Antisemitismus
Judenfeindlichkeit ist eine pauschale Ablehnung der Juden aus verschiedenen Motiven. Synonym dafür wird heute auch der Begriff Antisemitismus verwendet, der seit 1879 eine besondere nationalistische und rassistische Judenfeindschaft bezeichnete.
Juden waren und sind seit mehr als 2000 Jahren weltweit oft - besonders in Europa - Anfeindung, Unterdrückung, Diskriminierung, Verfolgung, Pogromen, Vertreibung und Ermordung ausgesetzt. Diese Feindschaft richtete sich gegen:
- das jüdische Volk im Raum Palästina: Antike Judenfeindschaft;
- das Judentum bzw. die jüdische Religion: Antijudaismus im Mittelalter, später stärker nach Ländersituationen differenziert: Antijudaismus in der Neuzeit;
- eine angebliche jüdische „Rasse“: Antisemitismus bis 1945;
- die Existenz des modernen Staates Israel: Antizionismus, heute oft auch als Antisemitismus in islamischen Ländern;
- weiterbestehende, latente wie manifeste, alte und neue Formen pauschaler Ablehnung des „Jüdischen“: Antisemitismus nach 1945.
Überblick
Diese Formen von Judenfeindlichkeit haben je eigene Hauptmerkmale, die sich historisch voneinander unterscheiden lassen. Zugleich bestehen Kontinuitäten zwischen ihnen: Dazu gehören antijüdische Stereotypen vom „gottlosen“, „menschenfeindlichen“, „verstockten“, „reichen“, „geizigen“, „neidischen“, „schmarotzenden“ und „heimtückischen“ Juden. Verunglimpfende antijüdische Karikaturen aus verschiedenen Zeiten ähneln sich. Auch die Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung kehrt immer wieder.
Ab 1933 wurde ein rassistischer Antisemitismus zur Staatsdoktrin im nationalsozialistischen Deutschland. Die antisemitische NS-Ideologie gipfelte in der staatlich organisierten und industriell vollzogenen Massenvernichtung des „Holocaust“ während des Zweiten Weltkriegs.
Da die Wurzeln, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von antiker, christlicher, neuzeitlicher und gegenwärtiger Judenfeindlichkeit noch unzureichend erforscht wurden, trifft man oft eine begriffliche Konfusion an: So werden antike und mittelalterliche Judenverfolgung, aber auch heutige antizionistische und anti-israelische Haltungen oft pauschal als „Antisemitismus“ eingeordnet, auch wenn sie nicht unbedingt rassistisch motiviert sind. Doch dieser Begriff hat sich seit 1945 in der Antisemitismusforschung für die fundamentale Ablehnung alles „Jüdischen“ eingebürgert. Damit wird allerdings der von Judengegnern ideologisch geprägte Rassenbegriff indirekt übernommen. Dies unterstellt unter Umständen auch dort Ausrottungsabsichten, wo diese nicht vorhanden waren.
Andererseits bezieht sich auch sonstige kulturelle, religiöse und nationalistische Judenfeindlichkeit oft auf das Judentum als Ganzes und bekämpfte es als „Volk“. Der Begriff „Judenfeindlichkeit“ kann Tendenzen, die schon vor dem 19. Jahrhundert auf Unterdrückung, Vertreibung und Ausrottung aller Juden hinausliefen, übersehen und einebnen. Auch erfasst dieser unspezifische Oberbegriff noch nicht die besondere Ablehnung „des Jüdischen“, die auch ohne reale Juden funktioniert. Darin deutet sich das Problem einer allgemein gültigen Definition des Phänomens an.
