Judenzählung
Die „Judenzählung“ vom 1. November 1916 war eine staatlich angeordnete statistische Erhebung zum Anteil der Juden unter den deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges.
Der Erlass des preußischen Kriegsministers Adolf Wild von Hohenborn vom 11. Oktober 1916 reagierte auf den im deutschen Offizierskorps besonders verbreiteten Antisemitismus und die von antisemitischen Verbänden, Parteien und Medien damals verstärkte Propaganda, Juden seien „feige Drückeberger“, die sich dem Soldatendienst an der Front mit allen möglichen Ausreden entzögen und davon unverhältnismäßig oft befreit würden.
Die Umfrage ergab, dass sich prozentual mehr Juden als Nichtjuden am Kriegseinsatz beteiligten, freiwillig zur Front gemeldet hatten und seltener von Frontdiensten befreit worden waren.[1] Daraufhin wurde sie abgebrochen und ihre Ergebnisse geheim gehalten. Dies verstärkte die Ressentiments gegen jüdische Kriegsteilnehmer erheblich. Erlass und Geheimhaltung seines Resultats galten den Betroffenen und Kritikern des Regierungskurses als Diskriminierung der jüdischen Minderheit, Parteinahme für die Antisemiten und Scheitern aller liberalen Integrationsbemühungen im Kaiserreich mit weitreichenden Folgen.
Vorgeschichte
Krieg als nationale Einigung
Die nationalistische Begeisterung in großen Bevölkerungsteilen zu Beginn des Ersten Weltkrieges sollte auch die innerdeutschen Gegensätze vergessen machen. So verkündete Kaiser Wilhelm II. in seiner Rede im Reichstag aus Anlass der einstimmigen Zustimmung der SPD zum Burgfrieden:
- Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!
Der Krieg erschien vielen jüdischen Deutschen des Kaiserreichs als Chance, ihren Patriotismus zu beweisen. Daher riefen jüdische Verbände wie der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ihre Mitglieder 1914 geschlossen zum Kriegsdienst auf. Zur Mobilisierung erschienen vielfältige Flugblätter und Aufrufe, z.B. schrieb die „Jüdische Rundschau“[2]:
- Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber anderen Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen.
Das erste Kriegsjahr
Mehr als 10.000 Juden folgten den Aufrufen und meldeten sich freiwillig zum Soldatendienst an der Front. Sie konnten nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten in der preußischen Armee auch in den Offiziersrang befördert werden. So wollten sie die unter nichtjüdischen Soldaten und Offizieren verbreitete Ablehnung überwinden. Ihretwegen hatten die Juden erst 1890 die volle rechtliche Gleichstellung, die Zulassung zu akademischer Bildung und zum Militärdienst erreicht.
Der Antisemitismus trat in den ersten Kriegsmonaten scheinbar zurück. Man erwartete einen schnellen und sicheren Sieg über die Entente-Staaten.
Doch schon Ende August 1914 verlangte der von dem radikalen Antisemiten Theodor Fritsch gegründete Reichshammerbund in einem internen Rundbrief, man solle „Kriegsermittlungen“ über die aktive Teilnahme von Juden am Kriegsdienst und in Einrichtungen der „öffentlichen Mildtätigkeit“ anstellen. Der Alldeutsche Verband unterstützte diese Kampagne.
Nach dem ersten Kriegswinter war die Hoffnung auf den schnellen Sieg geschwunden. Die Kriegsopfer nahmen in den Schützengräben des erstarrten Stellungskriegs im Westen ständig zu. Die britische Seeblockade verhinderte die Einfuhr kriegswichtiger Rohstoffe aus den neutralen Ländern und führte in Deutschland zu schweren Versorgungsengpässen.
