Zum Inhalt springen

Otto Weininger

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 9. Oktober 2006 um 22:01 Uhr durch Zwobot (Diskussion | Beiträge) (Bot-unterstützte Begriffsklärung: Spanisch; kosmetische Änderungen). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Datei:Ottoweininger.jpg
Otto Weininger

Otto Weininger (* 3. April 1880 in Wien; † 4. Oktober 1903 ebenda) war ein österreichischer Philosoph. Er wurde durch sein Werk "Geschlecht und Charakter" berühmt sowie durch seinen Selbstmord, den der erst Dreiundzwanzigjährige in Beethovens Sterbehaus in Wien verübte.

Leben

Otto Weininger wurde am 3. April 1880 als Sohn des jüdischen Goldschmieds Leopold Weininger und dessen Frau Adelheid in Wien geboren und entstammte einer ungarisch-jüdischen Familie. Er besuchte Volksschule und Gymnasium, mit 16 Jahren versuchte er sich an einem etymologischen Aufsatz über speziell bei Homer zu findende griechische Redewendungen. Im Juli 1898 legte Weininger die Reifeprüfung ab.

Weininger immatrikulierte an der Wiener Universität. Dort studierte er Philosophie und Psychologie, hörte aber auch naturwissenschaftliche und medizinische Vorlesungen. Weininger beherrschte mit 18 Jahren Griechisch, Latein, Französisch und Englisch, später auch Spanisch und Italienisch. Passive Kenntnisse der Sprachen August Strindbergs und Henrik Ibsens (also Schwedisch und Norwegisch) kamen hinzu. Er wurde von den Ideen und Werken Immanuel Kants beeinflusst und besuchte Sitzungen der Philosophischen Gesellschaft, wo er unter anderem den Wagner-Schwiergersohn und radikalen Antisemiten Houston Stewart Chamberlain hörte. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Talente fügte sich Weininger nur schwer ein und galt als Außenseiter und Querdenker.

Im Frühsommer 1901 hinterlegte Weininger zur Wahrung der Priorität seiner Ideen ein Manuskript in der Akademie der Wissenschaften in Wien: „Eros und Psyche. Eine biologisch-psychologische Studie“, die Erstfassung seiner späteren Dissertation. 1902 legte Weininger das erweiterte Manuskript von „Eros und Psyche“ den Professoren Jodl und Müllner vor. Sie wurde von den Professoren an der Wiener Universität als Dissertation angenommen. Am 21. Juli 1902 legte Weininger seine Promotionsprüfung ab, er war Doktor der Philosophie. Kurz nach der Promotion trat er voll Stolz und Enthusiasmus zum Protestantismus über. Er brach damit sowohl mit der eigenen jüdischen Herkunft als auch mit seiner katholischen Heimatstadt, verleugnete auch seine Zugehörigkeit zur Wiener Kultur.

Im Sommer 1902 reist Otto Weininger nach Bayreuth, wo er tief beeindruckt Richard Wagners Parsifal hört. Über Dresden und Kopenhagen setzt er seine Reise nach Christiana (Oslo) fort und sieht zum ersten Mal auf einer Bühne Henrik Ibsens ErlösungsdramaPeer Gynt “. Er schreibt eine lange Abhandlung zu Ibsens 75. Geburtstag. Ibsens Leitmotiv beschäftigt ihn zutiefst:

Wer sein Leben will behalten, der wird es verlieren, und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangelii willen, der wird es behalten". (nach Markus 8, 34-36)

Im Herbst macht er sich auf die Suche nach einem Verleger für seine Dissertation. Doch Friedrich Jodl, sein Doktorvater, will "Eros und Psyche" keinem Verlag empfehlen, solange bestimmte gedankliche und sprachliche Exzesse nicht korrigiert sind. Weininger ist zu stolz und ungeduldig, um den Ratschlägen zu folgen. Er legt Sigmund Freud sein Manuskript vor, in der Hoffnung, durch dessen Empfehlung im Verlag Franz Deuticke gedruckt zu werden. Freud berichtet später, daß Weininger auf ihn einen großen Eindruck gemacht habe (er erinnert sich an ein „ernsthaftes, schönes Gesicht, auf dem ein Hauch von Genialität schwebte“), dass er aber Weiningers Manuskript streng kritisiert habe, eine Kritik, die angesichts der späteren Buchfassung noch schärfer zu formulieren sei.

Weininger verfällt in tiefe Depressionen. Ein unheilvoller Doppelgänger, den Weininger "das Ensemble aller bösen Eigenschaften des Ich" nennt, beunruhigt ihn. In ihm reift ein erster Entschluss zum Tod, doch nach einem langen, nächtlichen Gespräch mit seinem Freund Artur Gerber befindet er die Zeit als "noch nicht reif".

Nach Monaten konzentrierter Arbeit erscheint im Juni 1903 „Geschlecht und Charakter - eine prinzipielle Untersuchung“, die das "Verhältnis der Geschlechter" in ein "neues Licht" zu rücken wünscht, im Wiener Verlagshaus Braumüller & Co. Es ist der Text von Weiningers Doktorarbeit, noch um drei entscheidende Kapitel erweitert, in denen Weininger seine Tendenzen zum Antisemitismus, zur Misogynie und zur unbeherrschten Metaphysik ungebremst entfaltetet: „Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum“, „Das Judentum“, „Das Weib und die Menschheit“.

Auf 600 Seiten breitet Weininger die Summe seines Lebens aus. Es ist das Konstrukt eines Frauenhasses, dem auch das Judentum zum Opfer fällt, da es ihm "durchtränkt scheint von Weiblichkeit". In beiden, in Frauen und Juden, erblickt Weininger eine Bedrohung: Sexualität, Schuld, nur Körper und Materie, bar jedes Geistes, jeder Seele oder jeder Sittlichkeit. Beides bedrängt und quält ihn in seinem Innersten. Erlösung verspricht nur ein Genius, der Innbegriff des Männlichen. Dessen höchste Form sieht Weininger im Religionsstifter.

Weininger predigt auch einen wütenden Antisemitismus: Der Jude, behauptet er, sei auf Grund seines "weiblichen" Wesenskerns "stets lüstern und geil"; "der geborene Kommunist"; von Natur aus "ein Kuppler" und nicht eigentlich fromm, denn er "kann gar nicht glauben". Dennoch dämmere eine kleine Hoffnung. Die jüdische Nicht-Existenz wäre "Zustand vor dem Sein" und daher müssten die Juden "gegen sich kämpfen, innerlich das Judentum in sich besiegen", um Menschen, also Männer, zu werden. Auch Christus "war ein Jude, aber nur, um das Judentum in sich am vollständigsten zu überwinden". Daher "ist er der größte Mensch", der seine "besondere Erbsünde" - nämlich Jude zu sein - durch die "vollkommene Negation" seines Wesens besiegt hätte.

