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Der Mythus des 20. Jahrhunderts

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Der Mythus des 20. Jahrhunderts: Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit gilt als das Hauptwerk Alfred Rosenbergs. Es wurde im Jahre 1930 veröffentlicht.

Konzeption

Das Buch war als Fortsetzung von Houston Stewart Chamberlains Werk „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ konzipiert. Rosenberg plädierte darin für eine neue „Religion des Blutes“, die das Christentum ersetzen sollte:

„Der Mythus des römischen Stellvertreters Gottes muß hierzu ebenso überwunden werden wie der Mythus des ‚Heiligen Buchstabens‘ im Protestantismus. Im Mythus der Volksseele und Ehre liegt der neue bindende, gestaltende Mittelpunkt. Ihm zu dienen ist bindende Pflicht unseres Geschlechts.“

Trotz dieser Haltung war Rosenberg glühender Verehrer von Martin Luther, in dem er das „wahre“ Christentum verkörpert sah, das durch die römisch-katholische Kirche und die Jesuiten verfälscht, „verjudet“ worden sei. Gegen die Behauptung, er selbst sei Heide, verwahrte sich Rosenberg entschieden:

„Man unterschlug, dass ich den Wotanismus als eine tote Religionsform hinstellte [aber natürlich vor dem germanischem Charakter Ehrfurcht habe, der Wotan ebenso gebar wie den Faust] und dichtete verlogen und skrupellos mir an, ich wollte den ‚heidnischen Wotanskult‘ wieder einführen.“

Rassismus und Geschichtsphilosophie

Beim „Mythus“ handelt es sich um den Versuch in einer geschichtsphilosophischen Darstellung die nationalsozialistische Ideologie zum Ziel der Menschheit zu erklären. Nach Rosenberg ist die Weltgeschichte geprägt durch den ewig tobenden Kampf zwischen den nordisch-atlantidischen und den jüdisch-semitischen Völkern. Einzig das nordische Volk bringe Kultur hervor. Ausgehend von einem in Anlehnung an Platon spekulierten Atlantis sei das nordische Volk zunächst über die Inder und Perser in Erscheinung getreten. Das klassische Griechenland wird zum „nordischen Hellas“ und das alte Rom zum „nordisch-republikanischen Latinertum“ verklärt. Der einzig legitime Nachfahre dieses nordischen Volkes sei das deutsche Volk.

Dieses nordische Volk versteht Rosenberg als Rasse, wobei diese kein biologisches, sondern ein geistiges Phänomen darstelle. In dieser Ablehnung eines „Rassematerialismus“ ist er sich einig mit seinem Erzrivalen Joseph Goebbels, welcher wie er den ideologischen Kurs der NSDAP prägen wollte.

Die Rasse wiederum stilisiert Rosenberg zum eigenständigen Organismus, indem er ihr eine allen Angehörigen gemeinsame Seele zuordnet – die „Rassenseele“. Diese Rassenseele ist Trägerin und Ausdruck der jeweilige Rasse. Somit ist das Handeln des einzelnen Rassenangehörigen nur Ausdruck der dem Kollektiv innewohnenden treibenden Kraft. Um das eigentliche Ziel zu erreichen, sei es nötig, jegliche Form der Individualisierung zu unterdrücken, weil diese die Einheit der Rasse an sich gefährde. Ausprägungen dieser Rassenseele drückten sich in Kultur, Politik, Rechtssystem, Technik und Kunst aus. Auf diese Weise ließen sich am Verlauf der Weltgeschichte die Rassenzugehörigkeit der jeweiligen Völker an ihren kulturellen Leistungen ablesen. Diese Leistungen hätten also nicht Individuen geschaffen, sondern sind Ausdruck der kollektiven Seele der jeweiligen Rasse, welche das ihr innewohnende Ideal schaffen möchte. Die kulturellen Leistungen von Immanuel Kant, Richard Wagner, Meister Eckart und anderer Schaffenden dienen Rosenberg als unumstößlicher Beweis der Überlegenheit der nordischen Rasse.