Daraufhin wurde im Kriegsministerium eine neue Kriegsrohstoffabteilung zur Versorgung der Armee gegründet, deren Leitung Walther Rathenau ehielt. Auf Initiative des Hamburger Reeders Albert Ballin, des Hamburger Bankiers Max Warburg (1867-1946) und seines Generalbevollmächtigen Carl Melchior wurde die Zentral-Einkaufsgesellschaft gegründet, die über ein Netz nationaler Kriegsgesellschaften ausländische Lebensmittel, Rohstoffe und Proviant importieren sollte. Etwa zehn Prozent dieser Neugründungen wurden von Juden geführt, da diese häufiger als andere Deutsche im großstädtischen Handel tätig waren. [3]
Hungerwinter und verstärkter Antisemitismus
Im zweiten Kriegswinter 1915/16 verstärkten die Antisemiten außerhalb wie innerhalb des deutschen Heeres ihre Kampagnen gegen jüdische Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Bankiers und Politiker. Die von Offizieren und rechtsextremen Nationalisten geschürten Gerüchte sagten jüdischen Soldaten einen Mangel an Tüchtigkeit und Mut nach; oft wurden sie als körperlich unterlegen und für das Soldatendasein ungeeignet beschrieben. Zugleich behaupteten zahlreiche, oft anonym abgegebene Beschwerden an das Kriegsministerium, dass sie sich in großer Zahl dem Fronteinsatz entzögen. Sie würden Geld und Beziehungen nutzen, um in Schreibstuben, Etappenkommandos und Büroposten bequem durch den Krieg zu kommen. Sie würden wichtige Posten in den Kriegsproviant-Gesellschaften erhalten, umd damit einen beherrschenden Einfluss auf die Kriegswirtschaft auszuüben und sic an der Not der Bevölkerung zu bereichern.
Um Beförderungen von Juden zu Offizieren und Auszeichnungen für besondere Tapferkeit zu verhindern, nahmen Offiziersverbände Kontakte zu antisemitischen Organisationen auf. Der Alldeutsche Verband, die Deutschvölkische Partei, der Reichshammerbund und andere judenfeindliche Verbände behaupteten immer aggressiver, dass die Juden sich ihren Pflichten entzögen. Man unterstellte jüdsichen Geschäftsinhaben Preistreiberei, Hortung und Zurückhaltung von Lebensmittelbeständen, Bevorzugung der eigenen Glaubensgenossen, Ausbeutung und geheime Verschwörungen mit den Briten gegen das deutsche Volk. Alfred Roth, Bundeswart des Reichshammerbundes, sprach von einer „jüdischen Verfilzung des deutschen Wirtschaftslebens durch das System Ballin-Rathenau“. In hoher Auflage verbreitete Pamphlete griffen die Juden allgemein und bestimmte jüdischstämmige oder „judenfreundliche“ Regierungsmitglieder an. Theobald von Bethmann Hollweg z.B. wurde als „Kanzler des deutschen Judentums“ bezeichnet.[4]
Walther Rathenau gab sein Amt im Kriegsministerium angesichts dieser Anfeindungen im März 1915 auf. Er schrieb dazu im Sommer 1916:[5]
- Je mehr Juden in diesem Kriege fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu treiben. Der Hass wird sich verdoppeln und verdreifachen.
Tatsächlich fielen die antisemitischen Botschaften auf fruchtbaren Nährboden und schürten den ohnehin verbreiteten Antisemitismus in der Bevölkerung. Der Abgeordnete Matthias Erzberger von der katholischen Zentrumspartei forderte daraufhin als Erster im Reichstag eine Untersuchung der Vorwürfe. Er fand Unterstützung bei einer Koalition von Liberalen und Konservativen, aber auch einigen Sozialdemokraten.[6]
Durchführung
Am 11. Oktober 1916 ordnete der preußische Kriegsminister von Hohenborn die „Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden“ an: eine umfassende statistische Erfassung der wehrpflichtigen, aber auch der zurückgestellten Juden im deutschen Militär. Er begründete dies mit fortlaufenden Klagen aus der Bevölkerung, „dass eine unverhältnismäßig große Zahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelitischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder aber es verstanden habe, eine Verwendung außerhalb der vordersten Front zu finden.“[7] Er wolle diese bevorzugte Behandlung der jüdischen Wehrpflichtigen bei der Freistellung vom Heeresdienst „nachprüfen, um ihnen gegebenenfalls entgegentreten zu können“.