Das Buch wird nicht ablehnend aufgenommen, doch die erwartete Sensation bleibt aus. Der Leipziger Professor Paul Julius Möbius, Autor des Buches „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ greift Weininger unter dem Vorwurf des Plagiats an. Weininger reist enttäuscht und voll quälender Zweifel nach Italien. Aphorismen über das Böse in ihm und über sein heimliches Verbrechertum häufen sich in dieser Zeit, sein Bedürfnis nach Strafe und Sühne wird stärker. "Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, dass er endgültig böse wird…", heißt es in den Aphorismen aus dem Nachlass.

Nach seiner Rückkehr verbringt Weininger die letzten fünf Tage bis zum 3. Oktober bei seinen Eltern. Er händigt seinem Vater noch das abgewetzte Lederfutteral seiner Brille aus und mietet sich dann ein Zimmer in Beethovens Sterbehaus in der Schwarzspanierstraße 15. Dorthin begibt er sich am Abend des 3. Oktober. Er schreibt zwei Briefe in dieser Nacht, einen an seinen Vater, einen an seinen Bruder Richard.

Am Morgen des 4. Oktober wird er sterbend in seinem Zimmer aufgefunden. Er hat sich eine Kugel ins Herz geschossen. Er stirbt um halb elf Uhr vormittag im Wiener Allgemeinen Krankenhaus in der Alser Straße.

Otto Weininger wird auf dem evangelischen Friedhof von Matzleinsdorf begraben, wo noch heute sein Grab mit der von Leopold Weininger verfassten Inschrift zu sehen ist:

„Dieser Stein schliesst die Ruhestätte eines Jünglings, dessen Geist hiernieden nimmer Ruhe fand. Und als er die Offenbarungen desselben und die seiner Seele kundgegeben hatte, litt es ihn nicht mehr unter den Lebenden. Er suchte den Todesbezirk eines Allergrössten im Wiener Schwarzspanierhause und vernichtete dort seine Leiblichkeit.“

Werk

Wirkungsgeschichte

Im Umfeld von Otto Weiningers Selbstmord gelangte „Geschlecht und Charakter“ schnell zu umstrittenem Ruhm: für geistesgestört hielt den Autor die psychiatrische Fachwelt, für dubios die philosophische und für genial die literarische.

Weininger wurde zum Inbegriff des Weiberfeindes, Judenhassers und Keuschheitsapostels. Sein Ruf verbreitete sich durch ganz Europa. "Geschlecht und Charakter" wurde zum Kultbuch, der Autor zur Legende.

Weiningers Thesen waren in aller Munde und beeinflussten eine ganze Generation in ihrer misogynen Grundstimmung. Der Kreis der Anhänger war gross und illuster, an der Spitze stand Karl Kraus, der Herausgeber der „Fackel “, man bejahte Weiningers Genietheorie - sein Antifeminismus wurde zur modernen Charakterologie der "neuen Frau" verklärt.

Der Verlag druckte eigene Werbeprospekte mit Huldigungen, darunter von Kraus: "Ein Frauenverehrer stimmt den Argumenten seiner Frauenverachtung begeistert zu." Der schwedische Dramatiker August Strindberg ehrte "sein Gedächtnis als das eines tapferen männlichen Kämpfers" und verfasste einen Nachruf, den Kraus in der "Fackel" abdruckte:

"Unabhängig von Ansichten ist wohl das Faktum, daß das Weib ein rudimentärer Mann ist ... es war dieses bekannte Geheimnis, das Otto Weininger auszusprechen wagte; es war diese Entdeckung des Wesens und der Natur des Weibes, die er in seinem männlichen Buche mitteilte, und die ihm das Leben kostete."

Während es neun Jahre dauerte, bis die 600 Exemplare der ersten Auflage von Sigmund Freuds "Traumdeutung" (erschienenen 1900) verkauft waren, lag "Geschlecht und Charakter" 1909 bereits in der elften Auflage vor. Bis 1932 folgten siebzehn weitere.

Sigmund Freud erwähnte Weininger 1909 in einer Fußnote seiner "Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben":

"Der Kastrationskomplex ist die tiefste unbewußte Wurzel des Antisemitismus, denn schon in der Kinderstube hört der Knabe, dass dem Juden etwas am Penis - er meint, ein Stück des Penis - abgeschnitten wurde, und dies gibt ihm das Recht, den Juden zu verachten. Auch die Überhebung gegen das Weib hast keine stärkere unbewußte Wurzel. Weininger, jener hochbegabte und sexuell gestörte junge Philosoph, der nach seinem merkwürdigen Buche "Geschlecht und Charakter" sein Leben durch Selbstmord beendigte, hat in einem vielbemerkten Kapitel den Juden und das Weib mit der gleichen Feindschaft und mit den nämlichen Schmähungen überhäuft. Weininger stand als Neurotiker völlig unter der Herrschaft infantiler Komplexe: die Beziehung zum Kastrationskomplex ist das dem Juden und dem Weibe dort Gemeinsame."

Der Schriftsteller Arthur Trebitsch war einer der Treuesten Weininger-Epigonen, es gelang ihm sogar, seine jüdische Abstammung beinahe vollkommen zu verheimlichen. Er war stolz auf sein "arisches" Erscheinungsbild und biederte sich bei Erich von Ludendorff und Ernst von Salomon an, mit denen er die Welt vor der "semitischen" Gefahr retten wollte. Mit Weininger geistesverwandt erwies sich auch der Leipziger Arzt Paul Julius Möbius mit seinem Werk "Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes".

Der Schöpfer des geometrischen Romans, Heimito von Doderer, pries Weininger als den "Glorreichen": Glorreich ist das Epitheton des Helden... An der Schwelle dieses fragwürdigen Jahrhunderts steht er als Denkmal für die Realität des Geistes..." ("Rede auf Otto Weininger", geschrieben am Allerseelentag 1963). Auch in seinen Romanen verewigte Doderer den Philosophen. In der "Strudelhofstiege" heißt es etwa: "Er repräsentiert einen Gelehrten-Typus, der hoffentlich wieder einmal zeitgemäß werden wird."

