Motiv (Musik)
Definition
In der musikalischen Formenlehre bezeichnet der Begriff Motiv (lateinisch: movere = bewegen, spätlateinisch: motivus = beweglich) die kleinste melodische Sinneinheit, die als charakteristische Tonfolge für eine Komposition oder eines ihrer Formteile von Bedeutung ist, und auch vom Hörer so wahrgenommen wird. Dabei kann ein Motiv gegebenenfalls aus nur zwei Tönen bestehen (Beispiele: die aufsteigende Quarte (Jagdmotiv) und die absteigende kleine Terz (Kuckucksmotiv).) Die Abgrenzung des Motivs wird meistens durch Phrasierungseinschnitte, Pausen und andere Zäsuren deutlich gemacht. Ein weiteres Kennzeichen des Motivs ist, dass es im weiteren Verlauf der Komposition in wiederholter oder veränderter Form erneut auftaucht oder sich mit anderen Motiven verbindet. Dabei werden nicht alle Tonfolgen einer Komposition als Motive bezeichnet. Übergänge, Begleitfiguren, Verzierungen und stilabhängige Floskeln werden als unwesentlich für die Komposition von der Betrachtung ausgeschlossen. Bei ihnen bietet sich eher der Begriff der Figur an. Das Motiv ist somit als Keimzelle des musikalischen Werkes anzusehen. Seit der Klassik ist die sogenannte motivisch-thematische Arbeit von Bedeutung. Vor allem Ludwig van Beethoven war ein Meister in der Verwandlung und Kombination von Motiven. 60 Jahre danach (Spätromantik) ließ dann Anton Bruckner das Motiv sich langsam aus einem rudimentären Motivkern sich entwickeln. Die wesentlichen Intervalle des Motivs werden am Anfang präsentiert (3. Sinfonie), eine Vorgehensweise, die Beethoven schon in seiner 9. Sinfonie angewandt hat. In der Musikwissenschaft dient der Begriff des Motivs der Einzelanalyse von Werken oder Komponisten. Als Beispiel sei die Motivverarbeitung Beethovens im Gegensatz zu der Schuberts genannt.
Abgrenzung des Begriffs
Die Abgrenzung des Begriffs Motiv von anderen Begriffen wie Thema, Phrase, Periode(Satz) und Figur ist in der Praxis oft schwierig und leider nicht immer eindeutig. Vom Thema unterscheidet es sich dadurch, dass das Thema einen größeren musikalischen Abschnitt prägt. Dabei kann das Thema aus einem oder mehreren Motiven bestehen. Es stellt also den umfassenderen Begriff dar. Der Begriff der Phrase beinhaltet die Verbindung mehrerer Motive. Der Begriff der Periode (Satz) (die meistens aus mehreren Phrasen besteht) stellt im Gegensatz zum Motiv eher eine formale Gliederung in Takten dar. Die Figur hat im Gegensatz zum Motiv eine geringe individuelle Gestalt und eine oft rein satztechnische Funktion. Zum Zweck der musikalischen Analyse wird das Motiv manchmal in Teilmotive zerlegt, was der Definition als "kleinste musikalische Sinneinheit" eigentlich widerspricht. Gesondert zu betrachten sind ferner das Leitmotiv und die "idee fixe", die durch Kombination eines Motivs mit einer außerhalb der Musik liegenden Bedeutungsebene (Gefühl, Person) im 19. Jahrhundert entstanden (Richard Wagner, Hector Berlioz). Für einen imaginären Motivkern, auf den sich die Motive eines Werkes zurückführen lassen, haben Heinrich Schenker und Wolfgang Engelsmann die umstrittenen Begriffe Urlinie und Urmotiv eingeführt.
Erscheinungsformen des Motivs
Man kann zwischen primär melodisch, rhythmisch und harmonisch geprägten Motiven unterscheiden (wobei natürlich auch der Fall einer Ausgewogenheit der drei Komponenten zu erwähnen ist). Primär rhythmisch geprägte Motive sind zum Beispiel die Anfangstakte der 5.Sinfonie von Beethoven, oder das rhythmische Motiv des Todes in Schuberts Lied "Der Tod und das Mädchen".
