung abhängig.
Am 24. Mai 1849 löste sich der Landtag auf. Im Dezember 1849 trat der nach dem neuen Wahlgesetz gewählte Landtag erstmals zusammen. Der Landtag wurde von einer breiten liberalen Mehrheit beherrscht, konnte jedoch aufgrund das Sieges der Reaktion keine Wirkung mehr ausüben. Der Landtag wurde bereits im Januar 1850 wieder aufgelöst.
Der Landtag nach dem Sieg der Reaktion
Ludwig III. setzte mit Edikt vom 9. Oktober 1850 das demokratische Wahlgesetz außer Kraft und erließ ein neues Wahlgesetz zur Wahl eines außerordentlichen Landtags. Die Wahlregeln entsprachen denjenigen vor der Revolution.
Der außerordentliche Landtag hob die Entscheidungen seiner Vorgänger zu einem großen Teil wieder auf und beschloss ein neues Wahlgesetz, dass ebenfalls auf den Prinzipien der 1820er Verfassung basierte. Nach der Aufhebung des außerordentlichen Landtags am 16.Okt.1856 wurde der 15. Landtag (Dezember 1856 bis 2. Juli 1858) gewählt.
Wiedererstarken der Liberalen
1861 organisierten sich die hessischen Liberalen in der Hessischen Fortschrittspartei neu. Bei den Landtagswahlen 1862 gelang der Fortschrittspartei unter August Metz ein Erdrutschsieg.
Die Landstände forderte mit seiner liberalen Mehrheit eine Aufhebung der Pressezensur und anderer reaktionärer Gesetze, konnte sich aber nicht durchsetzen. Auch blieb die Regierung Dalwigk im Amt. Jedoch konnte der Landtag mit der Annahme des preußisch-französischen Handelsvertrags und deutlichen Kürzungen im Haushalt 1864 liberale Akzente setzen.
Im Kaiserreich
Nach dem Beitritt des Großherzogtums zum Deutschen Reich wurde das Wahlrecht modifiziert. Wesentliche Änderung war der Wegfall der Sitze des Adels in der zweiten Kammer. Die zweite Kammer bestand nun aus 10 Abgeordneten der Städte und 40 der anderen Wahlkreise. Das neue Wahlrecht wurde von den Landständen im Oktober 1872 angenommen und als Wahlgesetz vom 8. November 1872 veröffentlicht.
1884 wird mit Franz Jöst erstmals ein Sozialdemokrat in den Landtag gewählt.
1911 erfolgt eine Wahlrechtsreform. Der 35. Landtag wird nach dem neuen Wahlrecht gewählt. Aufgrund des Ersten Weltkriegs finden die Wahlen des Jahres 1914 nicht mehr statt. Erst nach der Novemberrevolution findet 1919 wieder eine Landtagswahl in der Weimarer Republik statt.
Wahlergebnisse
SPD | Liberale | Nationalliberale | Zentrum | Konservative | Bauernbund | Antisemiten | Fraktionslos | |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
1862 | 29 | 13 | 2 | 6 | ||||
1865 | 29 | 13 | 2 | 6 | ||||
1866 | 13 | 21 | 4 | 7 | 3 | |||
1868 | 11 | 19 | 4 | 10 | 4 | |||
1872 | 4 | 40 | 3 | 3 | ||||
1875 | 4 | 40 | 5 | 1 | ||||
1878 | 1 | 40 | 8 | 1 | ||||
1881 | 2 | 39 | 8 | 1 | ||||
1884 | 2 | 4 | 37 | 6 | 1 | |||
1887 | 2 | 3 | 39 | 5 | 1 | |||
1890 | 3 | 4 | 37 | 4 | 1 | |||
1890/1 | 3 | 5 | 38 | 4 | ||||
1890/2 | 4 | 5 | 32 | 5 | 3 | 1 | ||
1897 | 5 | 5 | 25 | 6 | 1 | 5 | 3 | |
1899 | 6 | 2 | 22 | 7 | 13 | |||
1902 | 6 | 3 | 18 | 7 | 13 | 3 | ||
1905 | 5 | 3 | 20 | 8 | 11 | 3 | ||
1908 | 8 | 8 | 17 | 9 | 15 | 1 | ||
1911 | 8 | 8 | 17 | 8 | 14 | 1 |
Die Präsidenten der Landstände
Erste Kammer
- Erbprinz Ludwig (1820-1830)
Zweite Kammer
- Karl Christian Eigenbrodt (1820-1823)
- Knapp (1823-1826)
- Schenck (1826-1827)
- Wilhelm Haas (1887-1911)
- Heinrich Köhler (1911-1918)
Quellen
Einzelnachweise
- ↑ Zur Verfassungsdiskussion siehe: Uta Ziegler: Regierungsakten des Großherzogtums Hessen 1802-1820, Band 6 der Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, 2002, ISBN 3486566431, Seite 461 ff.
- ↑ Eckhart G. Franz: Großherzoglich Hessisch ... 1806-1918; in: Uwe Schulz (Hrsg): Die Geschichte Hessens, Stuttgart 1983, ISBN 3-8062-0332-6, Seite 184
- ↑ Verfassung von 1820
- ↑ Artikel 52 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ Artikel 54 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ Artikel 53 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ Artikel 57 Abs. 2 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ Artikel 57 Abs. 3 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ a b Artikel 57 Abs. 4 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820 Referenzfehler: Ungültiges
<ref>
-Tag. Der Name „verfassung57.4“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert. - ↑ Artikel 67 (1) der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820: "Ohne Zustimmung der Stände kann keine directe oder indirecte Auflage ausgeschrieben oder erhoben werden"
- ↑ Artikel 67 (2) der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ Artikel 66 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ Artikel 63 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Hessen vom 17. Dezember 1820
- ↑ A. Müller: Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1820, Quellen und Forschungen zur Hessischen Geschichte Band 13, Darmstadt 1931, Seite 66
- ↑ Meyers 1888
- ↑ Eckhart G. Franz: Großherzoglich Hessisch ... 1806-1918; in: Uwe Schulz (Hrsg): Die Geschichte Hessens, Stuttgart 1983, ISBN 3-8062-0332-6, Seite 186
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