Wilhelm II. (Deutsches Reich)
Wilhelm II., mit vollem Namen Friedrich Wilhelm Albert Victor Targino von Preußen, (* 27. Januar 1859 in Berlin; † 4. Juni 1941 in Haus Doorn, Niederlande) entstammte der Dynastie der Hohenzollern und war von 1888 bis 1918 der letzte Deutsche Kaiser und König von Preußen.

Einleitung
Die dreißigjährige Regentschaft Wilhelms II. (von 1888 bis 1918) wird als die wilhelminische Epoche Deutschlands bezeichnet. Herausragende Merkmale waren das Streben des Kaisers nach nationalem Prestige und die Versuche, das Reich in den Rang einer Weltmacht zu erheben. Eng verbunden mit diesem Anspruch war die militärische Aufrüstung Deutschlands und die Forcierung der Kolonialpolitik in Afrika und der Südsee. Dies und die Verwicklung Deutschlands in verschiedene internationale Krisen (zum Beispiel Krügerdepesche 1896, Marokko-Krisen 1905/06 und 1911, Daily-Telegraph-Affäre 1908) führte zu einer Destabilisierung der Außenpolitik.
Die Vorliebe Wilhelms für militärischen Prunk, die sich beispielsweise in zahlreichen Paraden zu den unterschiedlichsten Anlässen ausdrückte, führte auch gesellschaftlich zu einer Überbetonung des Militärs und militärischer Hierarchien bis hinein ins zivile Leben der deutschen Gesellschaft, in der für eine berufliche Laufbahn - nicht nur im Verwaltungsapparat - die Ableistung des Militärdienstes und der militärische Rang eines Menschen von entscheidender Bedeutung war (Militarismus).
Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands während Wilhelms Regentschaft, verbunden mit technologischem, naturwissenschaftlichem und industriellem Fortschritt begünstigte eine auch vom Kaiser mit getragene allgemein verbreitete Technik- und Fortschrittsgläubigkeit. Innenpolitisch setzte er die für ihre Zeit als modern und fortschrittlich geltende Sozialpolitik Bismarcks fort und erweiterte sie. Er setzte sich für die Abschaffung des Sozialistengesetzes ein und suchte, teilweise erfolglos, den Ausgleich zwischen ethnischen und politischen Minderheiten
Wilhelm II. machte äußerlich den Eindruck, sowohl die Innen- als auch Außenpolitik des Reiches wesentlich stärker als sein Großvater Wilhelm I. zu beeinflussen. Das "persönliche Regiment" des Kaisers war aber in Wirklichkeit eine von häufig wechselnden Beratern gesteuerte Politik, die die Entscheidungen Wilhelms im Urteil der meisten Historiker oft widersprüchlich und letztlich unberechenbar erscheinen ließen. Wilhelm II. nutzte durch seinen sprunghaften Charakter die Macht, die ihm die Reichsverfassung zugestand, nie konsequent, musste aber immer wieder erleben, dass diejenigen, die ihn zu schwerwiegenden Entscheidungen drängten, sich hinter seinem Rücken versteckten, als sich deren Misserfolg abzeichnete. Die Marokkokrisen oder die Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges sind nur zwei Beispiele für Entscheidungen anderer Personen, die den Ruf des Kaisers heute nachhaltig belasten.
Auch war seine Amtszeit von politischen Machtkämpfen zwischen den einzelnen Parteien geprägt, die es den amtierenden Kanzlern nur schwer möglich machten, längerfristig im Amt zu bleiben. So wurden im Kampf zwischen Nationalliberal-Konservativen Kartell, Bülow-Block und Sozialdemokraten fünf von sieben Kanzlern unter kritischem Mitwirken des Parlaments entlassen.
Während des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 wurde Wilhelms strategische und taktische Unfähigkeit offenbar. Ab 1916 enthielt er sich zunehmend relevanter politischer Entscheidungen und gab die Führung des Reiches faktisch in die Hände der Obersten Heeresleitung, namentlich in die der Generäle Hindenburg und Ludendorff, die, dem Kaiser durchaus ergeben, die Monarchie während der letzten Kriegsjahre mit starken Zügen einer Militärdiktatur versahen. Als Wilhelm II. sich nach Ende des Ersten Weltkriegs in Folge der Novemberrevolution, die zum Ende der Monarchie und zur Ausrufung der Republik führte, zur Abdankung und zur Flucht ins Exil nach Holland entschloss, hatte Deutschland den Krieg verloren. Etwa 10 Millionen Menschen waren auf den Schlachtfeldern gefallen.
Kindheit und Jugend
Wilhelm II. wurde am 27. Januar 1859 in Berlin als ältester Sohn des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen (1831–1888) (vom 9. März bis 15. Juni 1888 Deutscher Kaiser Friedrich III.) und dessen Frau Victoria (1840–1901) geboren und war somit Enkel Kaiser Wilhelms I. (1797–1888) und der englischen Königin Victoria (1819–1901).

Wilhelm, von Geburt an durch einen verkümmerten linken Arm behindert, verbrachte laut eigenen Aussagen „eine recht unglückliche Kindheit“. Wie im Hochadel üblich, traten seine Eltern als unmittelbare Erzieher ganz hinter seinem calvinistischen Lehrer Georg Ernst Hinzpeter zurück. Als Siebenjähriger erlebte er den Sieg über Österreich-Ungarn 1866 mit der daraus resultierenden Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Mit zehn Jahren, im damals üblichen Kadettenalter, trat er beim 1. Garde-Regiment zu Fuß formell als Leutnant in die preußische Armee ein. Als Zwölfjähriger wurde er mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches nach dem Sieg über Frankreich 1871 auch übernächster Anwärter auf den deutschen Kaiserthron.
Nach dem Abitur am Friedrichsgymnasium in Kassel trat er am 9. Februar 1877 seinen realen Militärdienst bei seinem Regiment (6. Kompagnie, Hauptmann v. Petersdorff) an. 1880 wurde er am 22. März, dem Geburtstag seines Großvaters Kaiser Wilhelm I., zum Hauptmann befördert. Bereits in diesen Jahren bildete sich bei ihm ein Verständnis seiner monarchischen Rolle, das den liberal-konstitutionellen Vorstellungen seiner Eltern zuwiderlief.
Seine folgenden Lebensstationen sind unter dem Aspekt einer Erziehung zum Monarchen zu sehen: Er sollte möglichst vielerlei Erfahrungen sammeln, hatte aber in keinem Feld, nicht einmal im militärischen, die Chance gehabt, sich beruflich solide einzuarbeiten.
Zum Studium begab er sich an die von seinem Urgroßvater gegründete Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wo er nichtschlagendes Mitglied des Corps Borussia wurde.
1881 heiratete er Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (22. Oktober 1858–11. April 1921).
Bis 1888 war er dann wechselnden Regimentern zugeordnet, dem 1. Garde-Regiment zu Fuß, dann dem Garde-Husaren-Regiment und dem 1. Garde-Feldartillerie-Regiment, wurde schnell bis zum untersten Generalsrang (Generalmajor) befördert und zuletzt Kommandeur der 2. Garde-Infanterie-Brigade. Der Militärdienst wurde immer wieder durch Beurlaubungen unterbrochen, damit er sich auch soweit möglich mit der zivilen Verwaltung vertraut machen konnte. Sehr gründlich konnte dies nicht geschehen, denn immer mehr Eile war geboten: Sein Großvater stand im höchsten Alter, und sein Vater war mittlerweile todkrank.
