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Suprematismus

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Suprematismus ist die Bezeichnung einer Stilrichtung der bildenden Kunst Russlands, die von 1915 bis zum Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts Geltung hatte. Sie wurde von dem russische Künstler Kasimir Malewitsch nach seiner neo-primitivistischen und kubofuturistischen Phase in den Jahren 1912/1913 aus den Ideen des Futurismus heraus entwickelt. Vor allem durch El Lissitzky beeinflußte der Suprematismus die Stilrichtungen De Stijl und das Bauhaus. Es handelt sich dabei um die erste, konsequent ungegenständliche oder abstrakte Kunstrichtung: Eine von Gegenstandsbezügen befreite Kunst stellt die Reduktion auf einfachste geometrische Formen in den Dienst der Veranschaulichung 'höchster' menschlicher Erkenntnisprinzipien. Zu den Hauptwerken des Suprematismus zählen die von Malewitsch geschaffenen Gemälde Schwarzes Quadrat auf weißem Grund (1913) [1], Rotes Quadrat (1915), Weißes Quadrat auf Weißem Grund (1919).

Die Begegnung mit der Moderne - die Russische Avantgarde

Parallel zu den historischen Umwälzungen im Russland von 1905 bis 1920 suchten russische Künstler nach neuen Wegen, ihrem Bild der Welt einen neuen Ausdruck zu geben. In sehr rascher Folge entstanden unterschiedlichste Kunstbewegungen, die die Kunstströmungen des westlichen Europas aufgriffen und weiterentwickelten. Besonders einflußreich war dabei eine 1908 von der russischen Zeitschrift "Das Goldene Vlies" initiierte Kunstausstellungen mit Werken der bedeutendsten zeitgenössischen westeuropäischen Künstler. Vertreten waren unter anderem Henri Matisse, Auguste Renoir, Georges Braque, Paul Cezanne, Vincent van Gogh, Kees van Dongen, Alfred Sisley und Pierre Bonnard.

1911 folgte eine Ausstellung der Gruppe "Karo Bube", in der eine Vielzahl von Künstlern der Russischen Avantgarde beteiligt waren und die die Entwicklung der Russischen Malerei und Plastik zur Abstraktion begründete.

Wie inspirierend diese Begegnungen auf die Entwicklung in der modernen russischen Kunst war, zeigt sich an der künstlerischen Entwicklung von Malewitsch, der sich durch den Einfluß der französischen Impressionisten, den Futuristen und Kubisten über einen post-impressionistischen und neo-primitivistischen Stil erst den Kubofuturismus und dann schließlich den Suprematismus entwickelte.

Malewitschs theoretischer Ansatz

Malewitsch suchte einen alternativen Begriff für ein Kunstideal, das nicht vergegenständlicht und das dem Begriff "Gott" in der Religion, dem Prinzip der "gegenständlich-technischen Vollkommenheit" in der Wissenschaft oder der "Schönheit" in der akademischen Kunst entsprach. Diese Ideale erzeugen Ziele und Methoden. Diese zu erreichen, setzt im Menschen die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt in Gang. Doch aufgrund der unvereinbaren Unterschiedlichkeit der drei Richtungen Religion, Kunst und Wissenschaft beginnt der Mensch seine Umwelt auch unterschiedlich zu begreifen, das heißt je nach der eingeschlagenen Richtung zu klassifizieren, zu vergegenständlichen. Da aber derselbe Gegenstand von den drei Sichtweisen auf drei verschiedene Weisen beschrieben werden kann, sei nach Malewitsch bewiesen, dass dieser Gegenstand eine eigene, vom Menschen unabhängige Seinsgrundlage besitze, deren Wesen vom Menschen bisher noch nicht vollständig erfasst wurde.

Das höchste Prinzip, das Malewitsch formulierte, ist deshalb das, was alle drei Erkenntnisrichtungen gemeinsam haben. Jedes ihrer Ideale ist absolut gesehen ungegenständlich, so dass deren gemeinsamer Nenner, die Gegenstandslosigkeit, für Malewitsch das Höchste ist - Suprematismus. Den Begriff leitete er (über die Vermittlerrolle, welche die französische und polnische Sprache spielte) von dem lateinischen Wort suprematia (Überlegenheit, Herrschaft oder Oberhoheit) ab.