Gemeinsam ist allen Formen von Judenfeindlichkeit ihre Irrationalität. Juden wird gemäß dem Zitat des Patriarchen aus Lessings Nathan der Weise oft das Existenzrecht abgesprochen, einfach weil sie Juden sind: Tut nichts, der Jude wird verbrannt. Das zu Grunde liegende Phantombild, das im Nationalsozialismus paranoide Dimensionen annahm, besagt: Juden seien per se verkommen, böse und verdorben. Als „typisch“ für sie gilt dann alles, was diesem Negativbild entspricht; Was ihm widerspricht, kann nichts mit dem Judesein zu tun haben und wird als Verstellung angesehen. Die Absurdität dieser Vorurteilsstruktur drückt ein von Kurt Tucholsky überlieferter jüdischer Witz aus den 1930er Jahren aus. Darin sagt ein Jude zum anderen:
- Es geht wieder los, gegen die Juden und gegen die Fahrradfahrer!
- Wieso denn gegen die Fahrradfahrer?
Prinzipielle Judenfeindschaft tendierte bei all ihren widersprüchlichen Begründungen letztlich auf die völlige Auslöschung des Judentums: sei es, indem es zur überholten und „verworfenen" Religion erklärt wurde, sei es, indem es einem allgemeinen humanen „Fortschritt“ zum Opfer gebracht werden sollte oder zum Untergang durch den Selbstbehauptungskampf einer überlegenen „Rasse" bestimmt wurde. Diese irrationalen pauschalen Judenbilder gelten als Beispiel für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder (Wolfgang Benz). Sie haben sich über die Jahrhunderte als außergewöhnlich stabil und wandlungsfähig erwiesen; warum dieser Hass in Europa immer wieder besonders Juden traf, ist noch nicht zureichend erklärt.
Antike Judenfeindschaft
Die Großreiche der Antike - Ägypter, Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer - versuchten oft, den eroberten Völkern ihre Götter und Kultur aufzuzwingen. Dabei erlaubte der verbreitete Polytheismus ihnen oft einen Synkretismus: Neue Götter wurden in das eigene Pantheon aufgenommen oder man verehrte die alten Götter unter den Namen der Neuen weiter. Antike Religionspolitik war jedoch meist mit dem Gottkönigtum verbunden und von einem Staatskult überwölbt, um die unterworfenen Völker zu vereinheitlichen.
Das Judentum sah sich seit seinen Anfängen von fremdem Völkern und ihren Göttern bedroht, denn es akzeptierte nur einen Gott als Schöpfer der ganzen Welt (Monotheismus). Die Juden verweigerten sich vielfach dem Polytheismus, Synkretismus und Gottkönigtum der antiken Umwelt und schienen damit die Wertorientierung umliegender Kulturen zu missachten. Das führte zu einer Reihe von religiös-politischen Konflikten in und um Israel. So versuchte schon der Seleukide Antiochus IV. um 170 v. Chr., den Zeuskult in Israel zu etablieren. Als dies unter den Makkabäern Widerstand auslöste, versuchte er, die Religion und damit Identität des Volkes Israel auszulöschen.
Die neue Weltmacht Rom tolerierte zunächst die eigenständige Religionsausübung des Judentums mitsamt seinem Tempelkult. Doch in der römischen Kaiserzeit entstanden erneut Spannungen, die schließlich zum jüdischen Krieg führten. Er endete 70 n. Chr. mit der Zerstörung des 2. Jerusalemer Tempels. Damit verlor das Judentum sein religiöses und staatliches Zentrum, 135 auch seine Eigenstaatlichkeit in Palästina. In der Folgezeit verfestigten sich antijüdische Stereotypen gerade bei gebildeten Römern: Ihnen galten Juden als „Feinde des Menschengeschlechts“.
Antijudaismus im Mittelalter
Die zentralen Thesen und religiösen Deutungsmuster des christlichen Antijudaismus wie der „Christus-“ bzw. „Gottesmord“, der allen Juden Schuld am Tod Jesu gab, und die „Enterbung“ des Volkes Gottes zu Gunsten der Kirche (Substitutionstheologie) sind von verschiedenen Schriften des Neuen Testaments hergeleitet (siehe Antijudaismus im Neuen Testament). Sie dienten anfangs der Selbstbehauptung einer jüdischen Minderheit in Israel, wurden von der heidenchristlichen Mehrheit übernommen und seit 380 in eine Staatsreligion mit universalem Herrschaftsanspruch integriert.
