Fettmilch-Aufstand
Der Fettmilchaufstand des Jahres 1614 war eine von dem Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch angeführte, judenfeindliche Revolte in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main. Der Aufstand der Zünfte richtete sich ursprünglich gegen die Misswirtschaft des von Patriziern dominierten Rats der Stadt, artete aber in die Plünderung der Judengasse und in die Vertreibung aller Frankfurter Juden aus. Er wurde schließlich mit Hilfe des Kaisers, der Landgrafschaft Hessen und von Kurmainz niedergeschlagen.
Die Vorgeschichte
Der Aufstand hatte seine Ursache in der Verfestigung des patrizischen Regiments in Frankfurt am Ende des 16. Jahrhunderts sowie im Unmut der Bürger über die Misswirtschaft des Rats und die geringen Einwirkungsmöglichkeiten der Zünfte auf die Politik der Freien Reichsstadt. Die gerechtfertigten politischen Forderungen waren aber von Beginn an mit judenfeindlichen Ressentiments behaftet.
Ausbruch der Unruhen
Die Unruhen nahmen ihren Ausgang am 9. Juni 1612 als die Bürgerschaft anlässlich der Wahl des neuen Kaisers Matthias vom Rat die früher bei solchen Gelegenheiten übliche, öffentliche Verlesung der Privilegien der Stadt verlangte. Darüber hinaus wurden Forderungen nach einem verstärkten Mitsprachrecht der Zünfte im Stadtregiment laut. Denn der Rat wurde nicht von allen Bürgern gewählt, sondern erneuerte sich nur aus ich selbst heraus. Er bestand aus 42 Mitgliedern, von denen 24 den patrizischen Familien angehörten, die in der Gesellschaft Alten Limpurg zusammengeschlossen waren. Die übrigen 18 Sitze teilten sich die Patrizier der Gesellschaft Frauenstein und die Vertreter der Handwerkszünfte.
Über eine stärkere Repräsentation hinaus verlangten die Zunftmeister 1612 auch nach niedrigeren Getreidepreisen und eine Senkung der von den Frankfurter Juden angeblich geforderten Wucherzinsen. Auch die Zahl der Bewohner der Judengasse sollte begrenzt werden. Dazu kamen Forderungen der Reformierten, die nach der bürgerlichen Gleichstellung im lutherischen Frankfurt verlangten und sich später in großer Zahl dem Aufstand anschließen sollten. Für die judenfeindliche Wendung, die der Aufstand schließlich nahm, waren unter anderem Kaufleute und andere Schuldner von Geldverleihern aus der Judengasse verantwortlich. Sie hofften, zusammen mit ihren Gläubigern auch ihre Verpflichtungen ihnen gegenüber los zu werden.
Brüchiger Kompromiss: Der Bürgervertrag
Im Streit um die Verlesung der Privilegien wurde der Krämer und Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch, der seit 1602 in Frankfurt ansässig war, zum Wortführer der Zunftmeister. Sie wandten sich an Kaiser Matthias, als dieser sich anlässlich seiner Krönung in Frankfurt aufhielt. Der Kaiser lehnte eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankfurts zunächst ab. Als die Zünfte daraufhin aber einen Ausschuss bildeten, der mit dem Rat verhandeln sollte, setzte er eine Schlichtungskommission ein.
In dieser Kommission wiederum, die von den benachbarten Landesfürsten, dem Kurfürsten von Mainz und dem Landgrafen von Hessen gestellt wurde, sahen die Patrizier eine Gefährdung des Status der Freien Reichsstadt. Daher willigten sie am 21. Dezember 1613 in einen Bürgervertrag ein. Diese neue städtische Verfassung, die im Wesentlichen bis 1806 in Kraft blieb, sah eine Erweiterung des Rats um 18 Mitglieder vor sowie einen Neuner-Ausschuss der Zünfte, der das Recht hatte die Rechnungsbücher der Stadt zu prüfen.
Erneute Verschärfung der Lage
Bei dieser Prüfung stellte sich 1613 heraus, dass Frankfurt hoch verschuldet war und der Rat unter anderem Mittel verschwendet hatte, die der Armen- und Krankenfürsorge hätten dienen sollen. Strafgelder hatten die Steuereinnehmer gleich für sich behalten. Zudem wurde bekannt, dass der Patrizier Johann Friedrich Faust die Bestätigung des Bürgervertrags durch den Kaiser zu hintertreiben suchte.