Damit übernahm der Kriegsminister die antisemitische Propaganda und ließ sich auf den Vorwurf der „Drückebergerei“ ein, der nur gegen Juden, nicht gegen die übrigen wehrpflichtigen Deutschen gerichtet war. Heutige Historiker wie Volker Ullrich urteilen über seine tatsächlichen Motive:[8]
- Es ging dem preußischen Kriegsministerium nicht um eine Widerlegung der antisemitischen Anwürfe, sondern im Gegenteil darum, Material für ihre Bestätigung in die Hand zu bekommen. Der traditionell starke Antisemitismus im Offizierskorps wirkte sich hier aus, aber auch das Interesse der neuen Obersten Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, alle verfügbaren Kräfte für die Front und die Rüstungsindustrie zu mobilisieren.
Demnach war die „Judenzählung“ ein Tribut an die antisemitische Mehrheit im Offizierskorps, um diese zu beruhigen und in weitergehende Kriegsziele einzubinden. Nach ersten öffentlichen Protesten und Forderungen, die Erhebung abzubrechen, erklärte der Minister, seine Anordnung sei nicht durch das Verhalten der jüdischen Soldaten während der Kämpfe veranlasst worden. Wovon dann, sagte er aber nicht. Im Februar 1917 wurde die Zählung ohne weitere öffentliche Erklärung beendet. Obwohl die jüdischen Organisationen wiederholt die Veröffentlichung der Ergebnisse forderten, blieben diese während des Krieges unveröffentlicht.
Folgen
im Heer
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Erlasses im deutschen Heer verstärkten sich antijüdische Ressentiments, und es kam zu tätlichen Übergriffen gegen jüdische Soldaten. Diese wurden öfter degradiert und weit seltener zu Offizieren befördert, als es ihrem Anteil und ihren Leistungen entsprach. Sie blieben isoliert und von den Aufstiegschancen ausgeschlossen, die das Militär der jungen Generation sonst bot.
Die diskussionslose Einstellung der Erhebung gab antisemitischen Gerüchten umso mehr Auftrieb: Sie ließ die Wahrnehmung bestehen, dass man die Juden im Heer wohl nicht ohne Grund gezählt habe. Beamte aus dem Kriegsministerium lancierten die Behauptung, die Ergebnisse seien „verheerend“ und nur zurückgehalten worden, um die Juden zu schützen. Daran knüpften radikale Antisemiten an, um die Kluft zwischen jüdischen und nichtjüdischen Soldaten zu verstärken.
Besonders die jüdischen Frontsoldaten waren schwer enttäuscht darüber, dass ihre hohe Gefallenenrate und ihr Patriotismus den deutschen Juden keine gesellschaftliche Anerkennung bewirkten. Damalige Tagebücher und Frontbriefe zeigen deutlich die Gefühle der Zurückweisung, Demütigung und Stigmatisierung. Vizefeldwebel Julius Marx rief seinem Kompanieführer zu, als dieser seine Personalien für die „Judenstatistik“ aufnehmen wollte: Was soll denn dieser Unsinn?! Will man uns zu Soldaten zweiten Ranges degradieren, uns vor der ganzen Armee lächerlich machen? Er schrieb in sein Tagebuch: Pfui Teufel! Dazu also hält man für sein Land den Schädel hin...[9] Der 1918 gegründete „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ verweigerte jüdischen Frontkämpfern die Mitgliedschaft, so dass sie den „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ gründeten.
im Reichstag
Der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger beantragte am 19. Oktober 1916 im Hauptausschuss des Reichstags, der Reichskanzler solle baldmöglichst eine „eingehende Übersicht über das gesamte Personal aller Kriegsgesellschaften [...] getrennt nach Geschlecht, militärpflichtigem Alter, Bezügen, Konfession“ aufstellen und veröffentlichen lassen. Die SPD und die Fortschrittliche Volkspartei erreichten, dass das Kriterium der Konfession aufgegeben wurde.
