Geschichte des Antisemitismus seit 1945
Dieser Artikel befasst sich nur mit Formen von heutiger Judenfeindlichkeit, bezogen auf die deutsche Situation. Der Artikel Judenfeindlichkeit gibt eine Übersicht zu anderen Formen und verwandten Themen.
Judenfeindlichkeit ist auch heute ein akutes Problem. Denn nach dem mahnenden Fanal des Holokaust verschwanden Judenhass und rassistische Vorurteile keineswegs, sondern wirken in vielfacher Weise weiter. Das zeigen zunehmende Anfeindungen und Anschläge gegen Juden und jüdische Einrichtungen weltweit, in Europa und in Deutschland.
Dieser Artikel beschreibt aktuelle Phänomene der deutschen Situation und geht ihren Hintergründen nach. Er knüpft an die Wiki-Artikel an, die historische Formen von Judenfeindlichkeit darstellen: u.a. Antisemitismus, Antijudaismus, Rassismus und Nationalsozialismus. Dort wurde die Entstehung der immer wiederkehrenden antijüdischen Stereotypen, ihre ideologische Durchsetzung im 19. Jahrhundert und ihre organisatorische Vollstreckung beschrieben.
Hier wird versucht, den Zusammenhang zwischen heutigen antijüdischen Verhaltens- und Denkmustern zu früherer Judenfeindlichkeit herzustellen, ohne die verschiedenen Formen und Motive unkritisch gleichzusetzen.
Indizien für andauernden Antisemitismus
Die jüdischen Minderheiten in Europas Staaten, aber auch sonstige aufmerksame Zeitzeugen nehmen in den letzten Jahren eine erneute Zunahme von direkter und indirekter Anfeindung gegen Juden wahr: Grabschändungen, Pöbeleien, Anschläge gegen jüdische Einrichtungen, Hassbriefe und Morddrohungen gegen exponierte Vertreter des Judentums, wachsende Gewaltbereitschaft und Organisierung von Gewalt bei rechten Parteien und Neonazis.
Diese geschehen in einem sozialpolitischen Umfeld, das schon länger eine Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen, historische Unkenntnis bei Jugendlichen, Stimmenfang mit antisemitischen Tönen selbst bei etablierten Parteien, "Vergangenheitsentsorgung" bei Intellektuellen, wieder salonfähige Judenwitze, ein gescheitertes NPD-Verbot usw. duldet und teilweise aus Steuermitteln fördert.
Die Forschung unterscheidet zwischen diffusen dumpfen Vorurteilen und Ressentiments in der Bevölkerungsmasse, deren politische Wirkungen schwer einschätzbar sind ("Volksantisemitismus"), und einem aggressiven Auftreten, das offen auch gegen jüdische Menschen und Einrichtungen agiert oder dazu aufruft.
Einige dieser Phänomene werden in Medien und Wissenschaft kontrovers diskutiert und interpretiert. So ergaben einige soziologische Untersuchungen (siehe weblinks) zum Teil ganz verschiedene Zahlen. Das zeigt das Problem, "latenten" und "manifesten" Antisemitismus klar zu erkennen und ihren Zusammenhang zu analysieren.
Rechter Antisemitismus und antisemitische Straftaten in Deutschland
Eindeutig antisemitische Positionen, die sich oft antizionistisch ausgeben, findet man heute vor allem bei alten und neuen Nazis. Diese wiederum findet man in rechtsextremen Parteien wie der NPD. Ein profiliertes Mitglied dieser Partei ist der Rechtsanwalt Horst Mahler. Da die NPD parlamentarisch wirken will, distanzierte sie sich im Verbotsverfahren nach außen von der Gewalt z.B. der Skinheads.
Antisemitische Gewaltbereitschaft findet man vor allem bei rechtsextremen Jugendgruppen wie den Neonazis, die sich nur lose organisieren, um einem Verbot und Strafverfolgung zu entgehen.