Für die Regierungsgeschäfte war dies weniger problematisch, als man vermuten konnte, da bereits seit 1862 Otto von Bismarck, zunächst als preußischer Ministerpräsident, ab 1871 als Reichskanzler die politische Macht fest in seiner Hand konzentriert hatte. Bismarck sah sich nach drei siegreichen Kriegen (1864, 1866, 1870/71) und als Einiger Deutschlands zur stärksten kontinentaleuropäischen Macht, als weltweit respektierter Staatsmann. Wilhelm I. und Friedrich III. hatten ihm gelegentlich opponiert und am Ende stets vertraut. Von diesem Vertrauen hing allerdings nach der Reichsverfassung der Reichskanzler ab, nicht vom Vertrauen des Reichstags. Bismarck baute selbstbewusst darauf, auch den dritten Kaiser lenken zu können.
Nach dem Tode Wilhelms I. am 9. März 1888 regierte Friedrich III. aufgrund seiner bereits fortgeschrittenen Krankheit (Kehlkopfkrebs) nur für 99 Tage (der „99-Tage-Kaiser“). Friedrich III. starb am 15. Juni in Potsdam.
An diese Konstellation hatte der 29-jährige Wilhelm II. bei seinem Amtsantritt anzuknüpfen. Er wünschte, ein Kaiser aller Deutschen zu sein.
Regentschaft und Politik
Soziale Reformen
„[...], weil die Arbeiter meine Untertanen sind, für die ich zu sorgen habe! Und wenn die Millionäre nicht nachgeben, werde ich meine Truppen zurückziehen und wenn ihre Villen erst in Flammen stehen, werden sie schon klein beigeben!“ (Wilhelm II. zu Otto von Bismarck, als er sich weigerte, Soldaten zur Niederschlagung eines Streiks im Ruhrgebiet zu schicken.)
Dieses Zitat und andere Äußerungen Wilhelms in den ersten Jahren seiner Regentschaft weckten in der Arbeiterschaft zunächst Hoffnungen auf einen sozialen Wandel im Reich.
Die Sozialpolitik lag Wilhelm II. durchaus am Herzen. Allerdings folgten seinen sozialen Reformen keine strukturellen Veränderungen im Reich. Im Gegenteil baute er seinen politischen Einfluss noch aus und lehnte eine Demokratisierung der Verfassung ab. Preußen behielt das seit Anfang der 1850er Jahre bestehende undemokratische Dreiklassenwahlrecht, das eine wirklich repräsentative Landtagsvertretung verhinderte. Nach wie vor wurde die Regierung nicht vom Reichstag gewählt, sondern vom Kaiser ohne Berücksichtigung der parlamentarischen Verhältnisse bestimmt oder entlassen. Es war dem Kanzler aber auch nicht möglich ohne Mehrheit im Parlament Gesetze zu erlassen oder den Haushalt zu beschließen. Das Parlament war in seiner Macht, als echte Legislative, nicht zu unterschätzen.
Bei alledem forderte Kaiser Wilhelm II. noch während Bismarcks Kanzlerschaft am 178. Geburtstag Friedrichs des Großen in einer Proklamation an sein Volk, mit der Devise: „Je veux être un roi des gueux“ (frz.; zu dt.: „Ich will ein König der armen Leute sein“) das Verbot der Sonntagsarbeit, der Nachtarbeit für Frauen und Kinder, der Frauenarbeit während der letzten Schwangerschaftsmonate sowie die Einschränkung der Arbeit von Kindern unter vierzehn Jahren. Außerdem forderte er bei dem zur Erneuerung anstehenden „Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“) die Streichung des Ausweisungsparagraphen, der die Polizei zur Ausweisung „gefährlicher Sozialisten“ aus ihrem Heimatort berechtigte. Reichskanzler Bismarck kommentierte dies als „Humanitätsduselei“ und verweigerte sich dem in seinen Forderungen durch den Reichstag unterstützten Kaiser. Seine Forderungen konnte der junge Kaiser erst mit dem Nachfolger Bismarcks durchführen, Leo von Caprivi. Allerdings war Wilhelm II. bei allen sozialen Ambitionen so wenig ein Freund der Sozialdemokratie, wie Bismarck es gewesen war. Im Gegenteil hoffte er, durch seine Reformen die Sympathien für die trotz der Sozialistengesetze erstarkte Sozialdemokratie abzuschwächen und durch die Aufhebung des repressiven Sozialistengesetzes der 1890 von SAP in SPD umbenannten Partei ihren Märtyrerbonus zu nehmen.
Die Sozialdemokraten ihrerseits ließen sich nicht von dem Reformen Wilhelms II. beeindrucken und setzten unter August Bebel aus ihrem antimonarchistischen Selbstverständnis heraus weiter auf Fundamentalopposition. Obwohl sie den Fortschritt der im Arbeitsschutzgesetz zusammengefassten Reformen sahen, stimmten sie im Reichstag dagegen. Sie forderten grundlegende strukturelle Veränderungen wie zum Beispiel eine Verfassungsänderung, Demokratisierung, ein ausgeweitetes Wahlrecht, Vorrang des Parlaments bei politischen Entscheidungen, eine Umstrukturierung des Haushalts, deutliche Senkung der Rüstungsausgaben, Freiheit für die Kolonien und anderes mehr, für den Kaiser unerfüllbare Anliegen, die seinen Hass auf die Sozialdemokratie noch steigerten.
Der Wohlstand der deutschen Arbeiterschaft stieg von Jahr zu Jahr, doch gelang es Wilhelm II. nicht, den Arbeitern in den Städten das Gefühl zu geben, anerkannte Mitglieder der Gesellschaft zu sein, was zu starken Stimmenzuwächsen der Sozialdemokraten im Reichstag und den Landtagen der Länder führte.
Diese Vorgänge ließen in Wilhelm II., der immer noch „ein König der Armen“ sein wollte, das Urteil reifen, dass eine Versöhnung mit den Sozialdemokraten nicht möglich sei. Er rief schließlich in Königsberg „zum Kampf für Religion, Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes!“ auf.
Überblick der unter der Regentschaft Wilhelms II. erlassenen sozialen Reformen
- 1889: Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni (für Arbeiter)
- 1890: Aufhebung des Sozialistengesetzes
- 1890: Gründung von 31 Versicherungsanstalten – Vorläufer der Landesversicherungsanstalten (LVA)
- 1891: Auszahlung der ersten Renten an dauernd Erwerbsunfähige und an Arbeiter über 70 Jahre
- 1891: Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni (23. Novelle zur Reichsgewerbeordnung) mit Frauenschutz, eingeschränkter Nachtarbeit, Sonntagsruhe und Kinderschutz
- 1891: Einführung der staatlichen Gewerbeaufsicht
- 1891: Zulassung freiwilliger Arbeiterausschüsse in Betrieben
- 1891: Verbot der Sonntagsarbeit in Industrie und Handwerk
- 1892: Novellierung des Krankenversicherungsgesetzes mit Erweiterungen der Versicherungspflicht (Ausweitung auf Familienangehörige)
- 1895: Verbot der Sonntagsarbeit für das Handelsgewerbe.
- 1899: Invalidenversicherungsgesetz
- 1901: Förderung des Arbeiterwohnungsbaus
- 1905: Arbeiterausschüsse werden in Bergbaubetrieben zur Pflicht
- 1908: Höchstarbeitszeit, keine Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche
- 1911: Reichsversicherungsordnung (RVO)
- 1911: Einführung der Hinterbliebenenrente
- 1911: Versicherungsgesetz für Angestellte
- 1911: Hausarbeitsgesetz (Regelung der Heimarbeit)
- 1916: Herabsetzung des Rentenalters für Arbeiter von 70 auf 65 Jahre
- 1916: Herabsetzung des Rentenalters für Frauen auf 60 Jahre
Entlassung Bismarcks
In der letzten Periode der Regierungszeit Bismarcks hatte das Deutsche Reich einer „Kanzlerdiktatur“ geglichen, dessen politische Ziele nicht die des jungen Kaisers waren. Er wollte Russland als einen starken Verbündeten, Wilhelm II. vertraute auf Österreich-Ungarn. Er wollte den "Kulturkampf" gegen den politischen Katholizismus fortsetzen, der Kaiser war strikt dagegen. Bismarck wollte das Sozialistengesetz verschärfen, Wilhelm II. wollte es abschaffen: „Ich will meine ersten Regierungsjahre nicht mit dem Blut meiner Untertanen färben!“ Als Bismarck hartnäckig blieb, schickte der Kaiser am Morgen des 17. März 1890 den Chef seines Militärkabinetts, General v. Hahnke, in die Reichskanzlei: Der Kanzler solle am Nachmittag ins Schloss kommen und sein Abschiedsgesuch mitbringen. Dieses wurde ihm am nächsten Morgen aber nur durch einen Boten gebracht.