Der Komponist Franz Schreker hat sich nachweislich intensiv mit Weininger auseinandergesetzt, in seinen Opern thematisierte er die neuartige psychoanalytische Sicht auf Eros und Sexus und sieht die Menschen als Triebwesen. Weininger hatte zuvor schon Alexander Zemlinskys Oper "Der Zwerg" (1922) beeinflusst, dessen Libretto Georg Klaren verfasste, der 1924 eine Monografie über Weininger herausbrachte.

Italo Svevo erwähnt Weininger ebenso (in "Zeno Cosini") wie Isaac Bashevis Singer, der ihn (in "A Friend of Kafka") "verrückt und genial" nennt. Der Name Weininger liess Alban Bergs "Herz pochen" und wurde von dem Dadaisten Walter Serner in eine Reihe mit Shakespeare, Dante oder Tolstoi gestellt: "Sie alle und noch andere hatte das Kreuz zur letzten Antwort emporfinden lassen: hier ward es vollbracht."

Für den Maler und Zeichner Alfred Kubin war er "der größte Mensch dieses Jahrhunderts", wie er seinem Freund Fritz von Herzmanovsky-Orlando in einem Brief anvertraute. Viele der frühen Zeichnungen Kubins wirken wie Illustrationen zu Weiningers Werk: wollüstige, riesige, spinnenverwandte Frauenkörper, in denen Männer unter- und an denen Männer zugrunde gehen.

Weiningers Buch hatte Einfluss auf viele Künstler, auch etwa auf die Komponisten Arnold Schönberg und Alban Berg, der "Geschlecht und Charakter" gründlich studiert und viele Passagen in eine Zitatensammlung aufgenommen hat, die dann wiederum in seine Oper "Lulu" eingeflossen sind. Oft wurde versucht, Weiningers Lehre zu rechtfertigen, "welche doch nichts ist", so befand Theodor Lessing 1930 in einer Fallstudie über Weininger in seinem Buch "Der jüdische Selbsthass", "als ein tolles Naturspiel von krankhafter Verstiegenheit und von brutaler Willkür. Ich meine die krüde und rüde Lehre vom Judentum." Sie sei der Schlüssel zu dem ungeheuren Schicksal eines tragischen Selbsthasses." Jüdischer Ödipus und herakliteische Natur in einem" nennt Lessing Weininger dort.

Selbst Ludwig Wittgenstein blieb dem Philosophen, dem er als Jüngling das letzte Geleit gegeben hatte, treu. Noch 1931 verteidigte er ihn gegenüber George Edward Moore: "Es stimmt, er ist verschroben, aber er ist großartig und verschroben... Sein gewaltiger Irrtum, der ist großartig."

Der Dichter Elias Canetti berichtet in seinen Memoiren, dass selbst zwanzig Jahre nach Weiningers Selbstmord noch immer an den Wiener Kaffeehaustischen über das frauen- und judenfeindliche Buch diskutiert wurde. Bis in die dreißiger Jahre hinein bezeugten immer neue Auflagen von „Geschlecht und Charakter “ Weiningers Erfolg.

Weininger definierte in „Geschlecht und Charakter“ seine Zeit nicht nur als „die jüdischste sondern auch die weibischste aller Zeiten". Er nannte sie "die Zeit des leichtgläubigen Anarchismus, die Zeit ohne Sinn für Staat und Recht". Allein damit sicherte er sich einen unumstrittenen Platz im Vorfeld des Faschismus. "Der Kampf drängt zur Entscheidung wie im Jahre eins", schrieb er, "Zwischen dem Nichts und der Gottheit hat abermals die Menschheit die Wahl. Das sind die beiden Pole. Es gibt kein drittes Reich."

Doch der Nationalsozialismus beendete den Siegeszug des Buches. "Geschlecht und Charakter" wurde, ungeachtet des Inhalts, verboten, da sein Autor Jude war. In den langen Monologen im Führerhauptquartier Wolfsschanze erzählte Adolf Hitler eines Abends, sein Münchner Freund Dietrich Eckart habe ihm versichert, es gebe nur "einen anständigen Juden... den Otto Weininger, der sich das Leben genommen hat, als er erkannte, daß der Jude von der Zersetzung anderen Volkstums lebt." (Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier. 1941-1944, Hg. Werner Lochmann, Hamburg 1980)

Im faschistischen Italien fungierte "Sesso e Carattere" als Kriegsmaschine gegen die „jüdisch-entartete“ Psychoanalyse. An der faschistischen Universität von Bologna wurde über Weininger gelesen. Julius Evola setzte Weininger in "Metafisica del sesso" als Abschirmung gegen Freud ein. "Weininger hat mir viele Dinge klargemacht", äußerte Mussolini gegenüber Emil Ludwig.

Danach geriet Weininger in Vergessenheit, aus der er nur gelegentlich als kurioses Produkt einer versunkenen Epoche wieder auftauchte. Eine späte Wiederentdeckung begann erst in Italien, im Kreis der nuova destra, dann in Frankreich.

1980 veröffentlichte der Münchner Verlag Matthes & Seitz ein Reprint von „Geschlecht und Charakter“, das von zahleichen Rezensionen begleitet wurde; 1983 kam mit „Weiningers Nacht“ ein Stück des israelischen Dramatikers Joshua Sobol zur Uraufführung, das vielfach ausgezeichnet und 1989 auch verfilmt wurde.

Jacques Le Rider veröffentlichte 1985 mit „„Der Fall Weininger“ die bis dahin umfassendste Biographie Weiningers im Wiener Löcker Verlag, die Werk und Wirkungsgeschichte umfassend darstellte und in Weininger ein "diagnostisches Dokument" für die Kulturkrise der Jahrhundertwende sah. Le Rider: "Vielleicht ließe sich hier die Pathologie eines ganzen Jahrhunderts entschleiern. Bei Weininger stoßen wir auf das Resumée der Dämonie dieser Epoche." Der Kulturkritiker E.M. Cioran beschrieb die Anziehungskraft Weinigers in einem Brief an Jacques Le Rider:

"Bei Weininger fesselten mich die schwindelerregenden Übertreibungen, die Grenzenlosigkeit der Verneinung, die Ablehnung von jeglichem Common sense, die mörderische Unnachgiebigkeit, die ständige Suche nach einem absoluten Standpunkt, die Manie, einen Gedankengang so weit zu treiben, bis er sich selbst auflöst und das gesamte Gebäude, dessen Teil er ist, zerstört."

Weininger war 1985 auch in der von Hans Hollein konzipierten Ausstellung „Traum und Wirklichkeit“ in Wien präsent und trat 1988 im ungarischen Film „My 20th Century“ (Regie: Ildiko Enydi) in Erscheinung, der bei den Filmfestspielen von Cannes ausgezeichnet wurde.

