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Bundisten

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Als Bundisten werden seit der Jahrhundertwende sozialistisch-jüdische Vereinigungen im damaligen Zarenreich (Russland, Polen, Litauen, Ukraine usw.) sowie spätere Arbeitervereine jüdischer Emigranten aus Polen und der Sowjetunion bezeichnet, deren Ziel eine Demokratisierung Russlands und eine kulturell-nationale Autonomie der Juden war.

Der 1897 in Litauen, Russland und Polen gegründete "Algemejne jidische Arbeterbund in Russland un Pojln", allgemein kurz "Der Bund" genannt, wurde zwar in Osteuropa - trotz seiner Unterstützung der Revolutionen - zwischen 1917 und 1935 vollständig zerschlagen, wirkte aber dann verstärkt in Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Ihre politischen Konzepte, die u.a. den französischen und den Austromarxismus oder die "Autonomen-Bewegungen" befruchtet haben, sowie Literatur und Liedgut der Bundisten, die vor Lenin und Stalin flüchten konnten, sind in Polen, Westeuropa und den USA bis heute lebendig und stehen u.a. bei den deutschen "Bund-Abenden" und den Jüdischen Kulturtagen auf dem Programm. So stand z.B. beim 17. Festival in Berlin die "Mischpoche Singer" - die Schriftstellerfamilie des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer - im Zentrum der Veranstaltung, umrahmt von den Musikern um Arno Lustiger und Mark Aizikowitsch.

Die Bundisten im Zarenreich

Während sie in Osteuropa durch die zunächst kooperierenden Anhänger Lenins ab der dritten Revolution (Oktober 1917) verfolgt wurden und viele ihrer Überlebenden durch Stalins "Große Säuberung" ums Leben kamen, konnten sie durch ihre Immigranten im Westen -- vor allem in Frankreich und den Neuengland-Staaten der USA -- ihre Tätigkeit fortsetzen und haben bis heute politischen und kulturellen Einfluss auf die Sozialdemokratie und die Arbeiterbildung.

Zahlreiche kulturelle Institutionen gehen auf die "Bundisten" zurück, unter anderem die Pariser Medem-Bibliothek, die heute zu den größten Forschungsinstituten zur Jüdischen Geschichte Osteuropas und zur Jiddischen Sprache zählt. In der Zwischenkriegszeit hatten die Bundisten Ost- und Westeuropas merklichen Einfluss auf die Gründung und Entwicklung sozialistischer Parteien (siehe auch Austromarxisten, Autonome, Rosa Luxemburg usw.), und politische Querverbindungen bestehen bis heute insbesondere nach Polen und ins Baltikum. Ein in Paris gegründeter Arbeiterklub trägt den Namen von Vladimir Medem (1879-1923), des führenden Ideologen der russisch-litauischen Bundisten.

Gründung des "Bundes" 1897

1897 entstand im litauischen Wilna (Vilnius) der "Algemejne jidische Arbeterbund in Russland un Pojln", allgemein kurz "Der Bund" genannt. Im Kampf gegen den Zaren verstanden sich die Bundisten als Teil der russischen Sozialdemokratie, doch spielte auch die Pflege der jiddischen Kultur eine große Rolle. Diesbezügliches Liedgut und Literatur der Bundisten, die später unter Lenin "gleichgeschaltet" wurden, sind aber bis heute lebendig.

Erweiterung und internationale Vernetzung

Die politisch-geografische Basis der Bundisten erweiterte sich nach der Gründung 1897 rasch, was u.a. zur namensänderung in " Allgemeiner jüdischer Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland" führte (auf jiddisch Algemeyner Yidisher Arbeter Bund in Lite, Poyln un Rusland). "Der Bund" wurde bald zu einer auch international vernetzten Gesellschaft jüdischer Sozialisten, hatte politische Kontakte u.a. zu Lenin, Rosa Luxemburg und Otto Bauer und war zwischen 1890 und 1930 in vielen europäischen Ländern aktiv.

Der „Bund“ hatte zunächst das Ziel, alle jüdischen Arbeiter des zaristischen Russlands in eine sozialistische Partei zu vereinigen. Damals umfasste das Zarenreich Russland, Litauen, Weißrussland, die Ukraine und große Teile von Polen. In diesen Ländern lebten weltweit die meisten Juden. Der Bund wollte sich mit der russischen Revolution verbünden, um

  • zunächst im Zarenreich eine sozialistisch geprägte Demokratie zu erreichen, und
  • im neuen Russland den Juden zur Anerkennung als eigene Nation zu verhelfen.
  • Sollte dies nicht (wie z.B. den Polen oder Ukrainern) gelingen, war ein Minoritätsstatus für die gesetzliche Absicherung als Minderheit das sekundäre Ziel.

Vladimir Medem

Ihr wichtigster Ideologe kam aber weder aus dem Arbeiterstand noch aus religiösen Kreisen, sondern aus "gutem Hause": Vladimir Medem, geboren 1879 an der Grenze Lettlands und Litauens und Sohn eines jüdischen, zum Christentum konvertierten Militärarztes. Er war kurze Zeit Student an der Universität Kiew, musste sie aber nach einem Studentenstreik verlassen und erforschte dann den Status des jiddischen Proletariats, obwohl er erst das in seiner Familie verpönte Jiddisch lernen musste.