Am 20. März 1890 entließ Wilhelm II. den Reichskanzler Otto von Bismarck. Bismarck verwand dies nie und sorgte indirekt durch vielfach lancierte Kritik an den „Hintermännern“ der wilhelminischen Politik und durch sein Memoirenwerk Gedanken und Erinnerungen für nachhaltige Kritik an Wilhelm II.
Als Bismarcks Nachfolger ernannte Wilhelm II. den General Leo von Caprivi (1831–1899). Caprivi wurde vom Kaiser als „Mann der rettenden Tat“ gefeiert und ob seiner Leistungen in den Grafenstand erhoben. Mit Caprivi hatte Wilhelm II. jemanden gefunden, mit dem er seine geplante Politik der inneren Versöhnung sowie das Arbeitsschutzgesetz durchzusetzen hoffte.
Caprivis Kanzlerzeit war durch entschiedene Englandfreundlichkeit geprägt. Er war in der Innenpolitik einer der Hauptverantwortlichen für den Wandel des Deutschen Reiches von der Agrarwirtschaft zur industriellen Exportwirtschaft. Die in diesem Zeitraum gemachten Reformen erleichterten es, dass Deutschland wenig später Großbritannien überholte und zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 aufstieg. Das "Made in Germany" errang zu dieser Zeit den Status einer Garantie für höchste Qualität.
Ein wichtiges außenpolitisches Ereignis fiel ebenfalls ins Jahr des Kanzlerwechsels: Der Rückversicherungsvertrag mit Russland widersprach den Bedingungen des Dreibundpaktes mit Italien und Österreich-Ungarn. Der Kaiser war gegen ein Verletzen dieses Paktes gewesen, während Bismarck den Rückversicherungsvertrag für notwendig gehalten hatte. 1890 wurde in der Öffentlichkeit unbemerkt und von Caprivi hingenommen der auslaufende Rückversicherungsvertrag vom Deutschen Reich nicht erneuert. In Russland nahm man einen deutschen Kurswechsel an und begann, sich Frankreich anzunähern.
Integrationspolitik
Die turbulente Vereinigung des alten "Deutschen Bundes" zu einem "Deutschen Reich" ohne Österreich brachte einige Probleme mit sich. Die rheinländische, süddeutsche und polnische Opposition gegen die preußische Vorherrschaft stützte sich auf ein sich politisierendes katholisches Bürger-, Arbeiter- und Bauerntum. Als Partei des politischen Katholizismus formierte sich das "Zentrum". Die Versuche Bismarcks, die katholischen Parteien in ihrer Arbeit zu behindern, führte zu Eingriffen in das Leben der Katholiken. Auch die Judenintegration, die es vorher außer in Preußen nur in wenigen anderen Staaten gab, war jung, und der steigende Wohlstand der jüdischen Bevölkerung nährte Neid und Antisemitismus in der Bevölkerung. In den östlichen Gebieten Preußens, vor allem in der Provinz Posen, gab es eine starke Unterdrückung der polnischen Minderheit, die zu Unruhen und Gefühlen der Ungerechtigkeit führte. Der Kaiser erkannte die Ernsthaftigkeit dieser Probleme und bezeichnete sie als eine seiner Hauptaufgaben.
Am besten gelang die Integrationspolitik mit den Katholiken. Sie waren durch den bismarckschen Kulturkampf benachteiligt und an der Teilnahme am politischen Leben, sowie bei der freien Ausübung ihrer Religion gehindert worden. Schon zu seiner Prinzenzeit war Wilhelm gegen diese Praktiken und befürwortete die Beendigung des Kulturkampfes. Um die Einigkeit zwischen Protestanten und Katholiken im Reich zu verbessern, zahlte das Reich die den Opfern vorenthaltenen Gelder zurück, hob allerdings nicht alle gefassten Beschlüsse und Gesetze dieser Zeit wieder auf.
Die östlichen Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Pommern und Schlesien waren bis zur Vertreibung nach 1945 mehrheitlich von Deutschen bewohnt, in der Provinz Posen (Poznan) aber stellten die Polen die Mehrheit. Seit der Bismarckzeit wurde versucht, die hier lebenden Polen zu germanisieren, was allerdings scheiterte und in offenen Protest mündete. Kaiser Wilhelm II. hob viele dieser Repressionen, die vor allem die Sprache des Unterrichts und später auch des Gottesdienstes regelten, auf und erkannte die Polen als eigenes Volk und Minderheit im Deutschen Reich an.
Eine der umstrittensten Bereiche in der Einordnung der politischen Meinung des Kaisers ist seine Beziehung zum Judentum bzw. zum Antisemitismus. Die Historiker gehen hier in den Meinungen weit auseinander, je nachdem welche Quellen sie benutzen.
Bei den Reichstagswahlen 1880 zogen zum ersten Mal mehrere antisemitische Parteien in den Reichstag ein. Mit fünf Abgeordneten bildeten sie die „Fraktion der Antisemiten“. Grund für den gestärkten Antisemitismus waren wohl die "Gründerkrise" und die als relativ stark empfundenen wirtschaftlichen Erfolge jüdischer Unternehmer. Die Juden waren im 1871 gegründeten Deutschen Reich zum ersten Mal in ganz Deutschland freie und gleiche Bürger: Die Einschränkungen, die sie, von Land zu Land unterschiedlich, teilweise zu Schutzbefohlenen eines Herrschers machten und ihnen wirtschaftliche Beschränkungen auferlegten oder ihnen bestimmte Berufsverbote erteilten, waren aufgehoben. Auch der Dienst beim Militär, in Schulen oder der Justiz stand ihnen jetzt offen.
Als Reaktion auf den Antisemitismus entstanden gesellschaftliche Gruppen, die dem entgegenzuwirken versuchten. So bildeten besorgte Christen den Verein zur Abwehr des Antisemitismus, dem neben Heinrich Mann auch der Historiker Theodor Mommsen beitrat.
Im Judentum entwickelten sich neben dem orthodoxen Glauben mehrere Strömungen mit teilweise auch politischem Hintergrund.
So gab es zum einen die assimilierten Juden, die sich taufen ließen und das Christentum als Erfüllung des jüdischen Messias-Glaubens akzeptierten.
Der jüdische so genannte Reform-Glaube (Reformjudentum) lehnte diese Art ab, passte sich aber in seiner Wesensart fast völlig den deutsch-christlichen Traditionen an. Er hielt Gottesdienst am Sonntag, nicht am Sabbat (Samstag); mit deutscher, nicht hebräischer Liturgie, hielt kürzere Gebete mit Orgeluntermalung und verzichtete auf traditionelle Gebetsbekleidung. Kaiser Wilhelm unterstützte diese Art der Religionsausübung sehr und finanzierte den Bau der Reform-Synagoge in der Berliner Fasanenstraße mit, an deren Einweihung er demonstrativ teilnahm.