Verlässliche Daten zu antisemitischen Straftaten sind schwer zu finden: Das Bundeskriminalamt z.B. führt keine gesonderte Statistik darüber. Taten mit antisemitischem Hintergrund sind oft nicht als solche erkennbar, sondern werden unter gewöhnlicher oder fremdenfeindlicher Gewaltkriminalität verbucht. Hinzu kommt eine restriktive Informationspolitik der Bundesregierung: Eine Anfrage der PDS im September 2004 nach konkreten Zahlen wurde z.B. nicht beantwortet.
Eine Zunahme rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Straftaten ist jedoch unverkennbar. Im Jahr 2000 gab es nach amtlicher Zählung insgesamt 15.951 solche Taten: Das bedeutete einen Anstieg von 58% gegenüber dem Vorjahr.
Als spezifisch antisemitische Straftaten gelten vor allem Schändungen jüdischer Gräber und Friedhöfe. Diese haben sich seit der deutschen Einheit enorm vermehrt. Auch einige Brandanschläge auf Synagogen waren seitdem zu verzeichnen. Graffiti-Anschläge auf Erinnerungsstätten des Holocaust sind ohnehin an der Tagesordnung.
Nach einer offiziellen Statistik gab es 2001 mindestens 715 solcher im engeren Sinne antisemitischen Taten, im Jahr 2003 bereits 1059 (siehe weblinks), in den Jahren 1998-2002 insgesamt etwa 3400. Besonders hervorzuheben sind:
- die zweimalige Sprengung des Grabmals von Heinz Galinski, dem früheren Vorsitzenden des jüdischen Zentralrats (1998);
- der Bombenanschlag auf russische Emigranten in Düsseldorf, bei dem 10 Menschen jüdischen Ursprungs schwer verletzt wurden (Juli 2000);
- der knapp vereitelte Anschlag auf die Münchner Synagoge zu ihrer Wiedereröffnung (November 2003).
Die Täter werden in Deutschland nur sehr selten gefunden. Ihre Verfolgung wird in der Regel nach 5 Monaten eingestellt. Die Aufklärungsrate liegt im europäischen Vergleich fast an letzter Stelle.
Linker Antisemitismus
Die Vorstellung eines internationalen jüdischen Kapitalismus verbindet rechtsextreme mit manchen linksextremen Gruppen, obwohl diese sich sonst bekämpfen. Sie bejahen häufig den gewaltsamen "Befreiungskampf des palästinensischen Volkes" gegen den "Stellvertreter der USA in Nahost". Sie unterstützen diejenigen Palästinenserorganisationen, die Israels Existenzrecht verneinen. Sie vergleichen die israelische "Besatzungsmacht" gern mit den Nationalsozialisten.
Zum Anlass für diese deutsche Israelfeindschaft wurde der Sechs-Tage-Krieg 1967. Danach solidarisierten sich linke Gruppen so mit dem Anliegen der Palästinenser, dass sie die israelische Politik insgesamt verurteilten. Sie verbinden ihren "Antiimperialismus" mit einem "sekundären" Antisemitismus, der Versatzstücke des "klassischen" Antisemitismus verwendet.
Im "antiimperialistischen Befreiungskampf" kam es 1977 zu einer Kooperation von RAF-Terroristen mit palästinensischen Flugzeugentführern, die jüdische Passagiere "selektierten", um sie zu ermorden.
1991 beteiligten sich deutsche Militante - darunter das mutmaßliche RAF-Mitglied Andrea Klump - an einem Bombenanschlag in Budapest auf russische Juden.
2002 erschien im linksgerichteten Magazin "Kult" (Coburg) die Aufforderung: "Don't buy Jewish!" Damit wurde zum Boykott israelischer Produkte aufgerufen und auf die Nationalsozialisten angespielt: "Deutsche, kauft nicht beim Juden!" Auch bei den Hausbesetzern in Hamburg konnte man den Aufruf "Boykottiert Israel!" hören.
Auch bei Globalisierungsgegnern findet man oft eine "Kapitalismuskritik", die jüdische Personen ins Blickfeld rückt, um das "raffende" Kapital zu symbolisieren. Das suggeriert wie bei den Nationalsozialisten, die "Zinsknechtschaft" könne nur durch deren Entfernung gebrochen werden.