Antisemitismus

Schon als Jugendlicher war Rosenberg fasziniert von der Schrift „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“ von Houston Stewart Chamberlain. Das Werk habe ihm die Bedeutung des „jüdischen Problems“ vermittelt. So warnt Rosenberg zum Beispiel im Dezember 1938 davor, dass die Juden sich darauf vorbereiteten, Europa „in einem Blutrausch [zu] vernichten“.

Im „Mythus“ stellt er das Judentum der „nordischen Rassenseele“ gegenüber und polarisiert beide Ebenen mit nicht näher begründeten Feindbildern. Die jüdische Religion wird als teuflisch bezeichnet, während die nordische Rassenseele eine neue Art von Göttlichkeit in sich trage. Hitler arbeitete mit derselben Technik durch Behauptungen, so seien die Arier „Gotteskinder“ und ein Jude wiederum die „Personifikation des Teufels“ oder gar „Widersacher jeden Menschentums“. Christus wiederum sei nach Rosenberg kein Jude gewesen, sondern eine Verkörperung der nordischen Rassenseele. Dieser vermeintliche Sachverhalt sei zunächst vom Judentum selbst, später von Paulus und dann auch von der römisch-katholischen Kirche falsch dargestellt worden, um der nordischen Rassenseele zu schaden („römisch-syrisches Prinzip“). Diese und mehrere andere Stellen (etwa die Behauptung, es sei der 1914 in Frankreich angeblich herrschende Rothschild gewesen, der den Ersten Weltkrieg unvermeidlich gemacht hätte) zeigen, dass die Grundlage des rosenbergschen Denkens weiterhin die rassistische Verschwörungstheorie blieb, auch wenn er versuchte, diese mit seinen intellektuell-geschichtsphilosophischen Spekulationen hinter sich zu lassen.

Im „Mythus“ fordert Rosenberg, Ehen und Geschlechtsverkehr zwischen „Ariern“ und Juden unter Todesstrafe zu stellen. Dieser Vorschlag führte bereits im März 1930 zu einem Gesetzesvorschlag der Nazis im Reichstag, den Globke später verwirklichte.

Rosenberg ließ 1939 in einer Denkschrift des Außenamtes zur Judenfrage erklären:

„Das Judentum erstrebt heute einen Judenstaat in Palästina. Aber nicht etwa, um den Juden in aller Welt eine Heimat zu geben, sondern aus anderen Gründen; das Weltjudentum müsse einen kleinen Miniaturstaat haben, um exterritoriale Gesandte und Vertreter in alle Länder der Welt senden und durch diese seine Herrschaftsgelüste vorwärtstreiben zu können. Vor allem aber will man ein jüdisches Zentrum, einen jüdischen Staat haben, in den man die jüdischen Hochstapler aus aller Welt, die von der Polizei anderer Länder verfolgt werden, unterbringen, mit neuen Pässen ausrüsten und dann in andere Teile der Welt schicken kann. Es ist zu wünschen, daß die Judenfreunde in der Welt, vor allem die westlichen Demokratien, die über soviel Raum in allen Erdteilen verfügen, den Juden ein Gebiet außerhalb Palästinas zuweisen, allerdings nicht, um einen jüdischen Staat, sondern um ein jüdisches Reservat einzurichten.“

Mit dieser Linie wollte das Außenamt sich vor allem bei arabischen Antisemiten beliebt machen.

Der formende Wille

Angelpunkt der Rosenbergschen Theorie war der einer Rassenseele wesenhafte Wille. Dazu definiert er den nicht weiter abgeleiteten Willen als formende Kraft:

„Und auf alle Zweifel und Fragen kennt der neue Mensch des kommenden Ersten Deutschen Reiches nur eine Antwort: ‚Ich will‘.“ Diese formende Kraft werde zuerst der Natur und später auch fremden Völkern eine erwünschte Gestaltung aufbürden. Dieses Merkmal nennt Rosenberg auch „dynamisch-willenhaft“ oder „geistig-architektonisch“.