Schwarzes Quadrat, Rotes Quadrat - Hauptwerke des Suprematismus

Initialwerk dieser Richtung war das Bild Schwarzes Quadrat von Malewitsch, ein auf weißem Grund gemaltes rein schwarzes Ölbild. Es wurde erstmals mit 38 weiteren supremantistischen Bildern von Malewitsch in der Ausstellung 0,10 in Petrograd im Jahre 1915 ausgestellt. Im Katalog war es schlicht als "Viereck" bezeichnet. Malewitsch selber nannte es die "ungerahmte Ikone meiner Zeit". Die Reaktion auf das Bild war eindeutig: ein Affront gegenüber der akademischen und realistischen Malweise, man bezeichnete es als das "tote Quadrat", das "personifizierte Nichts". Der Kunsthistoriker Alexander Nikolewitsch Benois bezeichnete es in der Petrograder Zeitschaft "Die Sprache" als "den aller-, allerabgefeimtesten Trick in der Jahrmarktsbude der allerneusten Kunst". Dem Verriß schloß sich der russische Schriftsteller Dmitri Mereschkowski an, der von der "Invasion der Rüpel in der Kultur" sprach. Malewitsch antwortete in einem langen Brief an Benois auf diese Kritik, der heute als frühes Dokument für die suprematistische Philosophie gilt:

..ich bin glücklich, dass das Gesicht meines Quadrates mit keinem einzigen Meister und keiner Zeit zur Deckung gebracht werden kann. Stimmt's? Ich gehorchte den Vätern nicht und bin ihnen nicht ähnlich. Und ich bin eine Stufe...Meine Philosophie lautet: Vernichtung der Städte und Dörfer alle 50 Jahre, Vertreibung der Natur aus der Kunst, Vernichtung von Liebe und Aufrichtigkeit in der Kunst, um nichts in der Welt aber Abtötung des lebendigen Quells im Menschen...Und nie werden Sie auf meinem Quadrat das Lächeln der holden Psyche erblicken. Und nie wird mein Quadrat Matratze für die Liebesnacht sein.

1915 folgte Das Rote Quadrat; ein in leuchtendem Rot gemaltes Quadrat auf beigem Untergrund. Es befindet sich heute ebenso wie Schwarzes Quadrat auf weißem Grund im Staatlichem Russischen Museum in Petersburg. Für Malewitsch war es "das Signal der Revolution", ihm folgten weitere farbige Bilder, die allerdings zunehmend vielteilig wurden.

Malewitsch malte nicht expressiv wie Kandinsky, sondern konstruierte seine sachlichen Quadrate und Rechtecke. Alle verwendeten Formen leiten sich aus dem Quadrat ab. Ein Beispiel für seine formenreicheren Bilder ist Dynamischer Suprematismus Nr.57, dass sich im Museum Ludwig, Köln befindet.

Die gegenstandslose Freiheit, die er anstrebte, sollte nicht chaotisch sein, wie die der Futuristen, sondern sie folgte einer formal-energetischen Ökonomie, die organisierte Strukturen hervorbringt. Seine Bilder sind Modelle einer Wirklichkeit, die, obwohl sie mit den herkömmlichen Mitteln nicht erfasst werden kann, dennoch existiert. Es sollen jedoch nicht nur neue Erkenntnismöglichkeiten geschaffen werden. Da die alten Formsprache und Begriffe das alte Weltbild und damit auch das Handeln des Menschen bestimmt haben, ist die neue Kunst genauso in der Lage, über die Schaffung eines neuen Weltbildes auch die menschliche Gesellschaft zu erneuern.

Malewitsch lehrte den Suprematismus an einer Kunstschule in Witebsk (bei Minsk Weißrussland), an der zur selben Zeit auch Marc Chagall lehrte. Zu diesem suprematistischen Zentrum gehörten unter anderem El Lissitzky, Warwara Stepanova und Nathan Altman.

Der Stil erstreckte sich auf alle Bereiche der bildenden Kunst, wie Malerei, Bildhauerei, Typographie, Architektur, Plakatkunst und Design (Möbel, Geschirr). So wurden unter anderem Witebsker Essensrationsmarken zur Zeit der "Kriegsökonomie" suprematistisch gestaltet.

Der Suprematismus, der die abstrakte Kunst begründete, beeinflußte von 1916 bis 1920/21 insbesondere Ivan Puni, Ljubow Sergejewna Popova und Alexander Rodtschenko, die sich allerdings nach 1921 stilistisch weiter entwickelten. Popova und Rodtschenko wurden in der Nachfolge bedeutende Vertreter des Konstruktivismus.