Die Doktrin des „Bundes“ fasste Wladimir Medem 1916 zusammen: „Nehmen wir an, ein Land besteht aus mehreren Nationalitäten, etwa Polen, Litauer und Juden. Jede dieser Nationalitäten muss eine eigene Bewegung gründen. Alle Bürger einer bestimmten Nationalität müssen einer eigenen Organisation beitreten, die eine Vertreterversammlung in jeder Region und eine allgemeine Vertretung auf Landesebene gründet.“. Die Nationalitäten müssten selbständige Finanzhoheit haben und das Recht, „Steuern von ihren Mitgliedern zu erheben; der Staat kann aber auch jeder Nationalität aus seinen öffentlichen Mitteln einen entsprechenden Budgetanteil zuteilen.“ Jeder Staatsbürger wäre Mitglied einer nationalen Gruppe, könne diese aber frei wählen. Diese autonomen Bewegungen sollten sich im Rahmen der vom Parlament erlassenen Gesetze entwickeln, Im eigenen Kompetenzbereich wären sie „jedoch autonom, und keine von ihnen hat das Recht, sich in die Angelegenheiten der anderen einzumischen.“ Le Monde, 16.6.2000

Diese demokratische Zielvorstellung beeinflusste viele europäische Parteien, nicht jedoch den Zaren und auch nicht Lenin. Dessen klassenkämpferische Bolschewiken setzten sich letztlich durch, obwohl sie zunächst die Minorität waren, und viele „Bundisten“ emigrierten. Der Bund selbst verlagerte seine Hauptaktivität nach Polen - wo er später entscheidend zum Aufstand im Warschauer Ghetto gegen die Nazis beteiligt war - und nach Frankreich. Er bildete dort auch ein wichtiges Bollwerk gegen den aufstrebenden Nationalsozialismus, und musste andererseits in Paris den auch in der jüdischen Diaspora stark vertretenen Kommunisten widerstehen. Einer solchen „innersozialistischen“ Sezession verdankt die für die jiddische Kultur so bedeutende Pariser Medem-Bibliothek ihre Entstehung (1929).

Säkulär - sozialistisch - autonom

In seinen Ursprüngen waren die Bundisten eine säkulare sozialistische Partei und lehnten das traditionelle jüdische Leben in Russland und Polen als „reaktionär“ ab. Auch den Zionismus lehnten die meisten ab, weil die Auswanderung nach Palästina eine Art Flucht darstellen würde und die in Russland angestrebten Nationalrechte schwächen müsste. Diese Ansicht wurde aber später relativiert, als sich viele Bundisten zur Emigration nach Palästina, Westeuropa oder New York City entschlossen. Obwohl der "Bund" dadurch in Osteuropa an Mitgliederschwund litt, förderte er das Jiddische als jüdische Nationalsprache und lehnte die (im späteren Israel gelungene) Wiederbelebung des Hebräischen, als Signum einer klerikalen jüdischen Gesellschaft, ab. Die "abtrünnigen" Bundisten jedoch zerfielen in zwei Gruppen:
Die Einen wurden in Israel aktive Gründungsmitglieder sozialistischer Parteien und förderten indirekt das Hebräische, die anderen wurden - vor allem in Frankreich und den USA - zu entscheidenden Trägern der Jiddischen Sprache und Kultur.

Russische Revolutionen und Selbstverteidigungsgruppen

Im Osten - und auch in der Emigration - wurden die Bundisten durch zahlreiche konvertierte Künstler und Arbeiter verstärkt, denen der zunehmende Charakter einer säkularen Partei gefiel. In der „Partei“ dominierte bald die „Intelligenzija“ (siehe auch Vladimir Medem und einige seiner Gegenspieler wie Leo Trotzkij), während andere - soweit politisch möglich - Gewerkschaften gründeten und sich mit den Arbeiterzionisten zu Selbstverteidigungs-Gruppen zusammen schlossen. Sie hatten die Hauptaufgabe, die jüdischen Gemeinden vor den Regierungstruppen und vor den zunehmenden Pogromen zu schützen.

Eine entscheidende Rolle spielten die weißrussischen Bundisten in der Russischen Revolution von 1905, die sie in den jüdischen Städten anführten. Aus ihrer Kooperation mit den Sozialdemokraten der SDKPiL („Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen“) entstand 1910 die Jugendorganisation „Tsukunft“ (jiddisch für Zukunft).

Die vom „Bund“ unterstützte Februarrevolution 1917 führte zu einer Regierung, die nach Demokratie strebte und den staatlichen Antisemitismus abschaffen wollte. Doch Lenins Bolschewiki rissen in der Oktoberrevolution die Macht an sich und wurden zu heftigen Gegnern der Bundisten, obwohl sie prominente Juden wie Leo Trotzki in ihren Reihen hatten. Um 1920 war der Bund zerschlagen, seine Mitglieder tot oder emigriert, und der Rest fiel im folgenden Jahrzehnt StalinsGroßer Säuberung“ zum Opfer.

Die Emigration in den Westen

In der Zwischenkriegszeit entwickelten vor allem die Bundisten der Pariser Emigration und die Gruppen in den Neuengland-Staaten der Vereinigten Staaten eine hohe Wirksamkeit. Zwei Pariser Gruppen, die sich um 1922 von den allzu aktivistischen Linkssozialisten distanzierten, gründeten den Arbeiterklub ... und einige Jagre später (1929) die Medem-Bibliothek. Letztere ist zum wichtigsten Forschungsinstitut über Jiddische Sprache und Kultur geworden und besitzt heute über 30.000 Bände.

... {wird fortgesetzt}

Siehe auch

Literatur