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Darmstädter Wort

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Das Darmstädter Wort zum politischen Weg unseres Volkes war ein evangelisches Bekenntnis in der Tradition der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Es wurde von deren Autor, dem reformierten Theologen Karl Barth, und dem lutherischen Theologen Hans Joachim Iwand verfasst und von Martin Niemöller sowie weiteren „Dahlemiten“ in der Bekennenden Kirche (BK) überarbeitet. Am 8. August 1947 gab der Bruderrat der EKD, das fortbestehende Leitungsorgan der BK, das Bekenntnis als seine verbindliche Position heraus.

Anders als das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom 19. Oktober 1945 benannte das Darmstädter Wort konkrete „Irrwege“ der Christen und Kirchen, die aus Sicht der Autoren lange vor 1933 die nötigen, auch sozialrevolutionären Gesellschaftsveränderungen blockiert und so dem Nationalsozialismus den Weg zur Macht geebnet hatten. Damit wollte es das Verhältnis von Kirche und Staat nach nahezu 400 Jahren protestantischer Staatskirchen-Tradition von „Thron und Altar“ neu bestimmen. Die nur dem Evangelium verpflichtete Kirche sollte Anwalt der Armen und der Völkerversöhnung werden. Sie sollte so dem „Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens“ dienen: Damit wollten die Autoren das Ziel eines gesamtdeutschen Demokratischen Sozialismus als Zukunftsaufgabe festhalten, das der damals begonnene Kalte Krieg unerreichbar werden ließ.

Das Darmstädter Wort wurde nicht vom gesamten Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) anerkannt. Es bildete jedoch ab 1969 eine wichtige theologische Basis für den Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR.

Wortlaut

Wort zum politischen Weg unseres Volkes

1. Uns ist das Wort von der Versöhnung der Welt mit Gott in Christus gesagt. Dies Wort sollen wir hören, annehmen, tun und ausrichten. Dies Wort wird nicht gehört, nicht angenommen, nicht getan und nicht ausgerichtet, wenn wir uns nicht freisprechen lassen von unserer gesamten Schuld, von der Schuld der Väter wie von unserer eignen, und wenn wir uns nicht durch Jesus Christus, den guten Hirten, heim rufen lassen auch von allen falschen und bösen Wegen, auf welchen wir als Deutsche in unserem politischen Wollen und Handeln in die Irre gegangen sind.

2. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, den Traum einer besonderen deutschen Sendung zu träumen, als ob am deutschen Wesen die Welt genesen könne. Dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt. - Es war verhängnisvoll, daß wir begannen, unseren Staat nach innen allein auf eine starke Regierung, nach außen allein auf militärische Machtentfaltung zu begründen. Damit haben wir unsere Berufung verleugnet, mit den uns Deutschen verliehenen Gaben mitzuarbeiten im Dienst an den gemeinsamen Aufgaben der Völker.

3. Wir sind in die Irre gegangen, als wir begannen, eine „christliche Front“ aufzurichten gegenüber notwendig gewordenen Neuordnungen im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Das Bündnis der Kirche mit den das Alte und Herkömmliche konservierenden Mächten hat sich schwer an uns gerächt. Wir haben die christliche Freiheit verraten, die uns erlaubt und gebietet, Lebensformen abzuändern, wo das Zusammenleben der Menschen solche Wandlung erfordert. Wir haben das Recht zur Revolution verneint, aber die Entwicklung zur absoluten Diktatur geduldet und gutgeheißen.

4. Wir sind in die Irre gegangen, als wir meinten, eine Front der Guten gegen die Bösen, des Lichts gegen die Finsternis, der Gerechten gegen die Ungerechten im politischen Leben und mit politischen Mitteln bilden zu müssen. Damit haben wir das freie Angebot der Gnade Gottes an alle durch eine politische, soziale und weltanschauliche Frontenbildung verfälscht und die Welt ihrer Selbstrechtfertigung überlassen.

5. Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, dass der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.