El Lissitzky - die Brücke zum Westen

Der wichtigste Künstler, der die von Malewitsch entwickelte Kunstform und das damit verbundene Gedankengut ins Ausland weitergab, war der Maler El Lissitzky. Lissitzky war von Malewitschs suprematistischen Werken tief beeindruckt und übertrug Malewitschs Ansatz auf seine Proun-Konstruktionen, die er selber als "Umsteigestation von Malerei zu Architektur" bezeichnete. Er richtete 1923 in Berlin, Hannover und Dresden Ausstellungsräume für gegenstandslose Kunst ein. El Lissitzky stand in engem Austausch mit Theo van Doesburg und schlug damit die Brücke zu De Stijl und dem Bauhaus.

Wie Malewitsch trug auch El Lissitzky zur theoretischen Untermauerung dieser Kunstrichtung bei:

Der Suprematismus führte die Malerei vom Zustand der antiken benannten gegenständlichen Zahl in den Zustand der modernen abstrakten Zahl, die rein vom Gegenständlichen ist, die eine Zahl ist, die ihrer Natur nach einen selbständigen Platz neben den Gegenständen einnimmt.

Suprematismus - vom Neuen Russland nicht akzeptiert

Für die kurze Zeit von 1917 bis 1921 verlief die politische und die künstlerische Revolution parallel. Unterstützt von dem Volkskommissar Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski konnte sich eine "neue" Kunst ohne direkte Einmischung des Staates entwickeln. Malewitsch und Lissitzky lehrten an der Staatlichen Hoschule in Moskau. In der Frühphase der Oktoberrevolution war Malewitschs Suprematismus sogar eine Art Massenagitationsmedium - Malewitschs Biograf Stachelhaus nennt dies eine Ironie der Kunstgeschichte, denn mit der "Neuen Ökonomischen Politik", die ab 1921 verkündet wurde, war das Postulat der geistigen Freiheit des Suprematismus nicht vereinbar. Die "Neue Ökonomische Politik" forderte eine Kunst, die sich politisch funktionalisieren läßt.

Nach Ansicht der neuen kommunistischen Regierung war Malewitschs Kunst ein Produkt der bürgerlichen Kunsttradition und dem Proletariat unverständlich. Auch der libare Kunstkommissar Lunatscharski kann nicht verhindern, dass Malewitsch zusnehmend in den Ruf eines dekadenten Formalisten gerät. Nach 1926 durfte Malewitsch in Russland weder publizieren noch weiterhin Bilder ausstellen. 1929 kehrte Malewitsch zu Figurenbildern zurück, bei denen überwiegend Bauern ikonenartig überhöht dargestellt sind.

Die Verdrängung des Suprematismus in der russischen Kunstwahrnehmung hielt lange an. Noch im Vorwort zu einem Ausstellungskatalog "Russische Kunst des 20. Jahrhunderts" schreibt 1984 der Russe Vitalij S. Manin über das Kunstgeschehen anfang des 20. Jahrhunderts:

Das russsiche Kunstleben der Vorrevolution zeichnete sich durch seine Farbigkeit, durch die Vielfalt der entstehenden und manchmal sehr kurzlebigen Kunstinnovationen aus. Einige Richtungen dieser Zeit bildeten den Stolz der russischen Kunst, andere waren eine Art Vorstudie für späteres Nachdenken, die dritten dienten noch lange als Nährboden für eine Vielzahl kreativer Seitenwege, durch die Zeit sehr vielschichtig umgeformt und sogar mit spürbarer Resonanz in der sowjetischen Kunst späterer Jahre.

Der Suprematismus wird mit keinem Wort erwähnt.

Die Rehabilitierung der Avantgarde der russischen Kunst im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts fand erst mit der Perestroika statt. Erst 1988 gab es in St. Petersburg eine umfassende Retrospektive mit Werken von Malewitsch.

Zitierte Quellen

  • Michael Maegraith, Alexander Tolnay (Hrg); Russische Kunst des 20. Jahrhunderts - Sammlung Semjonow, Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 1984, zitiert ist S. 17
  • Ausstellungskatalog El Lissitzky, Galerie Gmurzynska, Köln 1976, zitiert ist S. 64
  • Heiner Stachelhaus; Kasimir Malewitsch - Ein tragischer Konflikt, Claassen Verlag Düsseldorf, 1989, ISBN 3-546-48681-1, zitiert sind S.20ff, S. 49

Weitere Literatur

  • Gray, Camilla: Das große Experiment. Die russische Kunst 1863-1922, Köln 1974.
  • Malewitsch, Kasimir: Die Frage der nachahmenden Kunst, in: Essay on art 1915-1928, hg. v. Troels Andersen, Bd. I, Kopenhagen 1968.
  • Malewitsch, Kasimir: Suprematismus - die gegenstandslose Welt, Witebsk 1922.
  • Karin Thomas; Bis heute - Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert, Dumont Verlag Köln 1998, ISBN 3-7701-1939-8