Anfang November 1916 wurde die laufende Zählung im Reichstag diskutiert. Die SPD-Fraktion wertete den Erlass des Kriegsministers als „Bruch des Burgfriedens“, der alle Deutschen unabhängig von ihrer Religion und politischen Überzeugung mit dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn einen sollte. Ludwig Haas, der Sprecher der Fortschrittlichen Volkspartei, zitierte aus Briefen jüdischer Soldaten, die oft den Satz schrieben: Nun sind wir gezeichnet. Selbst der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann warnte im Januar 1917 vor einer „antisemitischen Bewegung [...], wie sie noch nie dagewesen ist.“
in der Öffentlichkeit
Erst durch die Reichstagsdebatte Anfang November 1916 erfuhr die deutsche Öffentlichkeit von der Anordnung Hohenborns vom 11. Oktober. Judenverbände und Anhänger liberaler Parteien reagierten entrüstet. Diese sahen den Erlass als offenkundige Diskriminierung der Juden und Abkehr von der bisherigen Assimilations- und Emanzipationspolitik des Kaiserreichs.
Die jüdischen Verbände, darunter der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und der Verein zur Abwehr des Antisemitismus, protestierten energisch gegen die Erhebung. Der Leiter des Verbandes der deutschen Juden, der Reichstagsabgeordnete Oscar Cassel (1849-1923), protestierte am 7. November 1916 „gegen Ausnahmebestimmungen für Juden“, welche „die Aufopferungsfähigkeit unserer Glaubensgenossen im Felde und im Lande herabsetzen und herabwürdigen“. Er initiierte zusammen mit Max Warburg eine Eingabe an das Kriegsministerium. Warburg traf Kriegsminister Hermann von Stein, der Hohenborn im September 1916 in diesem Amt abgelöst hatte, und bat ihn darum, öffentlich zu erklären, dass die Juden ebenso tapfer kämpften wie andere Deutsche. Stein lehnte ab und hielt Warburg stattdessen einen Vortrag über die angeblich „vaterlandslosen“ Eigenschaften der Juden am Beispiel Heinrich Heines.[10]
Der Oberrat der Israeliten im Großherzogtum Baden nannt die Zählung eine „durch nichts gerechtfertigte Ehrenbeleidigung“, durch die „das Andenken der Tausende geschändet“ werde, „die ihr Blut und Leben in begeisterungsvoller Opferfreudigkeit hingegeben haben“. Der Justizrat Senator Meyer in Hannover schickte dem Vorsitzenden der dortigen Zentrumspartei, Peter Spahn, die Todesanzeige seines gefallenen Bruders und schrieb darunter die Frage: Wird Ihnen und Ihren Freunden nicht bange vor den Anklagen, welche diese noch in ihrem Todeskampfe beschimpften Helden als stumme Blutzeugen vor dem Thron des Höchsten erheben?
Im Oktober 1917 schrieb die Zeitung Im deutschen Reich, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens: Uns steht ein Krieg nach dem Kriege bevor.[11]
Abwälzen der Kriegsniederlage
Die „Judenzählung“ war nicht die einzige antisemitische Maßnahme im kaiserlichen Militär: Im August 1917 ordnete ein Korpsbefehl in Stettin an, alle vom Kriegsdienst freigestellten jüdischen Wehrpflichtigen noch einmal nachzumustern. Am 15. September 1918 bildete General Ludwig Freiherr von Gebsattel einen „Judenausschuss“, dessen erklärtes Propagandaziel es war, „die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.“[12] Der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, stellte im April 1918 ein „erfreuliches Anwachsen der antisemitischen Stimmung, die bereits einen riesigen Umfang angenommen“, fest. Der Alldeutsche Verband habe die Aufgabe, „diese Bewegung nationalpolitisch hochzuleiten“: Für die Juden hat der Kampf ums Dasein begonnen. Claß forderte am 3. Oktober 1918 den „rücksichtslosesten Kampf gegen das Judentum, auf das all der nur zu berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Volkes abgelenkt werden muss“.[13]
Die Anfang 1918 gegründete rechtsradikale Deutsche Vaterlandspartei gewann rasch 1,2 Millionen Mitglieder und verknüpfte die Propaganda gegen die Juden mit der gegen einen Verständigungsfrieden, den sie als „Judenfrieden“ denunzierte. Darauf folgte die antisemitische Fassung der Dolchstoßlegende, mit der die Verantwortung für die Kriegsniederlage und Kriegsfolgen bewusst auf das „internationale Judentum“ abgewälzt wurden. Unmittelbar nachdem Matthias Erzberger am 10. November 1918 die Waffenstillstandsbedingungen der Entente unterzeichnet hatte, brachte der General Wrisberg gefälschte Ergebnisse der Judenzählung in Umlauf. Diese verwendete der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund dann für massive antijüdische Propaganda.[14] Anfang 1919 gestattete das Kriegsministerium dem Antisemiten Alfred Roth Einblick in das gesamte statistische Material. Dieser berief sich darauf dann in zwei Hetzpamphleten.