6. Indem wir das erkennen und bekennen, wissen wir uns als Gemeinde Jesu Christi freigesprochen zu einem neuen, besseren Dienst zur Ehre Gottes und zum ewigen und zeitlichen Heil der Menschen. Nicht die Parole: Christentum und abendländische Kultur, sondern Umkehr zu Gott und Hinkehr zum Nächsten in der Kraft des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist das, was unserem Volk und inmitten unseres Volkes vor allem uns Christen selbst Not tut.

7 Wir haben es bezeugt und bezeugen es heute aufs neue: „Durch Jesus Christus widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“ Darum bitten wir inständig: Lasst die Verzweiflung nicht über euch Herr werden, denn  C h r i s t u s  ist der Herr. Gebt aller glaubenslosen Gleichgültigkeit den Abschied, lasst euch nicht verführen durch Träume von einer besseren Vergangenheit oder durch Spekulationen um einen kommenden Krieg, sondern werdet euch in dieser Freiheit und in großer Nüchternheit der Verantwortung bewusst, die alle und jeder einzelne von uns für den Aufbau eines besseren deutschen Staatswesens tragen, das dem Recht, der Wohlfahrt und den inneren Frieden und der Versöhnung der Völker dient.

(Quelle: Kirchliches Jahrbuch 1945-1948, Gütersloh 1950, S. 220 ff.)

Theologischer Kontext

Das Darmstädter Wort nahm zu aktuellen Entwicklungen aus dem Glauben an die in Jesus Christus geschehene Versöhnung heraus Stellung (1. Satz). Voraus ging ein Referat von Karl Barth auf der Darmstädter Sitzung des BK-Bruderrats am 5. und 6. Juli 1947 mit dem Titel: Die Kirche - die lebendige Gemeinde des lebendigen Herrn Jesus Christus. Darin entfaltete Barth sein theologisches Verständnis der Kirche als dynamische Wirklichkeit, die vor die Tatsache der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung der Welt (2. Kor 5,19) ...gestellt sei. Diese Tatsache offenbare uns Menschen zugleich das Gericht Gottes über unsere alte, das Kommen seiner neuen Welt (2 Kor 5,17).

Barth stellte also die enge Beziehung zwischen der in Jesus Christus schon geschehenen Versöhnung Gottes mit der Welt zum kommenden Reich Gottes, das diese Welt umstürzt und verwandelt, heraus. Um sich dieser Zukunft öffnen zu können, sei die Kirche aufgerufen, das Gericht Gottes über diese Welt wahrzunehmen und sich der eigenen Schuldgeschichte zu stellen. Nur so könne sie die richtige Antwort auf die Situation ihrer Gegenwart geben.

Barth sah damals zwei Hauptgefahren für die Kirche:

  • die Tendenz zur rückwärtsgewandten Bewahrung der eigenen Traditionen. Diese drohe gerade dort, wo die Kirche sich auf Bibel und Glaubensbekenntnis berufe, ohne zu merken, dass diese in die jeweilige Gegenwart hinein zu aktualisieren sind:
Noch beteuern die Christen aufrichtig ihren Glauben oder doch den ihrer Väter, und schon ist ihnen Gottes Offenbarung zu einer Gespensterwelt von ehrwürdigen Wahrheiten und hohen Moralgesetzen geworden.
  • das Bündnis der Kirche mit gesellschaftlichen und staatlichen Mächten. Christen neigten dazu, ihren Glauben mit der jeweils herrschenden religiös-politischen Weltanschauung zu kombinieren und der Welt statt Jesus Christus „das Christentum“ anzubieten:
Sie sagen: 'Gottes Wort' und bemerken gar nicht mehr, dass sie damit eine dieser Kombinationen meinen...

Nur eine ausschließlich ihrer Botschaft, dem Evangelium, verpflichtete Kirche kann im Sinne Barths frei sein für die Welt und ihr glaubwürdig die Hoffnung des Reiches Gottes verkünden.