Geschlecht und Charakter

»Geschlecht und Charakter« zählt zu den klassischen Dokumenten der Wiener Moderne. Das Werk tritt, ähnlich wie Chamberlains »Grundlagen des 19. Jahrhunderts«, mit einem universalen Deutungsanspruch auf. Im Mittelpunkt steht die Geschlechterproblematik.

In seinem Hauptwerk offenbarte Otto Weininger eine, trotz seiner jüdischen Abstammung, scharf ablehnende Haltung alles Jüdischen und erwies sich zugleich als Verfechter einer frauen- und körperfeindlichen Geisteshaltung. Die Werte höheren Lebens seien der Frau ebenso unzugänglich wie die Welt der Ideen. Je weiblicher das Weib, desto mehr verkörpere es eine rein geistlose Geilheit. Erst durch den Mann empfange die Frau ein Leben aus zweiter Hand. (Ernst Bloch nannte Weiningers Buch "eine einzige Anti-Utopie des Weibes".)

Das Judentum schien Weininger durchtränkt von Weiblichkeit. Daraus leitete er die Gleichung ab, dass "der Jude" ein Weib sei. Da beide, Frauen und Juden, nur Sexualität, nur Körper und Materie seien, bar jeden Geistes, jeder Seele und jeder Sittlichkeit und unfähig zur sexuellen Askese, stellten sie eine Bedrohung dar. Die Gesellschaft müsse laut Weininger die weiblichen Elemente überwinden und sich an ‚M’ orientieren. Er fordert eine neue Menschheit, die auf einer neuen Männlichkeit konstruiert sein soll. Eine Übereinstimmung von Männlichkeit und Gesellschaftsordnung wird postuliert. .

Trotz jüdischer Abstammung und umfassender geistes- und naturwissenschaftlichen Bildung mit Vorurteilen behaftet, antisemitisch eingestellt und Verfechter einer frauen- und körperfeindlichen Geisteshaltung, sprach Weininger Frauen und Juden damit de facto die Menschlichkeit ab, und befürwortete die totale sexuelle Enthaltsamkeit der Männer und dadurch implizit die Ausrottung der Juden, letzteres wie sein ebenfalls jüdischer Schriftstellerkollege Arthur Trebitsch.

Weininger versuchte sich an der Definition des Männlichen und Weiblichen, und zwar vor dem Hintergrund der Annahme, dass in allen lebenden Dingen ein Anteil von beiden zu finden sei. Er plazierte das Männliche an einem Ende einer Skala. In der Vorstellung von Weib und Trieb einerseits und Mann und Geist andererseits ordnete er der Frau eine seelische und sittliche Minderwertigkeit zu. Die Frau sei zu keiner geistigen Orientierung und schöpferischen Produktivität fähig. Er wies auch verschiedensten Bewegungen und Konzepten männliche und weibliche Züge zu. So war für ihn das Judentum stark weiblich dominiert, während das Christentum eher männliche Züge hatte.

Die Ausführungen Weiningers zum Judentum bilden innerhalb der Geschichte des modernen Antisemitismus eine der literarisch wirkungsvollsten Versionen judenfeindlicher Ideologie. In seiner Beschreibung »des Juden« wählt er Kategorien äußerster Negativität. Stereotype, aus der antisemitischen Propaganda übernommene Urteile werden herangezogen, um »das Judentum« gegenüber dem Christentum zu kennzeichnen. Dabei appelliert Weininger durch seine Formulierungen häufig an antisemitische Ressentiments. So gehöre das Judentum zu den wichtigsten Störfaktoren der gesellschaftlichen Ordnung. Das Christentum stelle demgegenüber die »absolute Negation« des Judentums dar.

Obwohl es im Wien des Fin de Siècle immer wieder Juden gab, die sich von ihrer Religion abwandten (dieses Phänomen konnte auch bei anderen Religionen dokumentiert werden), enthielt Geschlecht und Charakter doch besonders starke, auch durch den Vater mitbeeinflusste antisemitische Tendenzen.

Manche Ideen wurden von Karl Kraus und August Strindberg aufgegriffen und beeinflussten maßgeblich das Werk von Elias Canetti, Robert Musil, Georg Trakl und Ludwig Wittgenstein und damit nachhaltig die österreichische Geistesgeschichte.

Die Theorie der Bisexualität

Weininger ist der erste, der die androgyne Natur des Menschen erkennt und untersucht, und der erste, der eine Theorie der körperlichen und seelischen Bisexualität ausarbeitet.

Bisexualität bedeutet bei Weininger, dass die ursprüngliche Anlage des Menschen zwiegeschlechtlich ist und dass erst das Überwiegen des männlichen oder weiblichen Elements das konstituiere, was man Mann oder Frau nennt. Prozentuale Anteile der konträren Geschlechtlichkeit erhielten sich aber auch bei den Erwachsenen zu verschiedenen Graden und aus den Ergänzungsverhältnissen ergäben sich die Gesetze der sexuellen Anziehung.

Jedes Individuum versuche dabei, seinen unvollständigen Prozentsatz von "M" oder "W" zu vervollständigen. In idealtypischer Abstraktion hieße das, dass immer ein ganzer Mann (M) und ein ganzes Weib (W) zueinander streben, bzw. ihr sexuelles Komplement suchen. Besteht ein Individuum also aus 3/4 M und 1/4 W, so wird es von einem Partner angezogen, der sich aus 1/4 M und 3/4 W zusammensetzt.

Statt die Möglichkeit der Freiheit von Geschlechterrollen und ihren Zwängen wahrzunehmen, fordert Weininger aber dessen "Überwindung“. Wie der Mann seine Anteile an "W" ausmerzen muß, so gilt dasselbe auch für die Frau. Der Grad ihrer Emanzipation hängt ab vom Grad ihrer "M"-Werdung. "Geschlecht und Charakter" erreicht seinen Gipfel in den Formeln: "Das Weib besitzt kein Ich, das Weib ist das Nichts".

In Weiningers letzten Tagebuchaufzeichnungen heißt es: "Der Haß gegen die Frau ist nichts anderes als der Haß gegen die eigene, noch nicht überwundene Sexualität." Unter dem Zwang seines Systems steigern sich Weiningers Schuldgefühle bis zur Ausweglosigkeit.