Dieser antikapitalistische Antisemitismus reicht weit zurück: Schon im 18. Jahrhundert benutzten Sozialisten ebenso wie Konservative antisemitische Ressentiments, um gegen den verhassten Manchesterliberalismus zu polemisieren. Zu ihnen gehörte der Erfinder des Schlagworts "Antisemitismus": Wilhelm Marr.
"Gemäßigter" Antisemitismus
Teilweise antisemitisches Gedankengut erschien im Zusammenhang verschiedener "Fälle" in der jüngeren bundesdeutschen Geschichte. Diese waren verschieden motiviert, und auch die öffentliche Reaktion unterschied sich.
Philipp Jenninger (1988)
Der damalige Bundestagsvizepräsident sprach in seiner Rede zur "Reichskristallnacht" 1988 von Hitlers "Leistungen" vor 1938, die große Bevölkerungsteile dazu gebracht hätten, ihm zu folgen. Das löste öffentliche Empörung aus, die seinen Rücktritt erzwang.
Daniel Goldhagen (1996)
Der amerikanische Historiker jüdischen Glaubens eröffnete mit seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" eine neue Debatte um die Kollektivschuld der Deutschen und einen besonderen deutschen Antisemitismus, der zum Holocaust beigetragen habe.
Martin Walser (1998)
Der deutsche Autor erhielt damals den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In seiner Dankesrede erklärte er im Beisein von Ignaz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland: Auschwitz werde als "Moralkeule" und zur "Dauerrepräsentation unserer Schande" benutzt. Die kollektive zwanghafte Erinnerung an den Holokaust müsse beendet werden. Er fand dafür viel Zustimmung in der Gesellschaft. Ignaz Bubis hat sein Lebenswerk, die Versöhnung mit den Deutschen, daraufhin für gescheitert erklärt und sich in Israel beerdigen lassen. Walsers Roman Tod eines Kritikers (2001) spielte unübersehbar auf den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki an. Er wurde von einem Teil der Feuilletonisten (z.B. Frank Schirrmacher) als antisemitisch kritisiert, weil er mit antijüdischen Klischees arbeite.
Norman Finkelstein (2001)
Der jüdische US-Amerikaner erhob in dem Buch Die Holocaust-Industrie den Vorwurf, eine von jüdischer Seite vorangetriebene "Holocaust-Industrie" fördere inzwischen durch ihre skrupellose Ausbeutung jüdischen Leidens den Antisemitismus und die Leugnung des Holocaust. Damit zog der Autor den Vorwurf des Antisemitismus nicht nur von der Seite der Kritisierten auf sich.
Jürgen Möllemann (2002)
Dieser frühere Vizeführer der FDP und Vorsitzender der deutsch-arabischen Gesellschaft erklärte wiederholt, Terroranschläge gegen Israelis seien legitimer "Widerstand". Er machte den jüdischen Journalisten Michel Friedman für die Zunahme des Antisemitismus in Deutschland mitverantwortlich. Das wurde als antisemitisches Klischee verstanden, das den Juden die Schuld am Hass auf sie gibt. Möllemann wiederholte diesen Vorwurf in einem Wahlkampfflugblatt, das er mit undurchsichtigen Spenden finanzierte. Er appellierte an eine latent antisemitische Mentalität und versuchte, sie populistisch abzuschöpfen, um Stimmen aus dem rechten Spektrum für die FDP zu gewinnen. Nachdem diese ihn ausschloss und er einer Strafverfolgung entgegensah, nahm er sich das Leben.
Martin Hohmann (2003)
Dieser CDU-Abgeordnete erklärte in einer Rede in seinem Wahlkreis Fulda/Hessen, Juden hätten maßgeblich die russische Oktoberrevolution 1917 gelenkt. Sie könnten daher ebenso als "Tätervolk" im Blick auf Stalins Verbrechen gelten wie die Deutschen im Blick auf Hitlers Verbrechen. Das führte zu einer heftigen Debatte. Der Bundeswehrgeneral Reinhard Günzel solidarisierte sich öffentlich mit Hohmann und wurde daraufhin entlassen. Auch Hohmann wurde später aus der CDU ausgeschlossen.