Kirchlicher Kontext

Das Darmstädter Wort reagierte auf die damalige Restauration volkskirchlicher Strukturen und nationalistischer Tendenzen im deutschen Protestantismus und kennzeichnete diese als Fortsetzung alter „Irrwege“. Denn die evangelischen Amtsträger aus der Zeit des Nationalsozialismus bestimmten nach dem 2. Weltkrieg großenteils weiterhin die Kirchenpolitik und sorgten für die rasche Wiederherstellung der Kirchenbehörden. Der Ratsvorsitzende der neugegründeten EKD, Otto Dibelius, beschrieb dieses Bestreben wie folgt:[1]

Was heißt Neubau? Wir haben 1945 da wieder angefangen, wo wir vorher aufhören mussten.

Gemeint waren die Bemühungen um einen föderalen Bund von Landeskirchen unter einem Landesbischof und einer zentralen Leitung als Deutsche Evangelische Kirche vor 1933. Während vor allem die Preußische Landeskirche sich im Kirchenkampf spaltete, blieben die meisten Landeskirchen während der NS-Herrschaft „intakt“, indem sie jeden offenen Bruch mit den Staatsbehörden vermieden und damit die Bekennende Kirche organisatorisch lähmten.

Gemeint war auch die deutschnationale, obrigkeitsstaatliche, antidemokratische und antisozialistische Tradition der DNVP, der vor 1933 mit Dibelius die meisten evangelischen Pfarrer angehört hatten. Sie wanderten nach 1945 meist in die neugegründete CDU ein, die der Rat der EKD schon bei seiner Gründungskonferenz in Treysa (Oktober 1945) als „Partei, die sich auf christliche Grundsätze verpflichtet, wohlwollend“ begrüßte. Kritiker wie Paul Schempp sahen darin eine theologisch und historisch lernresistente Politisierung des Christentums, die bruchlos an die Bejahung des „positiven Christentums“ im Programm der NSDAP durch eine große protestantische Mehrheit 1933ff anknüpfte.

Auf dieser Linie lagen auch Aussagen der Stuttgarter Schulderklärung wie diese:

Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat...

Tatsächlich hatten die Landesbischöfe 1939 alle Christen einhellig zur „Hingabe an den Führer“ im bevorstehenden Krieg aufgerufen und teilweise ausdrücklich die Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum behauptet. Demgemäß protestierte der Rat der EKD heftig gegen das alliierte Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 1. April 1946, das die Entnazifizierung und Entmilitarisierung deutschen Spruchkammern übertrug: Es widerspreche dem Grundatz nulla poena sine lege (ohne Gesetz keine Strafe), da es auch Handlungen und Gesinnungen unter Strafe stelle, die „vom damaligen Gesetzgeber als rechtmäßig und gut eingeschätzt“ worden seien.[2] Schon vorher hatte die US-Militärregierung Bischof Theophil Wurm als Sprecher der ganzen BK anerkannt und der EKD eine „Selbstreinigung“ gestattet, wonach kirchliche Amtsträger, die NSDAP-Mitglieder gewesen waren, von selbstbestimten kirchlichen Spruchkammern überprüft werden durften. In diesen sollten Angehörige der BK sitzen, die aber ebenfalls häufig NSDAP-Mitglieder oder -Wähler gewesen waren.

Am 10. Oktober 1946 erreichte der Rat der EKD sogar, dass die Besatzungsbehörden die BK als Ganzes als „antifaschistische Widerstandsorganisation“ anerkannten. Zwei Tage darauf fand in der Stiftung Christoph Blumhardts in Bad Boll ein fünftägiges Treffen des radikalen BK-Flügels statt, der dazu aufrief, in der EKD eine Opposition zu bilden, die die Traditionen der BK-Synoden von Barmen und Dahlem 1934 bewahren und unter neuen Bedingungen fortsetzen solle. Daraus ging eine bundesweite Kirchlich-theologische Arbeitsgemeinschaft (KTA) hervor.