Zur kritischen Beurteilung Otto Weiningers muss man die dunklen, teils wahnhaften Tendenzen in den erhaltenen Manuskripten heranziehen. So waren seine grundlegenden Erkenntnisse über ein Zusammenspiel von männlichen und weiblichen Elementen in allen Wesen sowie manche andere Ansätze ebenso richtig und revolutionär, wie seine Schlussfolgerungen über die Art des Zusammenspieles schrecklich falsch waren. Durch die zusätzlichen stark antisemitischen Tendenzen wurde er von der akademischen Diskussion weitgehend unbeachtet gelassen, obwohl manche seiner Ansätze sich eindeutig in Werken anderer Philosophen und Psychologen wiederfinden.

Drei Jahre nach Weiningers Tod wurde Sigmund Freud in einen Urheberrechtsstreit verwickelt. Sein Freund Wilhelm Fliess, Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu Berlin beschuldigte ihn, über seinen Patienten Hermann Swoboda, der auch Weiningers Freund war, das Fliess'sche Konzept der "unbedingten Bisexualität aller Lebewesen" - das auch den zentralen Ausgangspunkt in Weiningers Analyse der Geschlechter darstellt - ausgeplaudert zu haben.

Der Gedanke „dauernder und notwendiger Bisexualität aller Lebewesen“ (Fließ an Freud am 26. Juli 1904), dass „die lebendige Substanz in allen Lebewesen männlich und weiblich ist“ (ebd.), stammt wohl von Wilhelm Fließ. Fließ fühlte sich von Freud um die Urheberschaft dieser Idee der ‚Bisexualität’ betrogen, was im Jahr 1904 zu einem brieflichen Schlagabtausch der früheren Freunde führt. Freud gibt Fließ gegenüber nur widerstrebend zu, diesen Gedanken – als üblichen Bestandteil seiner Therapie – an andere weitergegeben zu haben, beispielsweise an Hermann Swoboda (Freud an Fließ am 23. und 27. Juli 1904). Über Swoboda war dieser Geistesblitz anscheinend an Otto Weininger gelangt, der diese Idee dann in Geschlecht und Charakter. offenbar erfolgreich vermarkten konnte. Freud verschweigt in der Diskussion mit Fließ im Jahr 1904 zunächst seine Begegnung mit Weininger im Jahr 1901. Als Freud dann – konfrontiert mit einer Aussage von Oscar Rie, Freund von Freud und Schwager von Fließ – die Kenntnis von dessen Manuskript eingesteht, spricht er gegenüber Fließ am 27. Juli 1904 kleinlaut von „meinem eigenen Versuch, dir diese Originalität zu entwenden“. Der Streit über die Urheberschaft dieser Weisheit führt dann zu einem heftigen öffentlichen Schlagabtausch zwischen Hermann Swoboda und Sigmund Freud auf der einen, Wilhelm Fließ und Richard Pfennig auf der anderen Seite. Der Konflikt entzweite die Freunde und hinterließ bei allen Beteiligten einen bitteren Nachgeschmack.