Im Mittelalter nahm die antijüdische Kirchenpolitik Züge einer systematischen Verfolgung an. Juden wurden nach erfolglosen Missionsversuchen zwangsgetauft, später ghettoisiert und dämonisiert. In Spanien, wo die Juden 1492 zwangsgetauft oder vertrieben wurden, bildete sich sogar eine Frühform einer ethnisch begründeten Judenfeindschaft: Nur Christen, die eine „limpieza de sangre“ (span. für Reinheit des Blutes) aufwiesen, das heißt nicht von Muslimen oder Juden abstammten, galten der Inquisition als unverdächtig. Im Kontext von sozialen Missständen, Kreuzzügen und Pest führte der Aberglaube häufig zu Massakern (Pogromen) an Juden. Martin Luther empfahl 1543 in seiner Schrift „Von den jüden und iren lügen“ die Ausweisung der Juden, Arbeitszwang und Verbot ihrer Religionsausübung.
Die christliche Judenfeindlichkeit des Mittelalters dachte außerhalb Spaniens noch nicht in rassischen Kategorien, richtete sich aber gegen alle Juden als Nachkommen der „Mörder“ des Heilands. Diese religiöse Ablehnung bestimmte Theologie und Politik im christlichen Abendland bis zur Aufklärung und darüber hinaus. Sie prägt die Volksfrömmigkeit vielfach bis in die Gegenwart hinein (siehe Antijudaismus in der Neuzeit).
Antisemitismus bis 1945
Nach der Französischen Revolution 1789 entstanden überall in Europa nationalistische Bewegungen. Das 19. Jahrhundert brachte zwar auch die beginnende Emanzipation der Juden in Europa, der Judenhass wirkte jedoch auch im aufgeklärten Bürgertum fort, suchte sich nun aber pseudowissenschaftliche Gründe. Ab etwa 1860 keimte der Rassismus auf. Auch Juden wurden nun als „Rasse“ definiert.
Im Kaiserreich bildete sich daraus eine politische Ideologie. Ein Konglomerat rechtsgerichteter Gruppen machte die Bekämpfung, Isolierung, Vertreibung und schließlich Vernichtung alles „Semitischen“ zu seinem Programm. Gemeint waren die Juden. Das bereitete dem Nationalsozialismus den Boden und führte zuletzt zum staatlich organisierten Massenmord (Holocaust) am europäischen Judentum.
Antizionismus
Die durchgängige Judenfeindlichkeit in Europa führte Ende des 19. Jahrhunderts zur organisierten Suche von Juden nach einer eigenen Heimat. Diese Bewegung des Zionismus rief nach den ersten Einwanderungswellen (Alijot) eine Gegenreaktion hervor. Mit dem arabischen Aufstand 1936-39 begann der Widerstand von Palästinensern gegen jüdische Siedler. Dieser wandte sich gegen die jüdische Besiedlung Palästinas und seit 1948 gegen die Existenz des Staates Israel.
Dessen Politik verstärkte seit dem Sechstagekrieg 1967 den Hass auf alle Juden: besonders in arabischen Ländern, aber auch in Europa und anderen Teilen der Welt. Dieser findet immer neue Nahrung durch den fortdauernden Nahostkonflikt. Dabei übernehmen die Medien und Eliten islamisch geprägter Länder oft ungebrochen Motive aus dem europäischen Antisemitismus oder Antijudaismus.
Dennoch muss diese arabisch-islamische Judenfeindlichkeit aus ihrer eigenen Geschichte heraus erklärt werden. Der Konflikt hat auf beiden Seiten zu ideologischer Verschärfung und Verblendung geführt. Es gibt heute Juden und Bürger Israels, die den heutigen Zionismus ablehnen, so wie der Islamismus nicht von sämtlichen Muslimen und Arabern vertreten wird. Antizionismus ist deshalb nicht prinzipiell mit Judenhass gleichzusetzen. Kritiker wie zum Beispiel Uri Avnery haben vorgeschlagen, die Befreiung Israels von zionistischer Ideologie würde die Grundlage schaffen, auf nüchterner, partnerschaftlicher Ebene an einem Nahostfrieden zu arbeiten.