Nur 12 der eingeladenen Bruderratsmitglieder nahmen an der Darmstädter Tagung teil. Sieben von ihnen erstellten am 7. August 1947 unter dem Vorsitz von Hermann Diem die auf Barths und Iwands Vorentwürfen basierende Endfassung des Darmstädter Wortes. Diese wurde am 8. August von allen Tagungsteilnehmern beschlossen. Entgegen Niemöllers Empfehlung, den Text zuerst dem Rat der EKD zuzusenden und dessen Zustimmung abzuwarten, wurde der Text sofort gedruckt und am 12. August 1947 als Nr. 8 der Flugblätter der Bekennenden Kirche an alle evangelischen Gemeinden, Kirchenbehörden und Landeskirchenbehörden geschickt.[3]

Politischer Kontext

Iwand, der Hauptautor, sah auf der Ratstagung die Gefahr, dass die Kirche als Rückzugsgebiet für den verdrängten Nationalismus benutzt wird. Dies zeigte sich für ihn etwa in der Karfreitagspredigt von Helmut Thielicke vom März 1947: Darin lehnte dieser jede Rede von einer Schuld der Deutschen ab und klagte dafür die Alliierten an.

Iwand verlangte eine gründliche Abkehr der Kirche von dieser rückwärtsgewandten nationalistischen Tradition. Sie müsse die „Revision“ einer jahrhundertelangen Fehlentwicklung aus eigener Kraft schaffen und könne dabei nicht auf andere blicken. Nicht die umgebende Welt, sondern die Neigung zu Zweckbündnissen mit den Mächten, die Gesellschaft und Staat aktuell beherrschten, bedrohe die Kirche. So müsse sie der Welt zwangsläufig das rettende und helfende Wort schuldig bleiben. Dagegen helfe nur eine echte Reformation der Kirche. Diese habe unbedingten Vorrang vor der Reform der Gesellschaft. Wolle die Kirche zu Letzterem beitragen, müsse sie Ersteres schaffen.

Das bezog sich auf die damals sichtbare Tendenz der Westmächte, Entnazifizierung und Entmilitarisierung Deutschlands zu beenden. Die Sozialisierung und staatliche Kontrolle der Schlüsselindustrien (Bergbau, Kohle, Stahl) wurde verhindert. Die drei Westzonen wurden ohne Rücksprache mit der Sowjetunion vereint. Deutschlands Teilung war mit dem Scheitern der Konferenz in Paris vom 4. Juli 1947 eingeleitet: Die Sowjetunion lehnte ihre Teilnahme am Marshallplan ab und warf den USA vor, sie wollten damit Europa spalten. Die Truman-Doktrin war seit März 1947 in Kraft, und die CDU rückte von ihrem Ahlener Programm ab, um bei den USA eher Gehör zu finden.

Iwand sagte zu diesen Tendenzen:

Mit diesem Glauben an eine echte Reformation habe ich den Eindruck, dass wir nicht von den Besatzungsmächten verstanden werden. Dies führt dazu, dass sie sich mit den alten kirchlichen Kräften besser verstehen und wir darum als Bekennende Kirche...nur wenige Freunde haben.

Auf diesem Hintergrund versuchte das Darmstädter Wort, die Herausforderung des Evangeliums für die deutsche Nachkriegssituation zu beantworten und die Reformation der Kirche trotz und entgegen der Restauration in den Westzonen und drohenden Teilung Deutschlands anzugehen.

Verschiedene Vorentwürfe

Der nationalistische und militaristische Irrweg

Da Gottes Versöhnung mit der Welt (These 1) die Versöhnung der Völker (These 7) ermöglicht und darauf zielt, stellte Iwand in der Aussprache über Barths Referat zunächst die Frage: Was heißt es denn, ich bin ein Deutscher? Er glaubte, dass die Versöhnung der Deutschen mit den Völkern zunächst eine Klärung des Verhältnisses zur eigenen, deutschen Geschichte erfordere.

Darum rückte sein Vorentwurf vom 6. Juli 1947 den nationalistischen Irrweg (These 2) in den Vordergrund: Der "Traum der besonderen deutschen Sendung", der seit den antinapoleonischen Befreiungskriegen geträumt wurde und im Kaiserreich wie im Dritten Reich "den schrankenlosen Gebrauch politischer Macht" rechtfertigte, war 1945 unwiderruflich ausgeträumt.