Weiterer Konfliktstoff entzündeten sich an der sogenannten „Judenstättigkeit“, der Verordnung, die das Leben der Juden in Frankfurt regelte. Das Schutzgeld, das die Juden nach dieser Verordnung zu zahlen hatten, war nicht an die Stadtkasse gegangen, sondern unter den Ratsmitgliedern aufgeteilt worden. Um zu verhindern, dass dies publik wurde, ließ der Rat Neudrucke der „Judenstättigkeit“ konfiszieren. Gleichzeitig kamen gerüchte auf, die Juden machten mit den Patriziern gemeinsamen Sache. Vinzenz Fettmilch veröffentlichte schließlich die Urkunde, mit der Kaiser Karl IV. 1349 seine Herrschaftsrechte über die jüdischen Einwohner Frankfurts an die Stadt abgetreten hatte. Darin fand sich der verhängnisvolle Satz, dass der Kaiser die Stadt nicht dafür zur Verantwortung ziehen werde, falls die Juden „von Todes wegen abgingen oder verdürben oder erschlagen würden“. Dies verstanden viele als Freibrief für ein Pogrom.
Der Aufstand
Als die enorme Verschuldung Frankfurts – 9½ Tonnen Goldgulden – öffentlich wurde, stürmte eine Menge am 6. Mai 1613 den Römer, das Frankfurter Rathaus, und erzwang die Herausgabe der Schüssel zur Stadtkasse an den Neuner-Ausschuss. In den folgenden Monaten konnte der Rat nur Geld ausgeben, das ihm der Ausschuss bewilligte. Aufgrund der beiderseitigen Verletzungen des gerade erst beschlossenen Bürgervertrags setzte sich der Kaiser erneut für einen Kompromiss ein. Am 15. Januar 1614 unterzeichneten beide Parteien einen neuen Vertrag.
Androhung der Reichsacht
Da der Rat aber weiterhin keine Belege für den Verbleib der 9½ Tonnen Goldgulden beibringen konnte, setzte sich unter den Zünften der radikale Flügel unter Vinzenz Fettmilch durch. Am 5. Mai 1614 ließ er die Stadttore von seinen Anhängern besetzen, erklärte den alten Rat für abgesetzt und ließ seine Mitglieder im Römer inhaftieren. Daraufhin erschien am 26. Juli ein kaiserlicher Herold in der Stadt, der die Wiedereinsetzung des Rats forderte. Als dem nicht Folge geleistet wurde, ließ der Kaiser am 22. August jedem Frankfurter die Reichsacht androhen, der nicht bereit war, sich durch Eid seinem Befehl zu unterwerfen.
Die Plünderung der Judengasse
Die Aufständischen, die sich lange der Unterstützung des Kaisers sicher gewähnt hatten, richteten ihre Wut nun gegen das schwächste Glied in der Kette ihrer vermeintlichen Gegner. Zunächst zog eine Menge von Handwerksgesellen mit dem Ruf „Gebt uns Arbeit und Brot“ durch die Stadt. Gegen Mittag des 22. August aber stürmten die mittlerweile betrunkenen Gesellen die Frankfurter Judengasse, die ein abgeschlossenes Ghetto in der Stadt bildete. Bei den Kämpfen kamen ein Angreifer und zwei jüdische Verteidiger der Gasse ums Leben. Die Juden flohen schließlich auf den angrenzenden Friedhof oder in den christlichen Teil der Stadt, wo viele von Frankfurter Bürgern versteckt wurden. Mittlerweile plünderte der aufständische Mob die Judengasse, bis er gegen Mitternacht von der Frankfurter Bürgerwehr vertrieben wurde. Bei der Plünderung waren Schäden im Wert von 170.000 Gulden entstanden.