Eine dritte aufstrebende Richtung war der Zionismus, der die Gründung eines eigenen Judenstaates vorsah. Aus Angst, den Antisemitismus zu bestärken, lehnten die Reformgläubigen auch diese, sehr radikale, ursprüngliche Form des Glaubens ab und strich jegliche Passagen über das gelobte Land aus dem Gottesdienst. Mit dem Wortführer der Zionisten, dem Wiener Journalisten Theodor Herzl, unternahm der Kaiser eine Palästinareise. Auf dieser Reise stiftete er in Jerusalem die Erlöserkirche auf dem Muristangelände. Als Erinnerung an diese Expedition wurde dem Kaiser in Haifa 1982 ein Denkmal gesetzt.
Bei seiner Integrationspolitik kam Kaiser Wilhelm II. der Parlamentarismus im Reich entgegen. Anders als heute gab es keine 5%-Hürde, welche das Entsenden von Abgeordneten aus kleineren Parteien verhinderte. So hatten Dänen (1-2 Abgeordnete), Elsass-Lothringer (8-15 Abgeordnete) und Polen (13-20 Abgeordnete) von 1871 bis zur letzten Wahl 1912 stets ihre Fraktion im Reichstag. Juden organisierten sich nicht in einer eigenen Partei. Dies widersprach ihrem Selbstverständnis Deutscher Staatsbürger zu sein, welches durch lange Tradition besonders in Preußen sehr stark ausgeprägt war. Das Wahlsystem grenzte aber auch politische Minderheiten nicht aus. Dies sorgte dafür, dass sich auch die reichsfeindlichen Welfen aber vor allem die Antisemiten aus der Christlichsozialen Partei und der Deutschen Reformpartei organisieren konnten. Die Zahl ihrer Abgeordneten überschritt aber nie die Zahl der Abgeordneten aus den Parteien der ethnischen Minderheiten.
Trotz dieser Unterstützung gibt es von Wilhelm II. mehrere Zitate, die einen antisemitischen Klang haben, so: "Ich denke gar nicht daran wegen der paar hundert Juden und der tausend Arbeiter den Thron zu verlassen!" Ob er allerdings auf die Juden als Kollektiv schimpfte oder einzelne meinte, z.B. die ihn oft kritisch betrachtenden jüdisch geleiteten Zeitungskonzerne, ist unklar. Die Verurteilung der Juden als Volk ist aber unwahrscheinlich, da er in seinem Freundeskreis nie Unterschiede zwischen Deutschen jüdischer oder christlicher Abstammung machte. Der von Antisemiten geprägte und heute noch verwendete Begriff „Kaiserjuden“ verriet allerdings große Missbilligung von Teilen der Bevölkerung an diesen Kontakten.
Wirtschaftspolitik und rüstungspolitische Prioritäten
Caprivi setzte einen weiteren von Bismarck verwehrten Wunsch Wilhelms II. durch, die progressive Einkommenssteuer, die höhere Einkommen stärker belastete: die Miquelsche Einkommensteuerreform von 1891.
Durch die industriefreundliche und exportorientierte Eindämmung des Protektionismus zog sich Caprivi die Feindschaft der im Bund der Landwirte organisierten Grundbesitzer ("Ostelbier", "Junker") zu, der sehr eng mit der Konservativen Partei verwoben war. Die nach Abschaffung der Schutzzölle wachsenden Agrarexporte der USA bewirkten für sie einen Preisverfall. Durch die Förderung des Einsatzes von Agrarmaschinen konnte man die Verluste zwar teilweise auffangen, erhöhte aber die agrarprotektionistischen Ansprüche der ohnehin unterkapitalisierten und zu Investitionen genötigten Großgrundbesitzer.
1893 löste Wilhelm II. den 1890er Reichstag auf, jetzt, weil der die auch von ihm gewollte Aufrüstung des Heeres abgelehnt hatte. Im darauffolgenden Wahlkampf siegten die Befürworter der wilhelminischen Politik aus der Konservativen und Nationalliberalen Partei. Auch die von Alfred von Tirpitz propagierte Aufrüstung der Kaiserlichen Marine, im Volk populär (vgl. Matrosenanzug) wurde in der Folgezeit von Wilhelm gefördert (1895 Vollendung des heutigen Nord-Ostseekanals, Ausbau der Marinehäfen Kiel und Wilhelmshaven). In diesem Zusammenhang besetzte und pachtete das Deutsche Reich die chinesische Hafenstadt Tsingtao auf 99 Jahre. Wilhelm erkannte trotz seiner Englandfreundlichkeit nicht, dass damit die weltweite Hegemonialmacht Großbritannien aufs Äußerste beunruhigt wurde. Der anhaltende deutsche Kolonialismus – gegen den Bismarck sich noch gewehrt hatte – wurde von ihm nicht als riskant gegenüber den Großmächten England, Frankreich und Japan erkannt und eher gebilligt: 1899 erwarb das Reich die Karolinen, Marianen, Palau und Westsamoa.
Wende in den Reichskanzlerberufungen und außenpolitische Dauerprobleme
1894 wurde Caprivi entlassen. Wilhelm berief erstmals einen Nichtpreußen, den Bayern Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, der weder Führungsehrgeiz entwickeln sollte noch entwickelte: 1896 versäumte er, Wilhelm von der Krüger-Depesche abzuhalten, einem Glückwunschtelegramm an die Buren zur Abwehr des britisch inspirierten Jameson Raid, die in Großbritannien mit Empörung aufgenommen und nachhaltig als Abkehr von der englandfreundlichen Politik Caprivis gedeutet wurde.
1900 ersetzte er ihn durch Graf Bernhard von Bülow, der als Reichskanzler weder die anstehenden innenpolitischen Reformen betrieb, noch die sich umgruppierenden außenpolitischen Konstellationen (in Deutschland als Einkreisungspolitik verstanden) zu meistern vermochte. Das Verhältnis zu Frankreich wurde nicht verbessert, England nun auch durch die Flottenpolitik herausgefordert und Russland auf dem Balkan nicht gegen Österreich-Ungarn unterstützt. Wilhelm wollte aber nicht schon wieder einen Reichskanzler entlassen.

Friedenspolitisch ergriff Wilhelm II. erst 1905 eine Initiative: Zwecks einer Wiederannäherung an Russland, das gerade seinen Krieg gegen Japan zu verlieren drohte, schloss er mit Nikolaus II. den Freundschaftsvertrag von Björkö. Frankreich sollte einbezogen werden. Als unvereinbar mit der französisch-russischen Annäherung wurde der Vertrag im Jahr 1907 von Russland als gegenstandslos erklärt, nachdem Wilhelm II. 1906 in der Ersten Marokkokrise durch seinen Besuch in Tanger Frankreich provoziert hatte. Resultat war überdies eine Verschlechterung der Beziehungen zu Japan gewesen, das bisher Preußen/Deutschland als wissenschaftlichen und militärischen Lehrmeister angesehen hatte.
1908 wurde Wilhelms Hilflosigkeit durch die Daily-Telegraph-Affäre deutlich: Er beschwerte sich in einem Interview mit deren Reporter über seine eigene Regierung als nicht englandfreundlich genug. Bismarck war ein Meister darin gewesen, seine Politik medial zu flankieren (vgl. die Emser Depesche 1870). Bei Wilhelm sollte das Interview und markige Reden die Politik ersetzen. Als ein Beispiel dafür gilt die bereits am 27. Juli 1900 in Bremerhaven gehaltene Hunnenrede. Mit dem Daily Telegraph-Interview fiel er der Reichspolitik in den Rücken, knickte angesichts des deutschen Pressesturms ein und versprach, sich künftig zurückzuhalten.