Barths Vorentwurf vom 10. Juli fügte These 2 den Irrweg der "militärischen Machtentfaltung" hinzu: Nationalismus und Militarismus bildeten im Kaiserreich eine Einheit, und beides zusammen war eine wesentliche Voraussetzung für Hitlers Aufstieg.

Der feudalistische und kapitalistische Irrweg

Kennzeichnete diese Aussage zunächst die allgemeinpolitische Entwicklung, so wandte sich Iwands These 3 der Rolle der Kirche zu: Er beschrieb sie als "christliche Front gegen die notwendigen gesellschaftlichen Neuordnungen" und als "Bündnis mit den konservativen Mächten". Hier nannte Barth ergänzend "Monarchie, Adel, Armee, Großgrundbesitz, Großindustrie". Das markierte das sogenannte "christliche Abendland" als in Wahrheit feudalistische und kapitalistische Klassengesellschaft.

Ihr gegenüber betonte Iwand - zum ersten Mal in einer halboffiziellen Kirchenerklärung - „das Recht auf Revolution“. Die Haltung der Kirchen im Kaiserreich wie in der Weimarer Republik war durchgängig von einer tiefen Abneigung gegen Demokratie und Sozialismus geprägt; dieselben Vertreter, die die Novemberrevolution als Katastrophe beklagten, bejubelten die „Nationale Revolution“ der Machtergreifung Hitlers wie eine Erlösung. Das habe, so Iwand, „furchtbare Folgen gezeitigt“. Weder er noch Barth erwähnten jedoch den Holocaust.

Der Irrweg des Kalten Krieges

These 4 stellt das "freie Angebot der Gnade Gottes" der "weltanschaulichen Frontenbildung" gegenüber, die damals wieder um sich griff. Iwands Vorentwurf nannte konkret die Parole "Christentum oder Marxismus", die Kirchenvertreter schon wenige Jahre nach der Katastrophe ausgaben, obwohl sie zuvor kaum jemals "Christentum statt Nationalsozialismus" gesagt hatten. Er erläuterte die Folgen:

Diese Parole hat uns verführt, zu schweigen, als wir zum Zeugnis für Recht und Freiheit gefordert waren, und denen politisch zu folgen, denen wir als Christen widerstehen mussten.

Dieser Satz zum christlichen Widerstandsrecht wurde in die Endfassung nicht übernommen. Gleichwohl wurde deutlich, dass Iwand die in der Kirche beliebte Gleichung von "braun" und "rot" - also die falsch verstandene Totalitarismusthese - ablehnte. Gerade auf dem Hintergrund des versäumten Widerstands gegen das NS-Regime hieß dies für ihn, "die Welt ihrer Selbstrechtfertigung (zu) überlassen". Dagegen wollten Iwand und Barth die Kirche "zwischen Ost und West" positionieren: als Kraft zur Versöhnung der Völker im und gegen den begonnenen Kalten Krieg.

Der antimarxistische Irrweg

Dafür kam die von Barth formulierte These 5 hinein. In seinem Vorentwurf lautete sie:

Wir sind in die Irre gegangen, indem wir den ökonomischen Materialismus der marxistischen Lehre als ein Licht der leiblichen Auferweckung Jesu Christi und als Licht der umfassenden Prophetie Jesu Christi übersahen.

Dies wurde häufig missverstandener Stein des Anstoßes. Barth wollte damit nicht die marxistische Lehre predigen. Er bejahte sie nur als hilfreiches Instrument zur Gesellschaftsanalyse und Interessenbestimmung, betrachtete sie aber nicht als alleingültige Ideologie. Er wollte die Kirche durch sie an ein Element ihrer eigenen Botschaft erinnern: die "Verheißung für das Diesseits", nämlich die in der Prophetie Israels verheißene, durch die Auferstehung Jesu bekräftigte Revolution Gottes zu Gunsten der Armen (Mt 5,3.5):

Selig ihr Armen, denn euch gehört Gottes Reich!...Selig ihr Machtlosen, denn ihr werdet die Erde besitzen!