Das Ende Fettmilchs
Fettmilch erzwang am nächsten Tag die Vertreibung aller Juden aus Frankfurt. Die meisten suchten in den Nachbarstädten Höchst und Hanau Zuflucht. Die judenfeindlichen Exzesse und der damit heraufbeschworene Konflikt mit dem Kaiser ließ sein Ansehen nun jedoch rasch sinken; immer mehr seiner Anhänger wandten sich von ihm ab. Am 28. September erklärte ein kaiserlicher Herold am Römer, dass die Reichsacht über ihn sowie über den Schreiner Konrad Gerngroß und den Schneider Konrad Schopp verhängt worden sei, die als Rädelsführer der Rebellion galten. Erst am 27. November wagte es ein Frankfurter Schöffe, den bis dahin mächtigsten Mann der Stadt zu verhaften. In der Folge wurden noch vier weitere Frankfurter in die Acht erklärt, darunter der Sachsenhäuser Seidenfärber Georg Ebel.
In einem langwierigen Prozess, der sich fast das ganze Jahr 1615 hinzog, wurden Fettmilch und insgesamt 38 Mitangeklagte nicht direkt wegen der Ausschreitungen gegen die Juden verurteilt, sondern wegen Majestätsverbrechen, da sie die Befehle des Kaisers missachtet hatten. Über sieben von ihnen wurde das Todesurteil verhängt, das am 28. Februar 1616 auf dem Frankfurter Rossmarkt vollstreckt wurde. Vor der Enthauptung schlug man ihnen die Schwurfinger ab, Fettmilch wurde darüber hinaus nach seiner Hinrichtung gevierteilt. Die Köpfe von Fettmilch, Gerngroß, Schopp und Ebel wurden am Frankfurter Brückenturm aufgespießt, wo sie noch zur Zeit Goethes zu sehen waren. Fettmilchs Haus in der Töngesgasse wurde abgerissen und an seiner Stelle eine Schandsäule aufgerichtet, die in deutscher und lateinischer Sprache seine Verbrechen festhielt.
Am Tag der Hinrichtung wurden die Juden, die bis dahin in Höchst Zuflucht gefunden hatten, in einer feierlichen Prozession in die Judengasse zurückgeführt. An deren Tor wurde ein Reichsadler angebracht mit der Umschrift „Römisch kaiserlicher Majestät und des heiligen Reiches Schutz“.
Folgen des Aufstands
Mit Hilfe der kaiserlichen Unterstützung setzten die Patrizier ihre Ziele weitgehend durch. Die Zahl der Mitglieder der Gesellschaft Alten Limpurg im Rat wurde zwar auf 14 begrenzt, alle Klagen der Bürgerschaft gegen den alten Rat jedoch abgewiesen. Das Gewicht im Rat verschob sich zugunsten der Patrizier der Gesellschaft Frauenstein, der Mitglieder nicht von ihrem Landbesitz sondern vom Handel lebten.
Die Zünfte mussten eine Geldstrafe von 100.000 Gulden an den Kaiser zahlen und wurden aufgelöst. Die Juden sollten für sämtliche Sachschäden aus der Stadtkasse entschädigt werden, erhielten das Geld aber nie. Und – obwohl Opfer des Aufstands – wurden auch sie verschärften Restriktionen unterworfen. Die neue „Judenstättigkeit“ für Frankfurt, die von den kaiserlichen Kommissaren aus Hessen und Kurmainz erlassen wurde, bestimmte, dass die Zahl der jüdischen Familien in Frankfurt auf 500 beschränkt bleiben und dass pro Jahr nur 12 jüdische Paare eine Heiratserlaubnis erhalten sollten.
Erst mehr als 100 Jahre später gelang es der Frankfurter Bürgerschaft auf friedlichem Weg, die Rechte zu erhalten, die sie im fehlgeleiteten Fettmilch-Aufstand verspielt hatte. Mit Unterstützung des Kaisers wurde 1726 der Neuner-Ausschuss wieder eingeführt, der durch die Kontrolle der Finanzen die schlimmsten Missstände des patrizischen Stadtregiments abstellte. Das Ghetto der Judengasse bestand in Frankfurt bis in napoleonische Zeit.
siehe auch: Geschichte von Frankfurt am Main, Judenfeindlichkeit (Spätmittelalter bis Frühe Neuzeit)
Literatur
- Lothar Gall (Hg.), FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt, Sigmaringen 1994
- Waldemar Kramer (Hg.), Frankfurt Chronik, Frankfurt am Main 1964
- Walter Gerteis, Das unbekannte Frankfurt. Neue Folge, Frankfurt am Main 1963