Nachkriegszeit
Der jüdische Statistiker und Demograph Franz Oppenheimer veröffentlichte 1922 seine umfangreiche Studie Die Judenstatistik des Preußischen Kriegsministeriums. Er wies nach, dass etwa 100.000 von den 550.000 deutschen Juden am Krieg teilgenommen hatten. Davon kämpften 78.000 an der Front, 12.000 davon starben im Krieg. Über 30.000 Juden erhielten Orden für ihre Tapferkeit. 19.000 wurden befördert. Diese Zahlen unterschieden sich prozentual kaum von anderen Deutschen. Aber nur 2.000 Juden kamen in einen Offiziersrang.
Ferner wies Oppenheimer nach, dass die Judenzählung mit statistisch unhaltbaren Methoden durchgeführt worden war. So waren in den Wochen zuvor viele Juden von der Front in andere Heeresabschnitte verlegt worden, um das Ergebnis zu ihren Ungunsten zu beeinflussen.[15] Er nannte das Unternehmen „die größte statistische Ungeheuerlichkeit, derer sich eine Behörde jemals schuldig gemacht hat.“[16]
Dr. Otto Rosenthal diente im Ersten Weltkrieg in der Königlich-Bayerischen Armee und wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Nachdem bei seinem Begräbnis 1924 der Rabbiner Dr. Isak Heilbronn die Judenfeindschaft im deutschen Offizierskorps beklagt hatte, entschied der Verein der Angehörigen des ehemaligen Königlich-Bayerischen 8. Feldartillerie-Regiments, "dass künftighin bei Beerdigungen von Kameraden israelitischen Glaubens die Vereinsfahne nicht mehr ausrückt und ebenso die Teilnahme den einzelnen Kameraden freigestellt bleibt." [17]
Wissenschaftliche Studien zur Judenzählung änderten nichts an der Fortwirkung der antisemitischen Hetzpropaganda, die vor allem in der DNVP und der NSDAP organisiert wurde. Deren Vertreter bedienten sich bei den Ressentiments, die im kaiserlichen Militär unverändert tradiert wurden. Der Ex-General der OHL Erich Ludendorff, behauptete in seinen Memoiren:
- Die Kriegsgewinnler waren zunächst einmal hauptsächlich Juden. Sie erlangten einen beherrschenden Einfluss in den Kriegsgesellschaften..., die ihnen Gelegenheit boten, sich auf Kosten des deutschen Volkes zu bereichern und von der deutschen Wirtschaft Besitz zu ergreifen, um eines der Machtziele des jüdischen Volkes zu erreichen.
Dem stimmte Adolf Hitler in Mein Kampf 1925 zu:
- Die allgemeine Stimmung war miserabel... Die Kanzleien waren mit Juden besetzt. Fast jeder Schreiber ein Jude und jeder Jude ein Schreiber... Noch schlimmer lagen die Dinge bei der Wirtschaft. Hier war das jüdische Volk tatsächlich 'unabkömmlich' geworden. Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen. Auf dem Umwege über die Kriegsgesellschaften hatte man das Instrument gefunden, um der nationalen und freien Wirtschaft nach und nach den Garaus zu machen.[18]
Historische Einordnung
Der Historiker Heinrich August Winkler sieht die „Judenzählung“ wie viele seiner Kollegen zum einen als Fortsetzung der von den Eliten Deutschlands getragenen Entliberalisierung, die mit Otto von Bismarcks Kulturkampf und Sozialistengesetzen eingeleitet worden sei, zum anderen als Beginn der Suche nach Schuldigen für die zu erwartende Kriegsniederlage:
- Nach dem Schwinden der Siegeshoffnung wuchs das Bedürfnis, Schuldige namhaft zu machen... Die Unterstellungen der Judenfeinde erwiesen sich als völlig grundlos. Die Erhebung aber war nichts Geringeres als die erste staatliche Anerkennung und Legitimierung des Antisemitismus seit der Judenemanzipation im 19. Jahrhundert: Darin lag die historisch einschneidende Bedeutung dieses nicht nur von den deutschen Juden als schockierend empfundenen Vorgangs.