Eben darum habe die Kirche "die Sache der Armen" als ihre eigene Sache zu begreifen. Dies wie auch das Recht zur revolutionären Überwindung von Klassenherrschaft und zum Widerstand gegen faschistische Regime nahm im Kern die spätere Befreiungstheologie schon vorweg.

Die Bezeichnung des ökonomischen Materialismus als ein "Licht" für die Auferstehung Jesu war die Antithese zu der Position, die die vorherige These kritisierte: nämlich zur selbstgerechten Konfrontation von "Licht" (Christentum, westliche Freiheit) gegen "Finsternis" (Marxismus, östliche Unfreiheit). Zudem verweist die Formulierung auf Barths spätere Versöhnungslehre, in deren drittem Hauptteil (Kirchliche Dogmatik IV/3) er eine "Lichterlehre" entfaltete: Gestalten und Mächte des Diesseits können zu Abbildern, Analogien des einzigen wahren Lichtes, Jesus Christus, werden.

Dass er gerade den Marxismus als ein solche von außen kommende Erleuchtung für Christen, das sie an die Hoffnung auf Auferstehung aller Toten erinnere, ansah, rief in kirchlichen Kreisen damals wie heute Empörung und Unverständnis hervor. Jedoch vertrat Barth damit nur ein verdrängtes Element biblischer Theologie, wonach die mit dem Reich Gottes eintreffende Neuschöpfung den radikalen Umsturz aller Herrschaftsverhältnisse und die Umwälzung aller Besitzverhältnisse beinhaltet.

Erste Reaktionen

Unmittelbar nach dem Erscheinen des Wortes erhob sich ein Sturm der Entrüstung besonders bei konservativ-lutherischen Theologen. Otto Dibelius schrieb in einem Brief am 9. September 1947, er empfinde es als „schwere Zumutung“, „das wir genau dasjenige als eigene Schuld bekennen sollen, wogegen wir ein Leben lang gekämpft haben.“ Hans Asmussen nannte das Wort „Sozialistenbeschluss“ als Ausdruck einer „Konjunkturtheologie“. Er warnte vor einem „Religionsbolschewismus“ in der Kirche. Der Marxismus dürfe unter Christen nicht Fuß fassen, denn er sei „nicht einen Deut erträglicher ... als die Lehre Rosenbergs“. Die Kritiker unterstellten den Autoren also ideologische Motive in religiöser Verkleidung.

Dahinter stand die lutherische, antidemokratische und antisozialistische Prägung der meisten Protestanten der Weimarer Zeit. Gerade Asmussen und Dibelius hatten bei der Entstehung der Stuttgarter Schulderklärung lange gezögert, als Martin Niemöller ein konkretes, eigenes Schuldbekenntnis verbindlich machen wollte (Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden...). Nun warnte der Rat der EKD vor einer „Entwertung“ des Stuttgarter Schuldbekenntnisses, das jetzt erst in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung gedruckt und an die Gemeinden verteilt wurde.

Aber auch einige Bruderräte, die bei der Darmstädter Tagung nicht anwesend gewesen waren - darunter Heinrich Albertz und Kurt Scharf -, beschwerten sich intern über das Zustandekommen besonders der 3. und 5. These. Man trug diese Differenzen nicht nach außen, weil Martin Niemöller zuerst in den USA, dann auch der Bundesrepublik damals wegen seiner freiwilligen Meldung zur Wehrmacht von 1939 unter scharfer Kritik stand und man das mühsam gewonnene Vertrauen der Alliierten in die Vertreter der Bekennenden Kirche nicht noch mehr beschädigen wollte.

Ein Mitglied des Brandenburger Bruderrats jedoch, Otto Perels, verlangte bei dessen Sitzung am 10. September 1947 die Rücknahme des Darmstädter Worts, da sonst die „Selbstaufgabe“ der BK vollzogen sei:[4]

Wie könnte sie bestehen vor ihren Bekennern und Märtyrern, wenn sie ihren Namen zum Schanddeckel der Anpassung an den Zeitgeist werden ließe.