Texte

über Otto Weininger

  • Artur Gerber: „Sein Äußeres war befremdend. Die hagere Gestalt mutete steif an, entbehrte aller Biegsamkeit und Grazie. Die Bewegungen, oft nur linkisch, unbeholfen, waren meist jäh und unvermittelt. Glätte und Ausgeglichenheit fehlte ihnen. Wie seltsam mußte es den mit seiner Wesensart weniger Vertrauten erscheinen, wenn seine Hand einen Gegenstand zu fassen zögerte und dann rasch, ja heftig zugriff. Diese Hand, die, zart, fast schwächlich, doch meist zur Faust geballt war! Seine Kleidung, schlicht und unmodisch, glich der anderer, unbemittelter Studenten. Er schritt oft zaghaft seines Weges, das Kinn auf die Brust gestützt, oft wieder stürmte er eilig dahin. Keiner aber, der es jemals gesehen, vergaß sein Gesicht. Markant schon durch die Wucht der Stirn, einzigartig durch die großen Augen, deren Blicke die Dinge sanft zu umfassen schienen, bei aller jugendlichen Farbenfrische von gesammelter Kraft war dies Antlitz dennoch nicht schön, fast häßlich. Lachen sah ich es nie, lächeln selten.“ (Taschenbuch und Briefe an einen Freund, 1922)
  • Stefan Zweig: „Sein Gesicht war weniger anziehend. Er sah immer aus wie nach einer dreißigstündigen Eisenbahnfahrt, schmutzig, ermüdet, zerknittert, ging schief und verlegen herum, sich gleichsam an eine unsichtbare Wand drückend, und der Mund unter dem dünnen Schnurrbärtchen quälte sich irgendwie schief herab. Seine Augen (erzählten mir später die Freunde) sollen schön gewesen sein: ich habe sie nie gesehen, denn er blickte immer an einem vorbei (auch als ich ihn sprach, fühlte ich sie keine Sekunde lang mir zugewandt): all dies verstand ich erst später aus dem gereizten Minderwertigkeitsempfinden, dem russischen Verbrechergefühl des Selbstgepeinigten.“ (Vorbeigehen an einem unauffälligen Menschen, Berliner Tagblatt, 3. Oktober 1926)
  • August Strindberg: „Der seltsame, rätselhafte Mensch, der Weininger! Mit Schuld geboren, wie ich! Ich bin nämlich in die Welt gekommen mit bösem Gewissen; mit Furcht vor allem, mit Angst vor Menschen und Leben. Ich glaube jetzt, daß ich Böses getan, bevor ich geboren war. (...) Weiningers Schicksal? Ja, hat er die Geheimnisse der Götter verraten? Das Feuer gestohlen? Die Luft ward ihm zu dick hienieden, deshalb ist er erstickt? Dies zynische Leben war ihm zu zynisch? Daß er weggegangen ist, bedeutet für mich, daß er allerhöchste Erlaubnis dazu hatte. Sonst geschieht so was nicht. Es war so geschrieben.“ (Stockholm, 8. Dezember 1903)
  • Artur Gerber: „In dem Gesichte des Toten war kein Zug von Güte, kein Schimmer von Heiligkeit und Liebe zu sehen. Auch Schmerz nicht; nur ein Ausdruck, der dem Gesichte des Lebenden vollkommen gefehlt hatte: Etwas Furchtbares, etwas Entsetzenerregendes, das, was ihm die Todeswaffe in die Hand gedrückt hatte: Der Gedanke an das Böse.“
  • August Strindberg: „Ich lasse einen Kranz auf sein Grab legen, weil ich sein Gedächtnis ehre als das eines tapferen männlichen Denkers.“ (Stockholm, 12. Oktober 1903)
  • Kurt Tucholsky: "Hätte Otto Weininger nicht das Pech gehabt, einer ganzen wiener Caféhaus-Generation in die Hände zu fallen, die ihn ausschrieb, falsch verstand, schlecht kopierte und überhaupt verdarb – wer weiß, wie er heute in unserm Gedächtnis dastünde! Nun ist ja, wie Karl Kraus an Heine gezeigt hat, jeder Schriftsteller auch an den Folgen schuld, die er hervorruft; aber wenn auch bei Weininger schwarze Stellen sind, an denen sich die Maden festsaugen konnten – alle hat er nicht verdient. Artur Gerber hat (im Verlag von E. P. Tal & Co. zu Leipzig und Wien) unveröffentlichte Notizen Weiningers und einige Briefe von ihm mit einem menschlich schön anmutenden Vorwort herausgegeben. Das Vorwort enthält persönlich sehr interessante Daten – von einem Duell Weiningers war bisher nichts bekannt – und wie hat sich dieser Zweiundzwanzigjährige gequält! ›Geschlecht und Charakter‹ ist nicht mit Tinte geschrieben. Welch ein Mönch! Und welch ein Mensch! Mit Recht hebt Gerber aus den Notizen diese eine hervor, die aufzeigt, wohin ihn der Sturm vielleicht noch getrieben hätte, wäre er uns am Leben geblieben: »Wie kann ich es schließlich den Frauen vorwerfen, dass sie auf den Mann warten? Der Mann will auch nichts andres als sie. Es gibt keinen Mann, der sich nicht freuen würde, wenn er auf eine Frau sexuelle Wirkung ausübt. Der Haß gegen die Frau ist nichts andres als der Haß gegen die eigne, noch nicht überwundene Sexualität.« Einige Notizen sind schwer, andre gar nicht verständlich – aus allen geht aber hervor, wie sich dieser Kopf in die Dinge hineinbohrte, sich in sie fraß; das gärt und wallt, noch ist nichts fertig – und alles ist gehalten durch ein fast übermenschliches Wissen. (Allein der Literaturnachweis zu ›Geschlecht und Charakter‹ ist ein Wunder.) Die Briefe geben dem Fremden nicht allzu viel. Sie sind im Persönlichen unendlich fein, debattieren viel – und zeigen schließlich, wie er da stand, wo jeder seines Formats gestanden hat: allein. Das Schönste aber an dem Buch ist ein Bild. Sie haben Otto Weininger fotografiert, als er tot war. Der Körper sitzt in einem geblümten Stuhl, die Augen sind geschlossen. Gerber hat ihn so gesehen: »In dem Gesichte des Toten war kein Zug von Güte, kein Schimmer von Heiligkeit und Liebe zu sehen. Auch Schmerz nicht, nur ein Ausdruck, der dem Gesichte des Lebenden vollkommen gefehlt hatte: etwas Furchtbares, etwas Entsetzenerregendes, das, was ihm die Todeswaffe in die Hand gedrückt hatte: der Gedanke an das Böse.« Das Bild hat Züge von dem bohrenden, grübelnden Holofernes – nicht von dem Riesen. Es ist in der Tat die Inkarnation des bösen Prinzips und etwas Erschütterndes, weil sich da etwas gegen das Böse gewehrt hat. Ein Taschenbuch für die Damen ist der Band nicht. Aber für Männer und Menschen, die in diesem Chaos, in diesem tiefen Erkennen unter Gestein und Fluten das Gold haben blitzen sehen. »Da kommen die großen Ströme her, wo die Tiefen weinen vor eisigem Grausen.« (Die Weltbühne, 05.02.1920)
  • Friedrich Georg Jünger: "Weininger war kein Antisemit im gehässigen Sinne des Wortes. Vom rohen, vulgären Weiber- und Judenhass war er weit entfernt. Er war kein Täter, kein gewalttätiger Mensch... Das Massive seiner Angriffe entspricht dem Zugriff, dem er sich ausgesetzt fühlt. Seine Polemik ist ein Akt der Selbstverteidigung und Notwehr. Ohne Angst ist der durchdringende Scharfsinn seiner Kombination nicht zu denken, und diese Angst wächst, bis sie Verzweiflung wird."
  • Jean Amery: „Man vergegenwärtige sich nun den 23jährigen Otto Weininger, der vor sich hin starrt und in dessen zum Tode erregten Hirn sich immer wieder nur das Weib spiegelt, das er verachtet, ohne seines Begehrens nach ihm Meister werden zu können; der stets nur den Juden sieht, das schimpflichste, niedrigste aller Geschöpfe, den Juden, der er selber ist. Vielleicht war es ihm, als befände er sich in einem schmalen Raum, dessen Wände immer enger zusammenrücken. Dabei wurde sein Kopf größer, wie ein Ballon, den man aufbläst, und zugleich dünner. Der Kopf schlägt an alle vier einander unerbittlich sich nähernden Mauern, jede Berührung schmerzt und hallt wider, wie der Schlag auf eine Kesselpauke. Am Ende trommelt der nach allen Richtungen rennende Weininger-Schädel einen rasenden Wirbel - bis er… Bis er zerspringt oder "durch die Wand fährt", sagen jene, die außerhalb des Raumes stehen und ihn beobachten. (...) Weininger sah und hörte, so meine ich, spekulierend zugegeben, aber mit aller Kraft eines sich zusammennehmenden Herzens, nur ohne Unterbrechung: "Weib, Jude, Ich - weg mit allem!" (Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod)

aus "Geschlecht und Charakter"

W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber.

Dies zeigt sich besonders deutlich in der so gänzlich verschiedenen Art, wie Mann und Weib ihren Eintritt in die Periode der Geschlechtsreife erleben. Beim Manne ist die Zeit der Pubertät immer krisenhaft, er fühlt, daß ein Fremdes in sein Dasein tritt, etwas, das zu seinem bisherigen Denken und Fühlen hinzukommt, ohne daß er es gewollt hat. Es ist die physiologische Erektion, über die der Wille keine Gewalt hat; und die erste Erektion wird darum von jedem Manne rätselhaft und beunruhigend empfunden, sehr viele Männer erinnern sich ihrer Umstände ihr ganzes Leben lang mit größter Genauigkeit. Das Weib aber findet sich nicht nur leicht in die Pubertät, es fühlt sein Dasein von da ab sozusagen potenziert, seine eigene Wichtigkeit unendlich erhöht.