Überhaupt begann die Öffentliche Meinung, den Kaiser kritisch zu sehen, und eine Kampagne schadete ihm konkret: Schon 1906 hatte der Journalist Maximilian Harden in seiner Zeitschrift Die Zukunft die Kamarilla um den Kaiser und damit das persönliche Regiment des Kaisers angegriffen. Zu besonders harten Auseinandersetzungen führte seine Enthüllung, dass Philipp von Eulenburg und Hertefeld, ein enger Freund und Berater des Kaisers, homosexuell sei und einen Meineid geleistet habe. Es folgten drei Sensationsprozesse gegen Eulenburg, die trotz dessen Freispruchs das Ansehen des Kaisers beschädigten.
1909 zerbrach der so genannte Bülowblock, in dem sich die regierungsunterstützenden linksliberalen Parteien, sowie die Nationalliberale und die Konservative Partei zusammengeschlossen hatten. Auslöser war der Versuch Bülows, das preußische Wahlrecht zu reformieren, worauf ihm die im Preußischen Landtag dominierenden Konservativen die Gefolgschaft verweigerten. Sozialdemokraten und Zentrum, die diesen Versuch in seinen Grundsätzen unterstützen, verweigerten trotzdem die Zusammenarbeit mit Bülow. Sie warfen ihm Prinzipienlosigkeit vor, da er erst kurz zuvor in Zusammenarbeit mit den Konservativen neue Repressalien gegen die Polen durchsetzte. Die Germanisierungspolitik wurde auf Betreiben Kaiser Wilhelms II. beendet Dass Bülow nun aber um sich die Loyalität der Konservativen Partei zusichern, die Enteignung von polnischen Gütern erleichterte, ignorierte der Kaiser um die stabile Parlamentsmehrheit nicht zu gefährden.
Darauf hin entließ der Kaiser Bülow und ernannte Theobald von Bethmann Hollweg zum Reichskanzler. Er überließ ihm die Außenpolitik, die aber ihre Ziele Wiederannäherung an England und Distanzierung von der antirussischen Balkanpolitik Österreich-Ungarns nicht erreichte. Die antifranzösische Politik wurde 1911 in der zweiten Marokkokrise durch deutschen Interventionismus verschärft (der "Panthersprung nach Agadir"), Heer und Flotte wurden weiter verstärkt. Markante Eingriffe Wilhelms unterblieben.
Insgesamt ist Wilhelms II. Anteil an der deutschen Außenpolitik umstritten. Während John C. G. Röhl in ihm die entscheidende Persönlichkeit sieht, die die Politik des Reiches eigenständig führte, sieht die Mehrzahl der Historiker wie Wolfgang Mommsen die zivile Reichsleitung im Zentrum der Verantwortung. Auch war er zwar Militarist, aber kein Bellizist, er wollte trotz seiner kriegerischen Reden im Grunde keinen Krieg. Er tat aber auch zu wenig, um dies deutlich zu machen. Unbestreitbar ist, dass der Kaiser nicht als Koordinator zwischen Außen-, Heeres- und Flottenpolitik wirkte. So kam es, dass Reichskanzler, Heeres- und Marineleitung je unterschiedliche Ziele verfolgten, die miteinander nicht verträglich waren: Vor allem der Aufbau der Flotte schuf ein außenpolitisches Problem.
Erster Weltkrieg
1914 in der Julikrise spielte Wilhelm II. eine ambivalente Rolle. Er wollte den Frieden retten und auf der Monarchenebene versuchte er sein Bestes, einen fieberhaften Briefwechsel mit dem russischen Kaiser (Lieber Nicky! – Lieber Willy!), der bei der nunmehr objektiven Kriegsentschlossenheit sämtlicher Kontinental-Großmächte gar nichts bewirkte. Objektiv jedoch steigerte der Kaiser die Kriegsgefahr: Denn er ermächtigte Bethmann Hollweg nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914, Österreich-Ungarn eine Blankovollmacht für dessen aggressive Politik gegen Serbien zu erteilen. Faktisch wurde nach der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien die Außenpolitik von Kaiser und Kanzler dem deutschen Generalstab überlassen: Die Mobilmachung im Russischen Reich erlaubte es nach dessen Urteil dem Deutschen Reich nicht, mit der Kriegserklärung an Russland und Frankreich länger zu warten, da sonst der deutsche Schlieffenplan, bei einem Zweifrontenkrieg erst schnell Frankreich, dann Russland zu schlagen, undurchführbar zu werden drohte. Wilhelm mischte sich in der Folge nicht in militärische Zielsetzungen ein, überließ diese aber nicht verfassungsgemäß dem Reichskabinett, sondern der Obersten Heeresleitung.
Im Verlauf des Ersten Weltkrieges 1914–1918 wurde die Bedeutung des Kaisers immer geringer. Besonders unter der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und dem dominierenden Ludendorff wurde er 1916–1918 zunehmend von den politisch-militärischen Entscheidungen ausgeschlossen. Jedoch schob sie ihm 1917 die auch im Reich umstrittene Entscheidung über den uneingeschränkten U-Bootkrieg zu. Er schloss sich – gegen den Rat seines Reichskanzlers – der Meinung der Militärs an und willigte ein, was dann zur Kriegserklärung der USA führte. Diese machten später die Abdankung des Kaisers zur Bedingung für die Eröffnung von Friedensverhandlungen. Ab 1917 hatte Ludendorff eine faktisch diktatorische Position. Auf weitere Reichskanzlerwechsel nahm Wilhelm II. keinen Einfluss, die 1918er Reform der Reichverfassung in Richtung auf eine parlamentarische Monarchie wurde ohne ihn versucht.
Durch den Hungerwinter 1917/18 und das völlige Desaster der Kriegsführung, spätestens nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive im Westen 1918, war er im Reich unhaltbar geworden. Dazu kam die Tatsache, dass der Bevölkerung längst bewusst war, dass ein Friedensschluss unter leidlichen Bedingungen (Selbstbestimmungsrecht der Völker) nur noch von der Abdankung ihres Kaisers abhing, da die USA sich weigerten, Friedensverhandlungen ohne vorherige Abdankung Wilhelms II. zu beginnen. Am 9. November 1918 gab Reichskanzler Prinz Max von Baden (1867–1929) eigenmächtig und ohne Wilhelms II. Einwilligung seine Abdankung bekannt. Am 10. November 1918 fuhr der Kaiser aus seinem Hauptquartier in Spa in die Niederlande und erbat und erhielt dort Asyl. Besonders enttäuscht war er von Hindenburg, der ihn fallen ließ, desweiteren wetterte er gegen "das Judengesindel" (O-Ton Wilhelm). Er dankte offiziell am 28. November 1918 ab, 19 Tage nach Ausrufung der Republik, gab aber nie den Wunsch auf, wieder auf den Thron zurückzukehren.
Zeit nach der Abdankung
Exil
Bis 1920 lebte Wilhelm II. in Amerongen, danach bis zu seinem Tod in dem von ihm erworbenen Haus Doorn in den Niederlanden im Exil. 1921 starb seine Frau.
1922 heiratete er die verwitwete Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath, geborene Prinzessin Reuß ä.L. (1887-1947) („Kaiserin“ in seiner Titulatur, amtlich „Prinzessin von Preußen“). Er verfasste seine Memoiren und weitere Bücher und hielt sich für die Wiederherstellung der Monarchie bereit. Unter anderem durch den Hitlerputsch 1923 sah er sich darin bestätigt, dass nur ein Monarch Ruhe und Ordnung garantieren könne.
Immer wieder äußerte er sich antisemitisch, "Presse, Juden und Mücken" solle man den Garaus machen, "am besten mit Gas".
1933 näherte er sich - auch bestärkt durch seine Frau, die im Reich umherreiste - den Nationalsozialisten an, von denen er sich die Restauration des Kaiserreichs versprach, was sich trotz zweimaligen Besuchs Görings in Doorn bald als unrealistisch erwies. Hitler hielt ihn hin.