Hier zeigten sich erneut die tiefen Gräben in der Auslegung der Barmer Erklärung, die die BK schon im Kirchenkampf gespalten und gelähmt hatten: Konservative Lutheraner wie Walter Künneth sahen den Glauben an Jesus Christus als von Politik scheinbar unberührbare Ebene, die Christen jede konkrete Einmischung in gegenwärtige Konfliktlinien verbiete. Andererseits hatten gerade sie sich nicht gescheut, totalen Gehorsam gegenüber dem Unrechtsstaat des NS-Regimes zu predigen, Krieg und Judenverfolgung mitzutragen und zu rechtfertigen.

Barth, der schon viel früher als die meisten seiner Mitstreiter die weltlichen und ideologischen Bindungen der Kirche als Verleugnung des Evangeliums gegeißelt und bekämpft hatte, sah in diesem Widerspruch ein fundamentales Missverständnis des evangelischen Glaubens, den die Barmer Erklärung zeitgemäß formulieren wollte: Gerade wer die Herrschaft Christi auch über die Welt und die Politik Ernst nehme, müsse nach konkreten Analogien dazu in der Welt fragen und den Mut zu eindeutigem politischen Zeugnis haben (Christengemeinde und Bürgergemeinde 1946).

Der Bruderrat der EKD beauftragte daraufhin am 16. Oktober 1947 eine Theologenkommission damit, dem Wort einen ausführlichen Kommentar beizufügen, um Sinn und Absicht den Gemeinden zu erläutern.

Der Kommentar

Weitere Wirkung

Das Darmstädter Wort spielte in den folgenden Jahrzehnten für die Gesamtposition der EKD keine entscheidende Rolle. Die Bruderräte, die in ihr die Tradition der Bekennenden Kirche fortsetzen und aktualisieren wollten, wurden bald aus den Kirchenleitungen verdrängt und verloren an Einfluss.

Die Absicht des Darmstädter Wortes, die Kirche als eigenständige Kraft gegenüber beiden Seiten im Kalten Krieg zu positionieren, sich der ideologischen Alternative „hier Christentum, dort Marxismus" zu entziehen und eine Reformbereitschaft in Richtung eines demokratischen Sozialismus als Perspektive Gesamtdeutschlands offen zu halten, wurde in der EKD nicht verstanden. Die Neigung, Nationalsozialismus und „Bolschewismus" ahistorisch gleichzusetzen und die Rückkehr zu „christlich-abendländischen Werten" zu predigen, die die Kirche als konservatives Bollwerk gegen die Säkularisierung zu hüten habe, war stärker.

Für christliche Friedensgruppen der außerparlamentarischen Bewegung gegen die Wiederbewaffnung und die Atombewaffnung in der Bundesrepublik - Kampf dem Atomtod- spielte das Darmstädter Wort hingegen eine wichtige Rolle. Mit dem Abschluss des Militärseelsorge-Vertrages 1957 und den „Heidelberger Thesen" von 1958, die die Bereithaltung von Atomwaffen zur Abschreckung der Sowjetunion bedingt bejahten, setzte sich jedoch die Westbindung auch in der EKD endgültig durch. Damit war die Perspektive des Darmstädter Wortes, die Kirche „zwischen" Ost und West zu positionieren und von der Versöhnungsbotschaft her eine politische Neuorientierung zu wagen, zunächst gescheitert.

Die Aktion Sühnezeichen, eine 1959 von Präses Lothar Kreyssig gegründete Initiative für Versöhnungsarbeit besonders mit Israel, nahm das Wort positiv auf, bemängelte aber auch, dass ein wesentlicher Irrweg darin nicht benannt wurde: die kirchliche Schuld am Antijudaismus und somit auch am Antisemitismus.