Verschleierungen
Verschiedene Deutungsmuster erschweren das Erkennen und Benennen von weiterwirkendem Antisemitismus heute:
- Antisemiten nennen sich nicht mehr so und stehen öffentlich selten zu ihren eigentlichen Zielen. Bei näherem Hinschauen zeigen sie jedoch erkennbar antisemitische Denk- und Handlungsmuster. Paradebeispiel dafür ist die Leugnung des Holocaust: Kaum ein heutiger Antisemit wird sagen, dass dieses Verbrechen richtig war. Da man aber zugleich eine deutschnationale bis faschistische Politik propagiert, müssen deren historisch anschauliche Konsequenzen geleugnet werden. Die Leugnung ist also Merkmal des Antisemitismus.
- Antisemiten können sich heute teilweise hinter übermäßiger Toleranz verstecken: Bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein redet man oft nur von "Gewaltbereitschaft", "Fremdenfeindlichkeit", "jugendlicher Selbstfindung", wo konkrete Verbrechen gegen Juden und andere Minderheiten gedacht und vorbereitet werden.
- Antisemiten können sich auch mit anderen Ideologien verbinden, so dass ihre Judenfeindlichkeit nicht sofort erkennbar ist. So gibt es in Deutschland eine Tradition von rechter wie linker "Kapitalismuskritik" mit deutlich antisemitischen Anklängen.
- Die historische Unterscheidung zwischen religiösem "Antijudaismus", rassistischem "Antisemitismus" und politischem "Antizionismus" kann dem Geschichtsrevisionismus in die Hände spielen. Dabei zeigen antisemitische, antijüdische und antizionistische Motive oft weitreichende Berührungspunkte.
- Ein falscher Philosemitismus, der Juden allgemein für "gute Menschen" erklärt, kann Antisemiten in die Hände arbeiten und in Antisemitismus umschlagen. Der jüdische Autor Rafael Seligmann z.B. kritisiert eine Idealisierung von Juden, die sowohl sie selbst als auch Beobachter überfordert. In ihrem Idealbild enttäuschte Philosemiten würden dann schnell zu Antisemiten. Jüngstes Beispiel dafür war der öffentliche Umgang mit dem kritikwürdigem Verhalten von Vorzeige-Juden wie Michel Friedman.
- Antisemitismus kann sich als Kritik an der Politik Israels tarnen. Diese wird oft kurzschlüssig mit Nazipolitik verglichen und gleichgesetzt: Israelis sind "auch nicht besser", verhalten sich "rassistisch", "unterdrücken" und "terrorisieren" mit den Palästinensern zugleich die Weltgemeinschaft. Man unterstellt ihnen überzogene Reparationsforderungen und fordert massenwirksam deren Beendung. So dient Israels Politik als Projektionsfläche, um sich von der eigenen historischen Verantwortung zu entlasten. Die berechtigte Kritik daran wird missbraucht, um antisemitische Vorurteile zu wecken und subtil antisemitisches Gedankengut zu verbreiten.
- Ebenso kurzschlüssig wäre es aber, berechtigte Kritik an Israels Politik zu unterdrücken: Denn auch das kann den Antisemitismus fördern. Die israelischen Autoren Avi Primor und Uri Avnery haben dieses Muster angeprangert.
Ob Kritik an Israel antisemitische Klischees wachruft oder ob dieser Vorwurf berechtigte Kritik unterdrücken will, ist im Einzelfall schwer zu entscheiden: Das zeigte sich in der Antisemitismus-Debatte.
weblinks
Chroniken antisemitischer Vorfälle und Statistiken antisemitischer Straftaten:
antisemitismus_berlin.htm antisemitismus_thueringen.htm antisemitismus_mecklenburg.htm antisemitismus_hamburg.htm antisemitismus_bayern.htm