Die „edelste Form“ der nationalsozialistischen Ethik wiederum drücke sich aus in genau diesem bloßen Wollen, welches sich selbst ein Ziel setzt. Darauf baut Rosenberg nun eine Kunsttheorie auf, deren Kernaussage es ist, dass ein Kunstwerk umso ästhetischer wirke, je mehr sich darin ein starker formender Wille zu erkennen gibt. Dies erinnert wiederum an Hitlers Aussage bezüglich der Architektur der Bauwerke des Reichsparteitages in Nürnberg, es handele sich um „steinerne Weltanschauung“.

Der Wille selbst ist nach Rosenberg keiner Moral untergeordnet. Die Rosenbergsche Metaphysik des Willens legitimiert also letzten Endes fast alles Handeln, – soweit dieses von einem starken Führer (Politik) gewollt und angeordnet ist: „Das ist die Aufgabe unseres Jahrhunderts: Aus einem neuen Lebens-Mythus einen neuen Menschentypus zu schaffen.“ Damit wird der Weg bereitet für die Unterwerfung fremder Völker, für Menschenzüchtung in Lebensbornen, Zwangssterilisation von genetisch Kranken sowie für die Tötung von „lebensunwertem“ Leben.

(Siehe: Geschichte der "Euthanasie" in der Zeit des Nationalsozialismus)

Bewertung

Rosenbergs Buch erreichte zwar eine Millionenauflage und galt nach Hitlers Bekenntnisbuch „Mein Kampf“ als zweites Standardwerk der NS-Ideologie. In Wirklichkeit kam die Veröffentlichung Hitler jedoch sehr ungelegen: Bereits Ende der zwanziger Jahre war Weisung an alle Propaganda-Stellen der Partei ergangen, den in der Bevölkerung wenig populären Antisemitismus zurückzuschrauben und statt dessen mehr auf Agrar- und Außenpolitik zu setzen. Rosenbergs radikal antisemitisches und obendrein noch antichristliches Buch bot nun neue Angriffsflächen, weshalb Hitler es als völlig inoffizielle Privatarbeit abtat. Als solche wurde es dann auch parteioffiziell erklärt. Die Bezeichnung „Chefideologe“ der NSDAP, die man immer noch in der Literatur findet, ist also mit Blick auf den „Mythus“ unzutreffend. Hitler empfand zudem das Werk als „zu schwer“ zu lesen, Goebbels tat es gar als „intellektuellen Rülpser“ ab, denn die Nationalsozialisten definierten sich ja bewusst als Tat- und Gewaltmenschen, denen jede Art des Intellektualismus fremd war. Daher kam Joachim Fest 1963 zu dem Urteil, Rosenberg sei „zum ‚Philosophen’ einer Bewegung [geworden], deren Philosophie am Ende nahezu immer die Macht war. Rosenberg selbst hat das freilich nie erkannt oder gar anerkannt und wurde gerade deshalb im Verlauf der Jahre, als der Machtgedanke die ideologischen Drapierungen zusehends überspielte, zum vergessenen Gefolgsmann: kaum noch ernst genommen, mutwillig übersehen und herumgestoßen, ein Requisit aus der ideologisch gestimmten Frühzeit, der Werbephase der Partei.“

Folgt man Rosenbergs Eigendarstellung von 1945, war das Verhältnis Hitlers zu Rosenberg und dem von ihm repräsentierten Neuheidentum keine Konstante in Hitlers Politik, sondern Hitler nahm diesbezüglich immer Rücksicht auf seine außenpolitischen Beziehungen zu Mussolini, der wiederum Rücksichten auf den Vatikan zu nehmen hatte. Mit der ersten großen deutschen Kirchenaustrittsbewegung der Geschichte, die 1937 begann, standen Rosenbergs "Mythus", sowie Rosenbergs "Dunkelmänner"-Schrift und "Protestantische Rompilger (1932)"-Schrift in engem Zusammenhang. Alle diese Schriften wurden damals in hohen Auflagen verkauft und breit in der Öffentlichkeit diskutiert.

Einzelnachweise