Erst in der sogenannten Ostdenkschrift der EKD von 1965 tauchten Impulse aus dem Darmstädter Wort unvermutet wieder auf. Denn diese Denkschrift wurde von Theologen aus der Schule Iwands wie dem Beienroder Konvent vorbereitet, die sich der Versöhnung mit den Völkern Osteuropas - allen voran Polen und Russen - besonders verpflichtet fühlten. So hatte Iwand bereits 1947 - ähnlich wie Klaus von Bismarck - vor großen Flüchtlingsgemeinden für den Verzicht auf die an Polen gefallenen ehemaligen deutschen Ostgebiete geworben, war damals aber ein einsamer Rufer in der Wüste geblieben.

Während Bundeskanzler Ludwig Erhardt im November 1965 die Nachkriegszeit für beendet erklärte und einen westlich orientierten Patriotismus empfahl, während in der DDR ein „Antifaschismus von oben" hinter der Berliner Mauer verordnet wurde, entdeckten im Verlauf der nun aufkeimenden Studentenbewegung politisch engagierte Christen das Darmstädter Wort neu. Evangelische Studentengemeinden (ESG) an den Universitäten übernahmen es als ihre Gründungsurkunde und beriefen sich fortan oft darauf, um ihre „Option für einen humanen Sozialismus" als christlich mögliche Entscheidung damit zu begründen.

Während westdeutsche Christen das Wort „von unten" gegen die Kirchenhierarchie verwendeten, wurde 1969 unter politischem Druck der SED der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gegründet. Bischof Albrecht Schönherr nahm vor allem die 6. These des Darmstädter Worts als bindend für den Kirchenauftrag in der DDR positiv auf und integrierte es in sein Selbstverständnis von „Kirche im (nicht: gegen den) Sozialismus".

1972 forderte Heino Falcke die Christen in der DDR auf der Bundessynode in Dresden auf, die Hoffnung auf einen „verbesserlichen Sozialismus" nicht aufzugeben und dafür einzutreten. Daraufhin verbot die SED dem Kirchenbund, öffentlich über andere und bessere Gesellschaftskonzepte nachzudenken. Die Ost-CDU wiederum benutzte die 5. These dann oft für ihre Interpretation, die evangelische Kirche in der DDR habe damit angeblich den bestehenden Staatssozialismus anerkannt.

Till Wilsdorf, damals Leiter der Theologischen Kommission der ESG, berief 1977 zum 30-jährigen Jubiläum des Darmstädter Worts eine „Versammlung europäischer Christen" nach Darmstadt ein. Während sich die Leitung der EKD unter Erwin Wilckens sofort von dieser Einladung distanzierte und das Darmstädter Wort öffentlich als „Privatarbeit" und Betriebsunfall der Nachkriegs-Kirchengeschichte abwertete, nahmen viele Christen auch aus Osteuropa an der Konferenz teil.

Von dieser Versammlung gingen erste Impulse für eine blockübergreifende gesamteuropäische christliche Friedensbewegung aus, die dann in den 1980er Jahren im Kontext der neuen Aufrüstungsschritte von NATO und Warschauer Pakt Gestalt annahm. Vikare und Vikarinnen in Westberlin verlangten nun, wie auf die Barmer Theologische Erklärung, so auch auf das Darmstädter Wort ordiniert zu werden. Dies löste schwere Konflikte mit den Kirchenämtern aus.

Gerade diese Reaktionen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zeigten die weiterwirkende Aktualität des Darmstädter Worts.

Referenzen

  1. Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen S. 268
  2. Hans Prolingheuer, a.a.O. S. 105
  3. Hans Prolingheuer, a.a.O. S. 180f
  4. Hans Prolingheuer, a.a.O. S. 181-185

Literatur

  • Bertold Klappert: Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen. Neukirchener Verlag 1994, ISBN 3788714514
  • Schriftenreihe des Instituts für vergleichende Staat-Kirche-Forschung Heft 4: In die Irre gegangen? Das Darmstädter Wort in Geschichte und Gegenwart. Berlin 1994, ISBN 3931232034
    • Daraus: Hartmut Ludwig: Entstehung, Wirkung und Aktualität des Darmstädter Wortes.
  • Hans Prolingheuer: Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz. Pahl-Rugenstein, Köln 1987, ISBN 3760911447