Der Mann hat als Knabe gar kein Bedürfnis nach der sexuellen Reife; die Frau erwartet bereits als ganz junges Mädchen von dieser Zeit alles. Der Mann begleitet die Symptome seiner körperlichen Reife mit unangenehmen, ja feindlichen und unruhigen Gefühlen, die Frau verfolgt in höchster Gespanntheit, mit der fieberhaftesten, ungeduldigsten Erwartung ihre somalische Entwicklung während der Pubertät. Dies beweist, daß die Geschlechtlichkeit des Mannes nicht auf der geraden Linie seiner Entwicklung liegt, während bei der Frau nur eine ungeheuere Steigerung ihrer bisherigen Daseinsart eintritt.

Aus der Kindheit werden durch eine positive Bewertung von ihrem Gedächtnis nur die sexuellen Momente herausgehoben, und auch diese sind im Nachteile gegenüber den späteren unvergleichlich höheren Intensifikationen ihres Lebens - welches eben ein Sexualleben ist. Die Brautnacht endlich, der Moment der Defloration, ist der wichtigste, ich möchte sagen, der Halbierungspunkt des ganzes Lebens der Frau. Im Leben des Mannes spielt der erste Koitus im Verhältnis zu der Bedeutung, die er beim anderen Geschlechte besitzt, überhaupt keine Rolle.

Die Frau ist nur sexuell, der Mann ist auch sexuell.

Weiningers Nacht (Theaterstück)

Der israelische Dramatiker Joshua Sobol schrieb über Otto Weininger ein international erfolgreiches Theaterstück: The Soul of a Jew (Weiningers Nacht). Das Stück spielt in Weiningers letzter Nacht in Beethovens Sterbehaus, die Szenen skizzieren Weiningers Leben im Rückblick der letzten Sekunden völliger Einsamkeit, im Augenblick des Schusses, im Moment zwischen Leben und Tod: Vor dem Auge Weiningers tauchen die Gestalten der Kindheit, Vater und Mutter, die Begleiter der Studienzeit, Freunde, Lehrer und Geliebte und die Idole und Konkurrenten der Geisteswelt, Sigmund Freud, August Strindberg und der Kritiker Möbius auf, um ihn in einem mörderischen Reigen dem Tod in die Arme zu treiben. Zeremonienmeister dieser spektakulären Hatz ist Weiningers Doppelgänger (gespielt von einer Frau), der sein Alter Ego vor das unlösbare Problem der Selbstfindung stellt und schließlich mit ihm zusammen untergeht.

Die Uraufführung erfolgte 1982 am Haifa Municipal Theatre und wurde zur Eröffnung des Edinburgh Festivals eingeladen, wo es mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. Paulus Manker inszenierte eine erweiterte Fassung 1988 am Wiener Volkstheater, die 1989 auch verfilmt wurde.

Joshua Sobol: "Sieht man Weiningers Fall, auch den historischen, dann versteht man, dass es keinen Haß gibt ohne ein starkes Element von Selbsthass. Und der führt zur Selbstzerstörung. - Ich denke, wenn die Deutschen verstehen, was mit ihnen in der Nazi-Zeit passierte, dann müßte ihnen klar werden, dass sie über die Judenverfolgung auch sich selbst zerstörten."

Bibliographie

Schriften von Otto Weininger

  • Eros und Psyche. Biologisch-psychologische Studie. Manuskript, hinterlegt in der Akademie der Wissenschaften in Wien am 4. Juni 1901 zur Wahrung der Priorität, versiegeltes Schreiben No. 376
  • Zur Theorie des Lebens. Manuskript, hinterlegt in der Akademie der Wissenschaften in Wien am 1. April 1902 zur Wahrung der Priorität, versiegeltes Schreiben No. 390
  • Unterschied zwischen Ich-Menschen und Weltmenschen. Auszüge aus „Zur Theorie des Lebens“, mit einem Vorwort von Hannelore Rodlauer: Zur Entdeckung unbekannter Manuskripte aus Weiningers Studienzeit (in: Weiningers Nacht), Europa Verlag, Wien 1988
  • Eros und Psyche. Studien und Briefe 1899-1902 (Hg. Hannelore Rodlauer), Sitzungsberichte der philosophisch-historische Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1990
  • Über Eros und Psyche. Dissertation. (verschollen), Wien 1902
  • Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1903. Nachdruck (im Anhang: Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht], Matthes & Seitz, München 1980 & 1997; ISBN 3-8822-1312-4; englische Ausgabe: Sex and Character, London 1906 (Nachdruck: New York 1975)
  • Über die letzten Dinge (mit einem biographischen Vorwort von Dr . Moriz Rappaport). Braumüller, Wien 1907; Nachdruck (im Anhang: Theodor Lessing, Otto Weininger), Matthes & Seitz, München 1980 ISBN 3-8822-1320-5
  • Die Liebe und das Weib. Ein Versuch, Verlag der Zeitschrift "Ver!", Wien, 1921
  • Taschenbuch und Briefe an einen Freund (Hg. von Artur Gerber, mit einem Nachwort »ECCE HOMO!« von Artur Gerber sowie Briefen von August Strindberg an den Herausgeber), E. P. Tal & Co., Leipzig/Wien 1922. Nachdruck bei Matthes & Seitz, München 1980 ISBN 3-8822-1312-4
  • Brief an Karl Kraus vom 20. Juni 1903, in: Die Fackel. Nr. 568-571, Mai 1921
  • Verse. in: Die Fackel Nr. 158, Wien 1923
  • Genie und Verbrechen (eingeleitet und ausgewählt von Walther Schneider), Stiasny-Bücherei Band 123, Stiasny Verlag, Graz und Wien 1962