Antisemitismus nach 1945
Antijudaismus, Rassismus und Antisemitismus sind seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs keineswegs überwunden. Sie bestehen als latente, in Krisenzeiten aktivierbare Strömung in Deutschland wie auch anderen Ländern weiter und zeigen sich in letzter Zeit wieder verstärkt.
In der Bundesrepublik ist ein gesellschaftliches Umfeld entstanden, das nach Untersuchungen der Antisemitismusforschung neben allgemeiner Fremdenfeindlichkeit auch die Duldung von offener Feindschaft gegen Juden und Gewaltakte gegen Synagogen oder Friedhofsschändungen begünstigt:
- Der Geschichtsrevisionismus fälscht oder relativiert die Ursachen des Holocaust; auch die Holocaustleugnung besteht fort.
- Ein „sekundärer Antisemitismus“ gibt Juden die Schuld für gefühlte Belastungen, z. B. für die Zwangsarbeiter-Entschädigungen.
- Israelkritik wird im Kontext aktueller Spannungen im Nahostkonflikt, im Gefolge des Irakkriegs und des Islamismus häufig zu Israel- und Judenfeindschaft verallgemeinert.
- Antiamerikanismus, Antikapitalismus und neue Weltverschwörungstheorien verbinden sich mit alten antisemitischen Klischees.
- Rechtsextreme Gewalt und rechtspopulistische Parteien vernetzen sich stärker und gewinnen Präsenz in Landtagen und Öffentlichkeit.
- Ein zunehmender Teil der Gesellschaft will über 50 Jahre nach dem Kriegsende einen „Schlussstrich“ unter das Thema Holocaust gezogen wissen: Bei einer Forsa-Umfrage aus dem Jahre 2003 sprachen sich 61% der 1.301 Befragten in diesem Sinne aus. Von den Befragten ließen sich 23 Prozent eindeutig „latenten bis starken antisemitischen Einstellungen zuordnen“.
- Zugleich sterben die letzten überlebenden Zeitzeugen des Holocaust aus, so dass ihr persönliches Erleben die öffentliche Wahrnehmung der Vergangenheit nicht mehr beeinflussen kann.
Siehe auch
Literatur
- Christina von Braun, Ludger Heid: Der ewige Judenhass. Philo Verlagsgesellschaft, 2006, ISBN 3825701492
- Wolfgang Benz: Was ist Antisemitismus? Beck, München 2004, ISBN 3406522122
- Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit - Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls. Bvt Berliner Taschenbuch Verlag, Juli 2005, ISBN 3833303042
- Shmuel Almog (Hrsg.): Antisemitism through the Ages. Pergamon Press, Oxford 1988, ISBN 0080347924
Weblinks
- Kurt Schubert, Uni Linz: Gestaltwandel des Antisemitismus, 2002
- Vom religiösen Antijudaismus bis zur Endlösung (Shoa.de)
- Geschichte der Judenverfolgung, von Chajm Guski
- Manfred Gerstenfeld: Die tiefen Wurzeln des Antisemitismus in der europäischen Gesellschaft, 2005
- Tobias Jaecker: Antizionistisches Einerlei. Antisemitismus im akademischen Milieu, 2006
- Antisemitische Karikaturen und Cartoons (Fremdbilder – Selbstbilder) (PDF, aus der Didaktikmappe zur Ausstellung: Antijüdischer Nippes, populäre Judenbilder und aktuelle Verschwörungstheorien im Jüdischen Museum Hohenems, 2005)
- Abwehrblätter, das Organ des deutschen Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, Digitalisat aller Ausgaben 1891–1933, mit vielen Meldungen über zeitgenössische antisemitische Vorfälle und Strömungen