Einzelbelege
- ↑ Bernd Bocian (in: Gestaltkritik 2/2007): Fritz Perls' Erfahrungen als Frontsoldat - Die „Judenzählung“ und die deutsch-jüdischen Patrioten
- ↑ zitiert nach Gidal, Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, S. 13
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 88
- ↑ Leon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus Band VIII, S. 17
- ↑ Volker Ullrich, Fünfzehntes Bild: Drückeberger, in: J. H. Schoeps, J. Schlör [Hrsg.]: Bilder der Judenfeindschaft S. 212f
- ↑ Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, S. 525
- ↑ zitiert nach Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden I, dtv München 2000, S. 87
- ↑ Volker Ullrich (Die Zeit 42/1996, S. 46): Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!
- ↑ Die Kriegskorrespondenz im militärischen Kontext – Beschwerden, Stimmungsbeobachtung und Zensur
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 89
- ↑ alle Zitate nach Volker Ullrich (Die Zeit 42/1996, S. 46): Dazu hält man für sein Land den Schädel hin!
- ↑ Leon Poliakov,Geschichte des Antisemitismus Band VIII, S. 23
- ↑ Der Spiegel, Ausgabe 8/2007, S. 56
- ↑ Werner Jochmann, Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Werner Mosse (Hrsg.): Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923, Tübingen 1971, S. 421
- ↑ Bernd Bocian (in: Gestaltkritik 2/2007): Fritz Perls' Erfahrungen als Frontsoldat - Die „Judenzählung“ und die deutsch-jüdischen Patrioten
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 89
- ↑ Die verletzte Ehre der Patrioten Sein Vater trug das Eiserne Kreuz: Jacob Rosenthal untersucht die demütigende Judenzählung im Ersten Weltkrieg Berliner Zeitung vom 15. Februar 2008
- ↑ Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden S. 88
Literatur
- Michael Berger: Eisernes Kreuz und Davidstern. Die Geschichte Jüdischer Soldaten in Deutschen Armeen, trafo verlag, 2006, ISBN 3-89626-476-1
- Werner T. Angress: The German Army's 'Judenzählung' of 1916: Genesis - Consequences - Significance. In: LBIY 23 (1978), S. 117ff
- Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Könemann, Köln 1997, ISBN 3-89508-540-5
- Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band VIII. Am Vorabend des Holocaust, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, ISBN 3-610-00418-5
- Volker Ullrich: Fünfzehntes Bild: Drückeberger, in: J. H. Schoeps, J. Schlör [Hrsg.]: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, Augsburg: Weltbild (Bechtermünz), 1999, ISBN 3-8289-0734-2, S. 210 - 217
- Arnold Zweig: Die Judenzählung (1. November 1916), in: L. Heid, J. H. Schoeps: Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Ein Lesebuch, München: Piper, 1994, ISBN 3-492-11946-8, S. 224 - 227
- Jacob Rosenthal: Die Ehre des jüdischen Soldaten. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Campus Verlag Frankfurt a.M., New York 2007, ISBN 3593384973
Weblinks
- Antisemitismus im Krieg Deutsches Historisches Museum, Berlin
- Juden im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik (Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit) Jüdisches Museum, Frankfurt am Main
- Werner Bergmann: Erster Weltkrieg Auszug aus: Geschichte des Antisemitismus
- IRON CROSS and STAR OF DAVID: Jewish Soldiers in German Armies (Inhaltsangabe zu Michael Bergers Buch, englisch)