Zum Inhalt springen

Kulturnation

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 29. August 2007 um 15:44 Uhr durch Tönjes (Diskussion | Beiträge) (Änderungen von 195.145.160.206 (Beiträge) rückgängig gemacht und letzte Version von Rfortner wiederhergestellt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Der Begriff der Kulturnation beschreibt eine Auffassung, die unter einer Nation eine Gemeinschaft von Menschen versteht, die sich durch Sprache, Traditionen, Kultur und Religion miteinander verbunden fühlen, also durch Kulturleistungen und nicht durch Abstammung. Die Kulturnation bildet sich auf Grund dieser gemeinsamen Kriterien durch ein Nationalgefühl aus. Sie ist einem Staat gedanklich vorgelagert und von staatlichen Grenzen unabhängig. Basis einer Kulturnation ist ein Volk. Dieser Begriff eines Volkes ist von dem politisch-rechtlichen Begriff des Staatsvolkes, der die Gesamtheit aller Staatsangehörigen eines Staates darstellt, zu unterscheiden. Wenn von Kulturnation gesprochen wird, versteht man unter dem Volk den Träger des Volkstums, unabhängig davon, in welchem Staat es lebt, in welchen Grenzen es lebt und unter welcher Herrschaft.

Dem gegenüber steht der Begriff der Politischen Nation, die sich ebenfalls nicht über ethnische Merkmale definiert, sondern die Verbindung ihrer Menschen über eine Rechtsgemeinschaft festlegt. Weil eine Rechtsgemeinschaft ausschließlich auf dem über den Staat verlautbarten (fingierten) "Willen" ihrer Mitglieder beruht (Volkssouveränität), spricht man hier von Willensnation oder Staatsnation. Typische Vertreter sind die Schweiz oder die USA.

Die „deutsche Kulturnation“

Begriffsgeschichte

Der Begriff bürgerte sich Ende des 19. Jahrhunderts ein. Er wurde von Befürwortern einer weniger durch Politik und militärische Macht als durch Kulturmerkmale repräsentierten Nationsdefinition wie dem Historiker Friedrich Meinecke verwendet. Meinecke sah in den kulturellen Gemeinsamkeiten neben gemeinsamem „Kulturbesitz“ (z.B. die Weimarer Klassik) vor allem religiöse Gemeinsamkeiten. Von Volkstum ist bei ihm noch nicht die Rede.

Der Begriff der Kulturnation steht im engen Zusammenhang mit dem Aufkommen des Nationalismus. Das Bewusstsein, eine Nation zu sein, bildete sich im 19. Jahrhundert zuerst bei bestimmten Trägern einer hoch entwickelten Kultur, nicht bei der Masse der Bevölkerung. Das Bildungsbürgertum, später Burschenschaften und Turnvereine, waren die ersten, die sich dessen bewusst waren und angesichts der Fragmentierung Deutschlands in Kleinstaaten den Begriff der Nation als oppositionellen politischen Begriff verstanden. Sie wollten freie Deutsche sein und nicht mehr Untertanen in kleinen Fürstentümern mittelalterlicher Prägung. Als 1848 in der Frankfurter Paulskirche die Grundrechte diskutiert wurden, wurde festgelegt:

Jeder ist ein Deutscher, der auf dem deutschen Gebiet wohnt...die Nationalität ist nicht mehr bestimmt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat... das Wort "Deutschland" wird fortan ein politischer Begriff.

Die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 verstand damit Deutschland als politische Nation, nicht als ethnisch fundierte Gemeinschaft, nicht als Kulturnation.

Das schließlich nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gegründete Deutsche Reich definierte die Nation zunächst nicht neu. Das alte Staatsbürgerschaftsrecht seiner Gliedstaaten blieb bestehen. Das preußische Staatsbürgerrecht von 1842 war nicht ethnisch gewesen, es musste von der Realität des Zweivölkerstaates ausgehen. Erst die Völkische Bewegung schuf die geistigen Grundlagen, die dem Begriff der Nation eine ethnische Bedeutung verliehen. 1913 wurde das ius sanguinis, das Abstammungsrecht, bei der Festlegung der deutschen Staatsangehörigkeit gesetzlich festgelegt. Die nationale Identität wurde damit von oben verordnet, es wurde nun einheitlich festgelegt, wer zum deutschen Volk gehörte und wer nicht, wer aus dem Volkskörper auszugrenzen war. Das Reich benutzte die Vorstellung einer Kulturnation auf völkischer Grundlage am Vorabend des Ersten Weltkriegs zur inneren Einigung.

Die Ableitung der Staatsbürgerschaft von der "Volksnation" war nur der Schlußpunkt der inneren Einigung. Vorangegangen waren seit Mitte der 1880er Jahre verschiedene Bestrebungen: die Germanisierungspolitik gegenüber den ethnischen, vorwiegend polnischen Minderheiten, Kolonialismus , der Sozialdarwinismus im biologistischen Rassismus und im Antisemitismus. Die innere Einheit der Nation wurde hergestellt über die Konstruktion einer überlegenen ethnisch-kulturellen deutschen Identität einerseits und die Ausgrenzung von "fremden" Elementen andererseits. Die protestantische Prägung der Kultur des deutschen Nationalstaates fand nicht nur Anwendung gegen den katholischen "Erzfeind" Frankreich, sondern auch im Inneren, im Kulturkampf gegen die Katholiken und "kosmopolitische Reichsfeinde" wie die Sozialisten. Die Mehrheitskultur wurde durch Ausgrenzung gefestigt. Die Ausgegrenzten, Katholiken wie Sozialisten, bildeten Milieus mit eigener Kultur, die bis in die Gegenwart andauern.

Der Begriff in Deutschland heute

Der deutsche Nationsbegriff ist heute nicht mehr der einer ethnisch verstandenen Kulturnation, die weder an einen Nationalstaat noch an eine demokratische Legitimation gebunden ist. Die Nation erarbeitet sich ihre „Werte“ im Wesentlichen demokratisch als gesatztes Recht. Dies gilt für „Kultur“ im Sinn der Menge der Prozesse, die sich in einer Gesellschaft entwickelt haben. Die Nation definiert sich auch über ihre Kulturleistungen, nicht nur über ethnische Kriterien. Beispielsweise im §6 Bundesvertriebenengesetz „Abstammung“ nur eines von mehreren Merkmalen der Volkszugehörigkeit: „Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.“ Die Schwierigkeiten der Integration von Menschen mit deutscher „Abstammung“ aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zeigte, das ethnische Zugehörigkeit als Merkmal zur Definition der Volkszugehörigkeit nicht ausreicht. Die Einführung von Integrationskursen zu Eingliederung von Einwanderern drängt die Bedeutung ethnischer Merkmale noch weiter zurück. In diesem Sinn gewinnt der Begriff der „Kulturnation“ eine entsprechend größere Bedeutung.

Literatur

Georg Schmidt: Friedrich Meineckes Kulturnation. Zum historischen Kontext nationaler Ideen in Weimar-Jena um 1800. In: Historische Zeitschrift 284, 2007, S. 597–622.