Sekundärliteratur

  • Max Nordau: Der Schuß im Nebel, in: Vossische Zeitung. Oktober 1903
  • August Strindberg: Idolatrie, Gynolatrie. Ein Nachruf auf Otto Weininger, in: Die Fackel. Nr. 144, 17. Oktober 1903
  • August Strindberg: Briefe an Artur Gerber (in: Geschlecht und Charakter), Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig 1903. Nachdruck bei Matthes & Seitz Verlag, München 1980
  • Karl Bleibtreu; Otto Weininger's »Geschlecht und Charakter«, Die Fackel. Nr. 157 (19.3.1904)
  • Leopold Weininger: Der Fall Otto Weininger. Erklärung und Berichtigung [Mit Erläuterungen von Karl Kraus], in: Die Fackel. Nr. 169, 23. November 1904
  • Dr. Ferdinand Probst: Der Fall Otto Weininger. Eine psychiatrische Studie (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Einzel-Darstellungen für Gebildete aller Stände. Band 31), Wiesbaden 1904
  • Egon Friedell: Entwurf einer Rezension zu Geschlecht und Charakter, 1904 (Wiener Stadt- und Landesbibliothek H.I.N. 196.936)
  • Emil Lucka: Otto Weininger. Sein Werk und seine Persönlichkeit, Wien/Leipzig 1905
  • Wilhelm Fliess: In eigener Sache. Gegen Otto Weininger und Hermann Swoboda, Berlin 1906
  • Oskar Pfennig: Wilhelm Fließ und seine Nachentdecker Otto Weininger und Hermann Swoboda, Berlin 1906
  • Robert Saudek: Gedanken über Geschlechtsprobleme von Otto Weininger, Berlin 1907
  • Dr. Paul Julius Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, 1905
  • Carl Dallago: Otto Weininger und sein Werk Brenner-Verlag, Innsbruck 1912
  • Bruno Sturm: Gegen Weininger. Ein Versuch zur Lösung des Moralproblems, 1912
  • Kurt Tucholsky (Peter Panter): Ein Taschenbuch, Die Weltbühne, 05.02.1920, Nr.6
  • Hermann Swoboda: Otto Weiningers Tod, H. Heller & Cie., Wien/Leipzig 1923
  • Georg Klaren: Otto Weininger, 1924
  • Hermann Swoboda: Gedanken über den Denker und das Denken (in: Über die letzten Dinge), Braumüller, Wien/Leipzig 1930. Nachdruck bei Matthes & Seitz Verlag, München 1980
  • Theodor Lessing: Otto Weininger (in: Der jüdische Selbsthass), Jüdischer Verlag, Berlin 1930
  • Hermann Swoboda: Die gemeinnützige Forschung und der eigennützige Forscher - Zur Plagiatsaffäre. Braumüller, Wien/Leipzig
  • Dr. Moritz Rappaport: Biographisches Vorwort (in: Über die letzten Dinge, 2. Auflage), Braumüller, Wien/Leipzig 1930
  • Artur Gerber: Ecce Homo! (in: Taschenbuch und Briefe an einen Freund), E. P. Tal & Co. Verlag, Leipzig/Wien 1922
  • Emil Lucka: Erinnerung an Leopold Weininger, Neue Freie Presse, Wien 1922; auch in: Weiningers Nacht, Europa Verlag, Wien 1988
  • Stefan Zweig: Vorbeigehen an einem unauffälligen Menschen - Otto Weininger, Berliner Tagblatt, 3. Oktober 1926; auch in: Europäisches Erbe, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1960
  • Emil Szittya: Der Philosoph (in: Selbstmörder), C. Weller & Co., Leipzig 1925
  • Sigmund Freud: Der Kastrationskomplex (1909) (in: Analyse der Phobie eines 5jährigen Knaben, Gesammelte Werke in 18 Bänden, Bd. 7), Imago Publishing Co., London 1941. Deutsch: S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
  • David Abrahamsen: The Mind and Death of a Genius. Columbia University Press, New York 1946
  • Franz Theodor Csokor: Otto Weininger, zu seinem 80. Geburtstag, in: Wort in der Zeit 6, 1960
  • Walther Schneider: Genie und Verbrechen, Stiasny, Graz/Wien 1962
  • Heimito von Doderer: Rede auf Otto Weininger (1963), in: Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger, Wien/München 1985
  • Friedrich Georg Jünger: Otto Weininger. Essay, 1972
  • Jean Amery: Vor dem Absprung (in: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod), Klett-Cotta, Stuttgart 1976
  • Richard Weininger: Exciting Years. Edited by Rodney Campbell, Hicksville, N.Y. 1978
  • Otto Weininger. Werk und Wirkung. Herausgegeben von Jacques Le Rider und Norbert Leser, Wien 1984
  • Nike Wagner: Geschlecht und Charakter, Die Zeit Nr. 48, Hamburg, 21. November 1980; ungekürzt in: Weiningers Nacht, Europa Verlag, Wien 1988
  • Roland Jaccard: Über die Unfähigkeit zu schreiben, auf Grund der Unmöglichkeit, sich lange genug ernst zu nehmen (in: Lou - Fiktive Autobiographie der Lou Andreas-Salomé), Paris 1982
  • Jacques Le Rider: Otto Weininger als Anti-Freud (in: Traum und Wirklichkeit. Austellungskatalog), Wien 1985
  • Bernd Nitschke: Männerängste, Männerwünsche um 1900 (in: Männerängste, Männerwünsche), Matthes & Seitz, München 1984
  • Jacques Le Rider: Der Fall Otto Weininger. Wurzeln des Antifeminismus und des Antisemitismus, Löcker Verlag, Wien 1985 ISBN 3854090544
  • Jacques Le Rider: Modernismus/Feminismus - Modernität/Virilität: Otto Weininger und die asketische Moderne. In: Ornament und Askese - im Zeitgeist des Wien der Jahrhundertwende (Hg. Alfred Pfabigan), Brandstätter, Wien 1985
  • Joachim Riedl: Weib, Jude, Ich - Weg mit allem!, Die Zeit Nr. 50, Hamburg, 6. Dezember 1985; auch in: Weiningers Nacht, Europa Verlag, Wien 1988
  • E.M. Cioran: Otto Weininger. Brief an Jacques le Rider (in: Widersprüchliche Konturen), Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986
  • J.M. Masson: Sigmund Freud. Brief an Wilhelm Fließ 1887-1904. S. Fischer, 1986, S. 508 ff. ISBN 3-10-022802-2
  • Hannelore Rodlauer: Von ´Eros und Psyche´ zu ´Geschlecht und Charakter´, Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1987
  • Miklós Hernádi: Weiningers Ende. Ein Kriminalroman (aus dem Ungarischen von Erika Bollweg), Eichborn, Frankfurt am Main 1993 (ISBN 3-8218-4097-8).
  • C. Sengoopta: Otto Weininger. Sex, Science, and Self in Imperial Vienna, University of Chicago Press, 2000 ISBN 0-226-74867-7
  • Stern, David G. and Béla Szabados (eds). Wittgenstein Reads Weininger. New York: Cambridge University Press, 2004. ISBN 0-521-53260-4
  • M. Salewski: Der Weg zum Holocaust. In: FAZ, 25. Januar 2005, S. 8
  • A. Kerekes, A. Millner, M. Orosz, K. Teller (Hg.): Mehr oder Weininger. Eine Textoffensive aus Österreich/Ungarn. Braumüller, Wien 2005 ISBN 3-7003-1526-0