Als er im November 1938 von dem antijüdischen Pogrom, der "Kristallnacht", erfuhr, äußerte er sich entsetzt und hielt es für eine Schande. Bei Besetzung der Niederlande 1940 ließ Hitler das Anwesen durch die SS abriegeln. Zum deutschen Sieg über Frankreich im Mai erhielt Adolf Hitler ein angeblich von Wilhelm II. abgesandtes Glückwunschtelegramm. Darin wurde nicht dem „Führer“ Hitler, sondern dem Reichskanzler und vor allem dem „Sieg der deutschen Waffen“ gratuliert. Ob es von Wilhelm II. stammte, wird stark bestritten, sein damaliger Hausminister Wilhelm von Dommes dürfte der Urheber dieses Telegramms gewesen sein.
Tod
Wilhelm II. starb am Morgen des 4. Juni 1941 im Haus Doorn. Seine letzten Worte sind zweifelhaft überliefert: „Ich versinke, ich versinke...“.
Trauerfeiern im Reich wurden verboten. Die NS-Machthaber erlaubten nur einer kleinen Zahl von Personen (dem engeren Familienkreis, einigen ehemaligen Offizieren) die Fahrt in die besetzten Niederlande zur Teilnahme an der Beisetzung. Der Kaiser wurde zunächst in einer Kapelle nahe dem Doorner Torhaus beigesetzt. Sodann wurde sein Sarg in das nach seinen Zeichnungen postum erbaute Mausoleum im Park von Haus Doorn überführt. Sein selbst gewählter Grabspruch lautet: „Lobet mich nicht, denn ich bedarf keines Lobes; rühmet mich nicht, denn ich bedarf keines Ruhmes; richtet mich nicht, denn ich werde gerichtet.“
Beide Gattinnen ruhen im Antikentempel am Neuen Palais in Potsdam.
Wilhelm II. als Persönlichkeit
Auf Grund von Komplikationen bei seiner Geburt war Wilhelms II. linker Arm um 15 cm kürzer als der rechte und teilweise gelähmt, mit daraus resultierenden Gleichgewichtsstörungen und Haltungsschäden sowie häufigen Schmerzen im linken Ohr. Eine besondere elterliche Zuwendung erfuhr er nicht und dankte es mit einem bleibenden Ressentiment besonders gegen seine Mutter, die ihn selbst wiederum, wie in ihren Briefen deutlich zu lesen, hasste. Schmerzvoll waren die Versuche der Familie, seiner Behinderung entgegen zu wirken. Denn der zukünftige König von Preußen sollte ein „ganzer Mann“ und kein Krüppel sein. So musste er sich als Kleinkind z.B. schmerzhaften Elektroschocktherapien unterziehen. Auch wurde erfolglos versucht, seinen verkümmerten Arm zu strecken. Das beruflich oft erforderliche Reiten fiel ihm daher schwer. Diese unbehebbare Behinderung prägte ihn sehr. Er war gehalten, sie stets als einen Makel zu verbergen. Das Tragen von Uniformen und das Abstützen der linken Hand auf der Waffe war ein Ausweg. Die Behinderung machte ihn vermutlich zu einem Menschen mit Selbstzweifeln und geringem Selbstbewusstsein und einer darauf beruhenden Ichverfangenheit, leichten Kränkbarkeit und ihr zufolge Sprunghaftigkeit. Später dürfte diese auch seine sprichwörtliche Reiselust begünstigt haben. Ob mögliche Neurosen eine ernsthafte seelische Erkrankung unterstellen lassen müssten, ist durchaus strittig. Ob auch eine Anlage zu einer Geisteskrankheit vorlag, noch mehr. Ein schwermütiger Zug wird ihm mitunter attestiert. Der noch heute berühmte Psychiater Emil Kraepelin bezeichnete sogar – auf Grund ferndiagnostisch zugänglicher öffentlicher Quellen – Wilhelms Gemüt als einen „typischen Fall periodischen Gestörtseins“, ein freilich bestrittenes Urteil in Richtung auf eine manisch-depressive Disposition.
Anhaltende Schwierigkeiten waren Wilhelm II. später verhasst, deswegen ließ er auch bewährte Freunde und Parteigänger schnell im Stich, so dass eher diplomatisierende Charaktere, wie Bülow und viele Höflinge, seinen Umgang ausmachten und seine Personalauswahl bestimmten. Offiziere, unter denen er sich wohlfühlte, erweiterten sein Urteil wenig, denn sie hatten im Zweifel die politischen Vorurteile ihrer kastenartig abgeschlossenen Berufsgruppe, und auch ihr Stil des Schwadronierens färbte auf ihn ab. Von seiner Persönlichkeit her gesehen behinderten seine narzisstischen Züge seine Einfühlungsgabe und sein Urteil über Andere. Seine Taktlosigkeiten waren bekannt. Sie fielen seiner Mitwelt besonders bei seinem Regierungsantritt und bei Bismarcks Entlassung ins Auge, die dieser in seinen Gedanken und Erinnerungen rachsüchtig ausbreitete. Eine diese Handikaps ausbalancierende Welt- und Menschenkenntnis zu erwerben, hatte sein Werdegang ihm nicht erlaubt.
Trotz der Wesensunterschiede zu seinem altpreußisch-schlichten und im Persönlichen bemerkenswert loyalen Großvater Wilhelm I. versuchte er, dessen Regierungsmuster zu folgen. Man kann sein anfängliches Verhältnis zu Caprivi dergestalt deuten, dass er hier ‚seinen eigenen Bismarck‘ gefunden zu haben hoffte. Militärisch ernannte er den Neffen des berühmten Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke zum Oberbefehlshaber (Ich will auch einen Moltke.), der dann aus dem Schatten Schlieffens nicht heraus zu treten vermochte. Jedenfalls wurde Wilhelms I. Zurückhaltung bei direkten politischen Eingriffen auch Wilhelms II. bleibendes Merkmal.
Gar nicht folgte er der öffentlichen Zurückhaltung des alten Kaisers. Wilhelms Selbstdarstellungseifer drängte ihn oft repräsentativ in die Öffentlichkeit, bei der eine nicht unbeachtliche Rednergabe ihm Echo einbrachte, aber auch zu politisch bedenklichen Formulierungen verlockte. Auch begünstigte dieser Eifer sein Verhältnis zu den Massenmedien. Man kann ihn als den ersten Medienmonarchen des 20. Jahrhunderts ansehen. Seine Schaustellungen von Uniformen und Orden stimmten im Übrigen zum Protzstil des dann nach ihm benannten Wilhelminismus.
Die Künste standen ihm fern, die Literatur lag ihm nicht am Herzen. Eigene Interessen entwickelte er für die Archäologie, seine Korfu-Aufenthalte sind auch davon bestimmt. Außerdem oblag er, wie in Adelskreisen nicht unüblich, begeistert der Jagd, seine Trophäenzahl erfreute ihn (er erlegte rd. 46.000 Tiere); im Exil fällte er gerne Bäume. Bei der Jagd lernte Wilhelm auch seinen später engen Freund Philipp Graf zu Eulenburg kennen, der besonders in den Jahren 1890 bis 1898 zu seinen wichtigsten Beratern zählte.
Sein Desengagement, wenn die Dinge anders liefen, als er wollte, blieb sein Wesenszug. Noch 1918, angesichts der revolutionären Verhältnisse im Reich, emigrierte er sang- und klanglos ins neutrale Ausland. Seine in Holland verfasste Autobiografie mit ihren Rechtfertigungen oder Themenvermeidungen ist ein gutes Zeugnis seiner Urteilsschwächen.
