Judenzählung
Die „Judenzählung“ war der Versuch einer statistischen Erfassung der deutschen jüdischen Soldaten während des 1. Weltkriegs. Anstatt Feigheitsvorwürfe gegenüber den Juden auszuräumen, förderte sie jedoch antisemitische Ressentiments.
Der „Centralverband deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ hatte, wie auch andere jüdischen Verbände, 1914 seine Mitglieder zum Kriegsdienst gedrängt. Durch die Teilnahme am Krieg wollten viele Juden ihren Patriotismus beweisen. Gleichzeitig waren die antisemitischen Vorurteile, die Juden unter anderem besondere „Feigheit“ nachsagten, in Teilen der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden im Deutschen Reich kam ihre Teilnahme am 1. Weltkrieg in den Augen vieler Deutscher einer "Bewährungsprobe" gleich.
Zur Mobilisierung erschienen vielfältige Flugblätter und Aufrufe wie beispielsweise die folgende Passage aus einem Artikel der „Jüdischen Rundschau“ von 1914:
- „Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber anderen Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen.“
Der anfängliche Kriegstaumel, der unter dem kaiserlichen Motto „Nun gibt es für mich nur noch Deutsche“ stand, war mit dem mörderischen Stellungskrieg bald vergessen. Antisemitische Stimmen und Organisationen wie der „Reichshammerbund“ wurden immer lauter und behaupteten, dass die Juden sich ihren Pflichten entzögen. Sie brachten auch entsprechende Pamphlete in Umlauf, die sowohl die Juden als auch die Regierung von Theobald von Bethmann Hollweg angriffen. Bethmann-Hollweg wurde unter anderem als „Kanzler des deutschen Judentums“ bezeichnet. Walther Rathenau musste im März 1915 seine Stellung im Kriegsministerium angesichts der Anfeindungen aufgeben. Er schrieb 1916: „Je mehr Juden in diesem Kriege fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, daß sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu betreiben“
Am 11. Oktober 1916 formulierte der Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn einen Erlass, der die umfassende statistische Erfassung der wehrpflichtigen, aber auch der zurückgestellten Juden im deutschen Militär anordnete. Das Bekanntwerden dieser Maßnahme führte zu Protesten von Seiten jüdischer Vereine, gleichzeitig schürte sie antijüdische Ressentiments und auch tätliche Übergriffe sowohl in der Truppe als auch in der Bevölkerung. Sie bedeutete eine schwere Enttäuschung der jüdischen Soldaten und führte zu ihrer Isolation.
Die „Judenzählung“ wurde ohne öffentliche Debatte beendet und ihre Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht. Spätere Untersuchungen ergaben, dass die Kriegsteilnahme der deutschen Juden vergleichbar war mit der von anderen: von den 550.000 deutschen Juden haben ca. 100.000 am Krieg teilgenommen, 78.000 kämpften an der Front, 12.000 starben im Krieg und über 30.000 wurden mit Orden für ihre Tapferkeit ausgezeichnet.
Ungeachtet dieser Fakten hat alleine die Durchführung einer statistischen Erhebung zur Verstärkung antisemitischer Vorurteile aber auch zur Ablenkung von den Verantwortlichkeiten für den Kriegsverlauf beigetragen. Am 15. September 1918 wurde ein „Judenausschuss“ unter General von Gebsattel gegründet, dessen Aufgabe es war, „die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.“ Die Judenzählung findet sich implizit in der Dolchstoßlegende wieder, die behauptete, dass Deutschland „im Feld unbesiegt“ und von einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung "hinterrücks erstochen" worden sei.
Literatur
- Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln: Könemann, 1997, ISBN 3-89508-540-5.
- Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band VIII. Am Vorabend des Holocaust, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, ISBN 3-610-00418-5.
- Volker Ullrich: Fünfzehntes Bild: Drückeberger, in: J. H. Schoeps, J. Schlör [Hrsg.]: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, Augsburg: Weltbild (Bechtermünz), 1999, ISBN 3-8289-0734-2, S. 210 - 217.
- Arnold Zweig: Die Judenzählung (1.11.1916), in: L. Heid, J. H. Schoeps: Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Ein Lesebuch, München: Piper, 1994, ISBN 3-492-11946-8, S. 224 - 227.