Notenbeispiel 2-5:
Außerdem wird unterschieden zwischen Entwicklungsmotiv und Fortspinnungsmotiv. Das auf der linearen Melodik der Barockmusik beruhende Fortspinnungsmotiv bildet selten Schwerpunkte und scheut die Symmetrie. Auf den Anfangsimpuls der ersten Figur wird die Melodielinie meist ohne größere Unterbrechungen weitergeführt, bis ein neues Motiv auftaucht. Aufgrund der fortwährenden Aneinanderreihung und Verknüpfung ist es oft sehr schwer abzugrenzen. Daraus folgt seine Tendenz zur Selbstauflösung, die es für die motivisch-thematische Arbeit eher ungeeignet macht.
Notenbeispiel 6:
Das Entwicklungsmotiv herrscht in der homophon orientierten Musik der Klassik und Romantik. Es grenzt sich klar ab, und tendiert zu gleichbleibenden metrischen Schwerpunkten und zur Symmetrie. Das Motiv bleibt in seiner Substanz erhalten und ist besser zur Verarbeitung geeignet (Beispiel: Der zweite Satz der Sinfonie mit dem Paukenschlag von Joseph Haydn). Im Impressionismus tritt die motivisch-thematische Arbeit zugunsten der Harmonik und ausgefeilten Instrumentierung zum Teil zurück.
In der Musik des 20. Jahrhunderts sind beide Tendenzen vorhanden. Während die auch ansonsten formbewussten Paul Hindemith und Igor Strawinsky die motivisch-thematische Arbeit weiterhin "hochhalten", gehen andere, wie Olivier Messiaen und Steve Reich, dem Motiv bewusst aus dem Wege. Zu bemerken ist hierbei, dass auch die Zwölftontechnik der motivisch-thematischen Arbeit ihren Raum lässt. Auf Musik die rein auf Klang- oder Geräuschstrukturen aufbaut (Cluster, Minimal Music, Klangflächen, Mikropolyfonie, Aleatorik, Musique concrete), lässt sich die herkömmliche Motivanalyse nur schwer anwenden.
Häufig wird versucht, Motive aufgrund ihres emotionalen Gehalts, ihres Bewegungsverhaltens oder ihrer Intervallstruktur zu bezeichnen. Folgende Bezeichnungen sind häufig anzutreffen: Seufzermotiv (lateinisch = Suspiratio) für steigende oder fallende, meist vorhaltsartige Sekundmotive, Fanfarenmotiv, Kuckucksmotiv, Jagdmotiv;, Jubel/Triumphmotiv (4. Satz von Beethovens 5. Sinfonie), Klopf-/Repititionsmotiv ("Regentropfen-Prelude" von Frederic Chopin), Brunnenmotiv (z .B. bei Ottorino Respighi und Franz Liszt), Tonleitermotiv für auf- oder absteigende diatonische oder chromatische Tonleitern bzw. Tonleiterausschnitte, Schleifermotiv für einen schwungvoll aufsteigenden Tonleiterausschnitt (C-D-E-F, Pause, C-D-E-F...), eine Manier der Mannheimer Schule, Wölbungsmotiv für eine bogenförmig bzw. sinusförmig verlaufende Tonfolge, Treppenmotiv (C-E-D-F-E-G..), Wechselnotenmotiv, Dreiklangsmotiv, Rankenmotiv, Intervalldehnungsmotiv (F`-F``-F`-G``-F`-A``...) oder bezeichnet durch das vorherrschende Intervall (abfallendes Quintmotiv, steigendes Quartmotiv, etc.). Hierbei sei auf die barocke Figurenlehre und Affektenlehre verwiesen, die über hundert sich an die Rhetorik anlehnende Figurennamen kannte.
Verarbeitungsmöglichkeiten des Motivs
Die Verarbeitungsmöglichkeiten des Motivs sind: Wiederholung, Variation und Kontrast, wobei diese auch miteinander kombiniert werden können.
Bei der Wiederholung sind zu unterscheiden: die notengetreue Wiederholung direkt nach dem ersten Auftreten oder im weiteren Verlauf des Werkes, die mehrmalige Wiederholung des Motivs über zum Teil lange Strecken (Ostinato) (als berühmtestes Beispiel sei hierfür der Bolero von Maurice Ravel genannt), die Wiederholung des Motivs auf einer anderen Tonstufe (Sequenz)und die Wiederholung des Motivs in einer anderen Stimme (Imitation).