Das Bild Wilhelms II. in der Öffentlichkeit
Wilhelm II. war zunächst sehr populär. Die weniger geschätzten Züge einer Reichseinigung „von oben“ mit Bewahrung alter Machtstrukturen fand in der Kaiserverehrung einen willkommenen Ausgleich. Die weithin monarchistisch gesonnene Presse nahm dies auf, man fand für ihn die Bezeichnungen „Arbeiterkaiser“ und „Friedenskaiser“ (dies geht u. a. auf den Vorschlag von Emanuel Nobel von 1912 zurück, Kaiser Wilhelm II. den von Alfred Nobel gestifteten Friedensnobelpreis zuzusprechen, damals hatte das Deutsche Reich unter seinem Kaisertum 24 Jahre Frieden gehalten). Doch wurde er auch als bedrohlich empfunden (vgl. Ludwig Quiddes als Kritik an Wilhelm II. aufgefasste und vielrezipierte 1894er Studie Caligula zum "Cäsarenwahnsinn"). Zunehmend mischte sich dann Spott hinein: "Der erste war der greise Kaiser, der zweite war der weise Kaiser, der dritte ist der Reisekaiser." Auch in der Bezeichnung „Redekaiser“ steckte Kritik. Seine vielerlei Uniformen wurden bewitzelt: "Majestät, im Badezimmer ist ein Rohr geplatzt." - "Bringen Sie die Admiralsunifom." ("Simplicissimus")
Von den ihn kritisierenden Demokraten, Sozialisten, Katholiken, auch den kritischen Minderheiten (von 1864 her die Dänen, seit 1866 die Hannoveraner, seit 1871 die Elsass-Lothringer, dauerhaft die Polen) wurde ihm zunächst das die öffentliche Meinung beherrschende Bürgertum am gefährlichsten. Bei den Schriftstellern war er nicht angesehen, der ironische Thomas Mann war in seinem Roman Königliche Hoheit noch am mildesten mit einem behinderten und etwas einfältigen Dynasten umgegangen. Direkte Kritik verbot der Paragraph zur „Majestätsbeleidigung“ im Strafgesetzbuch, aber die Witze über ihn wurden immer beißender. Man vergleiche nur das viel positivere Kaiserbild von Franz Joseph in Österreich-Ungarn, welches doch viel stärkere innen- und außenpolitische Probleme hatte.
Nach 1918 und seiner Flucht ins Exil überwog die Verachtung, man warf ihm Feigheit vor: Warum ist er nicht an der Spitze seines Heeres kämpfend gefallen? Monarchisten erhofften 1933 mit Adolf Hitlers Machtantritt seine Rückkehr. Da Hitler nichts dergleichen im Sinne hatte, wurde Wilhelm II. in seinen letzten zehn Lebensjahren immer stärker vergessen, sein Tod blieb überwiegend unbetrauert. Sein öffentliches Ansehen hat sich seither kaum erholt.
Im Ausland war es eher schlechter gewesen. Denn während des Ersten Weltkrieges war Wilhelm II. oft die symbolische Zielfigur der feindlichen Propaganda, was sein Image dort dauerhaft beschädigt hat.
Familie
Stammbaum
Siehe auch Stammliste der Hohenzollern
Söhne und Töchter
- Friedrich Wilhelm Victor August Ernst (* 6. Mai 1882; † 20. Juli 1951), Kronprinz des Deutschen Reiches und von Preußen, Kaiserliche und Königliche Hoheit
- Wilhelm Eitel Friedrich Christian Karl (1883–1942)
- Adalbert Ferdinand Berengar (1884–1948)
- August Wilhelm Heinrich Günther Viktor (1887–1949)
- Oskar Karl Gustav Adolf (1888–1958)
- Joachim Franz Humbert (1890–1920)
- Victoria Luise Adelheid Mathilde Charlotte (1892–1980)
Titel und Ränge
Titular
Siehe: Titulatur und Wappen (Deutsche Kaiser nach 1873)
Akademische Titel
(alphabetisch nach Hochschulen)
- Dr. iur. utr. h.c. der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin
- Dr.-Ing. E.h. der Polytechnischen Hochschule in Berlin
- Ehrendoktor der Wissenschaften der Universität Klausenburg
- Dr. of Civil Law der Universität Oxford
- Ehren-Dr. der Rechte der Universität Pennsylvania
- Ehrendoktor der Medizin der Universität Prag
Militärische Laufbahn
- 27. Januar 1869: Leutnant im 1. Garderegiment zu Fuß und à la suite des 1. Batl. (Berlin) des 2. Garde-Landwehr-Regiments.
- 22. März 1876: Oberleutnant
- 22. März 1880: Hauptmann
- 16. September 1881: Major
- 16. September 1885: Oberst und Kommandeur des Garde-Husaren-Regiments
- 27. Januar 1888: Generalmajor und Kommandeur der 2. Garde-Infanterie-Brigade
- 15. Juni 1888: Oberster Kriegsherr des deutschen Heeres und Chef der Marine, Chef des 1. Garde-Regiments zu Fuß, des Regiments der Garde du Corps, des Leib-Garde-Husaren-Regiments
Chefstellen und andere Ehrenränge
Hier geht es um den Rang des Chefs (in Bayern: Inhaber) von Truppenteilen, dessen Namen diese dann auch oftmals trugen (das militärische Kommando liegt nicht beim "Chef", sondern bei dem jeweiligen Kommandeur.). Die Generals- und Admirals-Titel sind ebenfalls als Ehrenränge zu verstehen.
Deutschland
Chef des
- 1. Garde-Regiments zu Fuß
- Regiments der Garde du Corps
- Leib-Garde-Husaren-Regiments
- 1.Garde-Feld-Artillerie-Regiments
- Königs-Ulanen-Regiments (1. Hannoversches) Nr. 13
- Königs-Infanterie-Regiments (6. Lothringisches) Nr. 145
- Grenadier-Regiments König Friedrich Wilhelm I. (2. Ostpreußisches) Nr. 3
- Regiments Königs-Jäger zu Pferde Nr. 1
- Leib-Kürassier-Regiments "Großer Kurfürst" (Schlesisches) Nr. 1
- 1. Leib-Husaren-Regiments Nr. 1
- 2. Leib-Husaren-Regiments Königin Viktoria von Preußen Nr. 2
- Leib-Grenadier-Regiments Friedrich Wilhelm III. (1. Brandenburgisches) Nr. 8
- Badischen Grenadier-Regiments 'Kaiser Wilhelm I.' Nr. 110
- Infanterie-Rgts 'Kaiser Wilhelm' (2. Großherzoglich Hessisches) Nr. 116
- Königlich Sächsischen Grenadier-Regiments Nr. 101
- Königlich Württembergischen Infanterie-Regimentss Nr. 12
- Königlich Württembergischen Dragoner-Regiments Königin Olga (1. Württembergisches) Nr. 25
Inhaber des
- Königlich Bayerischen 1. Ulanen-Regts 'Kaiser Wilhelm II., König von Preußen'
- Königlich Bayerischen 6. Infanterie-Regiments 'Kaiser Wilhelm, König von Preußen'
Ausland
Inhaber des
- K.u.k. Infanterie-Regiments Nr. 34 (Österreich-Ungarn)
- K.u.k. Husaren-Regiments Nr. 7 (Österreich-Ungarn)
Chef des
- Kaiserlich Russischen St. Petersburger Leib-Garde-Grenadier-Regiments 'König Friedrich Wilhelm III.'