Die Variation beruht auf der Wiederholung des melodisch, rhythmisch oder harmonisch veränderten Motivs. Diese kann durch Verkleinerung oder Vergrößerung einiger oder aller Intervalle, durch Richtungsumkehrung der Intervalle (Inversion) oder durch Umkehrung des gesamten Motivs (Krebs) erfolgen. Rhythmische Veränderungen sind durch Vergrößerung (Augmentation) und Verkleinerung (Diminution) des gesamten Motivs oder die Verlängerung und Verkürzung einzelner Töne möglich. Harmonische Variationen sind Wiederholungen des Motivs in verändertem harmonischen Kontext.
Notenbeispiel:
Die Gegenüberstellung des Motivs mit einem anderen, sehr gegensätzlichen Motiv, kann dem Ursprungsmotiv neue Impulse verschaffen und Spannung schaffen. Hierbei verschmelzen die Motive im Zuge der motivisch-thematischen Arbeit oft miteinander, woraus häufig neue Motive entstehen.
Notenbeispiel:
Historische Entwicklung des Begriffs
Von Angelo Berardi aus dem 17. Jahrhundert stammt der Begriff motivo di cadenza für einen Impuls der Grundstimmen zur Schlussbildung. Berardi verwandte denselben Ausdruck auch für ein Melodiefragment zur kontrapunktischen Gestaltung. Jean Jacques Rousseau verstand unter dem Begriff motif die ursprüngliche und hauptsächliche kompositorische Idee eines Stückes. Die ersten Ansätze einer musikalischen Motivlehre liegen im 18. Jahrhundert, als Johann Mattheson und andere begannen, die Melodie in einzelne Satzglieder zu zerlegen. Der Begriff des Motivs war in der deutschen Musikwissenschaft noch nicht üblich, obwohl man den Hauptgedanken einer Arie motivo zu nennen pflegte. Die Begriffe Motiv, Thema und Soggetto wurden synonym verwendet. Mit Adolf Bernhard Marx (1837) fand der Begriff zu Beginn des 19. Jahrhunderts Eingang in die Musikwissenschaft. Marx sah das Motiv als "...Keim und Trieb... eine der musikalischen Gestaltung dienende Formel von zwei oder mehr Tönen.", wobei er schon zwischen Motiv und Thema unterschied. Hugo Riemann (1882) sah das Motiv als stets auftaktige Urzelle, was nicht unumstritten blieb.
Zitate zum Begriff Motiv
Beethoven über die Entstehung des Motivs/Themas sowie die motivisch-thematische Arbeit und die Formen der Variation im Jahr 1823 an den Violinisten Louis Schlösser: "Ich trage meine Gedanken lange, oft sehr lange mit mir herum, ehe ich sie niederschreibe. Dabei bleibt mir mein Gedächtnis so treu, dass ich sicher bin, ein Thema, was ich einmal erfasst habe, selbst nach Jahren nicht zu vergessen. Ich verändere manches, verwerfe und versuche aufs neue, so lange, bis ich damit zufrieden bin; dann beginnt in meinem Kopfe die Verarbeitung in die Breite, in die Enge, Höhe und Tiefe, und da ich mir bewusst bin, was ich will, so verlässt mich die zugrunde liegende Idee niemals, sie steigt, sie wächst empor, ich höre und sehe das Bild in seiner ganzen ausdehnung, wie in einem Gusse vor meinem Geiste stehen."
Literatur
Heinrich Lemacher, Hermann Schroeder: Formenlehre der Musik, Hans Gerig Verlag, Wien 1962 ISBN 3872520091
Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, Bärenreiter-Verlag, Kassel 1987 ISBN 3-7618-4460-3
Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre; Über Formprinzipien in den Inventionen und Fugen J. S. Bachs und ihre Bedeutung für die Kompositionstechnik Beethovens, Universal Edition, Wien 1973 ISBN 370240015X
Günter Altmann: Musikalische Formenlehre, K. G. Sauer Verlag München 1989 (Lizenzausgabe aus der DDR) ISBN 3-598-10873-7
Kurt von Fischer: Die Beziehungen von Form und Motiv in Beethovens Instrumentalwerken, Georg Olms Verlag, Hildesheim 1972 ISBN 3-487-04294-0
Weblinks
Siehe auch: Formenlehre (Musik), Thema, Phrase, Periode(Satz),Liedform, Satz, Sonate, Sonatenhauptsatzform, Sinfonie, Soggetto, Leitmotiv, Figur.