- 85. Infanterie-Regiments "Wyborg", (Russland)
- 13. Husaren-Regiments "Narva" (Russland)
- Königlich Großbritannischen 1. Dragoner-Regiments
Ehrenoberst des
- Königlich Portugiesischen 4. Reiter-Regiments
- Königlich Spanischen Dragoner-Regiments "Numancia"
- Kaiserlich Osmanischer Feldmarschall
- Feldmarschall der Kaiserlich-Königlichen Armee Österreich-Ungarns
- Königlich Großbritannischer Feldmarschall
- Königlich Großbritannischer Ehrenadmiral der Flotte
- Königlich schwedischer Flaggenadmiral
- Königlich norwegischer und
- Königlich dänischer Ehrenadmiral
- Admiral der Kaiserlich russischen Flotte
- Ehrenadmiral der Kgl. griechischen Flotte
Literatur zu diesem Unterabschnitt
- Klaus v. Bredow/Ernst v. Wedel: „Historische Rang- und Stammliste des deutschen Heeres“, Berlin 1905
- Wilhelm Weber: „Der Deutsche Kaiser als Oberstinhaber österr.-ungarischer Regimenter“, Orden-Militaria-Magazin 1996, S. 12–16
- Auszug aus Bredow/Wedel auf der Seite des Berliner Militärhistorikers Thümmler.
Sonstige (nichtmilitärische) Ränge und Orden
Auswahl
- Neuntes Oberhaupt und neunter Souverän und Meister des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler
- Protektor des Johanniterordens
- Ritter des Hosenbandordens (Großbritannien und Irland)
- Ritter des St.Andreasordens (Russland)
- Ritter des Annunciaten-Ordens (Italien)
- Ritter des Elefanten-Ordens (Dänemark)
- Ritter des St.-Hubertus-Ordens
- Ritter des Seraphinenordens
- Ritter des Löwen-Ordens (Norwegen)
- Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies (Spanien)
- Ehrenbailli und Großkreuz des Souveränen Malteserordens
Orientreise
Am Ende des 19. Jh., als Wilhelm II die Kaiserwürde übernahm, befand sich das Deutsche Reich im Umbruch. Es vollzog einen Wandel vom Agrar- zum Industriestaat. Dieser ökonomische Strukturwandel brachte soziale Veränderungen mit sich. So verdrängten beispielsweise die neuen Großunternehmer den alten Mittelstand mit seinen kleinen Einzelhandelsgeschäften und gewannen durch ihre große Finanzkraft an politischer Relevanz. Ein weiteres Indiz für den Wandel ist der Anstieg der Erwerbstätigkeit in der Industrie. Die Zahl der Industriearbeiter stieg auf das gleiche Niveau der Arbeiterzahl in der Land- und Forstwirtschaft. In dieser Zeit avancierte das Deutsche Reich zu einer der drei großen Industrienationen (neben den USA und Großbritannien), was einen Bevölkerungswachstum nach sich zog, wodurch es wiederum zur Urbanisierung kam und die Zahl der Großstädte wachsen ließ (von 1871 bis 1910 um 58 Prozent). Die unter anderem durch den Bevölkerungswachstum ausgelösten sozialen Gegensätze, im Besonderem zwischen der Arbeiterschaft und dem Bürgertum, vermochte der Staat nicht ausreichend zu balancieren und orientierte sich, um die innenpolitischen Spannungen zu kompensieren, nach außen (Imperialismus). Nicht zu unterschätzen für den wirtschaftlichen Aufstieg des Deutschen Reiches ist der zu dieser Zeit stattfindende Ausbau des Verkehrswesens und in diesem Zusammenhang vor allem die Erweiterung des staatlichen Eisenbahnnetzes. Denn wie einst 1748 Benjamin Franklin (1706-1790) schon sagte: „Time is money.“ Damals (wie auch Heute) wurde der wirtschaftliche Aufschwung vom Export getragen. 1891 betrug der Export von Gütern den Wert von 7,3 Mrd. Mark und stieg bis 1911 auf 17,8 Mrd. Mark. Es könnte vom Betrachter angenommen werden, dass die damaligen Kolonien dabei eine Rolle spielten, doch lagen die überseeischen Absatzmärkte vor allem in angelsächsischen Gebieten.
In der Geschichte der Hohenzollern ist es nicht das erste Mal, dass ein Mitglied dieser Familie sich nach Palästina begibt. Wie im Vorwort schon erwähnt, interessierte sich schon bereits König Friedrich Wilhelm IV für das Heilige Land und der 1831-1888 lebende Friedrich Wilhelm (Friedrich III) bereiste bereits 1869 Jerusalem, als er bei der Eröffnungsfeier des Sueskanals teilnahm. Auch Kaiser Wilhelm I blieb dieser Verbindung mit dem Heiligen Land treu. Er ließ Gelder sammeln für den Bau einer Kirche in Jerusalem. 1889 bestätigt Kaiser Wilhelm II die Gründung des deutschen Jerusalem-Stifts. Der Zweck dieser Stiftung war der Erhalt sowie die Schaffung evangelisch kirchlicher Einrichtungen und Anstalten in Jerusalem. Als der Kaiser ins Heilige Land reiste, wurde von türkischer Seite erwogen, einen Teil der Jerusalemmauer abzureißen, da man mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen rechnete, wozu der Kaiser sagte: „Das soll inhibiert werden; ich hoffe nicht, daß [sic] eine solche Barbarei wirklich gemacht wird.“ Allgemein wurde behauptet, der Kaiser habe den Abriss angeordnet. Das erklärte Ziel dieser Reise war die Einweihung der Erlöserkirche in Jerusalem. Auch wollte er wie ein Pilger ins Heilige Land reisen wie einst sein Vater 1869 und dem Wunsch seines von ihm sehr verehrten Großvaters nachkommen, eine evangelische Kirche in Jerusalem einzurichten. Eine politische Relevanz erhielt die Palästinareise mit dem Besuch des Kaisers beim „Roten Sultan“ (Sultan Abdulhamid II, so genannt wegen des Massakers an den Armeniern) in Konstantinopel, um die Beziehungen der beiden Länder, die ohnehin schon gut waren, zu verbessern. Die französische Presse behauptete, der Kaiser wolle die französische Tradition des Schutzes der Katholiken sowie deren Institutionen im Orient ohne Unterscheidung der Nationalitäten (das Protektorat) beseitigen. Am 17. Oktober 1898 behauptete Le Matin, dass der Kaiser in Haifa eine Flottenbasis errichten wolle und dies der hauptsächliche Zweck der Reise sei. Doch wie Bemerkungen des Kaisers zu entnehmen ist, wusste dieser erst kurze Zeit vor seiner Ankunft wo Haifa überhaupt lag. „Haifa wo ist den das?“ Ursprünglich sollte der Kaiser nämlich in Jaffa anlegen, doch aufgrund der vorgeschrittenen Jahreszeit wurde empfohlen in Haifa zu landen, womit der Kaiser auch einverstanden war. Hintergrund dieser Empfehlung ist die Einschiffung von Kaiser Franz Joseph von 1869, bei der das Schiff fast gekentert wär. Wenn der Kaiser wirklich die Einschiffung in Haifa so wie wiedergegeben kommentierte, kann man die Behauptung von Le Matin zurückweisen, da man doch annehmen kann, dass der Kaiser gewusst hätte, wie sein geplanter Flottenstützpunkt geheißen hätte. Dazu passen ebenfalls zwei zeitgenössische französische Karikaturen („Der Kaiser badet im Jordan“ und „Der Kaiser als Pilger“). Die eine zeigt den Kaiser oben ohne, badend im Fluss. Als Kopfbedeckung trägt er einen Heiligenschein. Die Arme auf denen zwei Abzeichen kaum merklich erkennbar sind, hält er seitlich ausgestreckt übers Wasser. Seine Brusthaare sind zum deutschen Reichs-Adler geformt und um den Hals trägt er einen Orden (das achtspitzige Kreuz des ältesten geistlichen Ritterordens, des Johanniter Ordens). Im Hintergrund wartet andächtig eine Menschenmenge (vielleicht Pilger) auf ihren „Erlöser“. Auf die andere Karikatur möchte ich hier nicht näher eingehen. Sie zeigt den Kaiser in einer Militäruniform hoch zu Esel als Pilger. Die französische Presse scheint dem Kaiser seine Frömmigkeit und somit den offiziell genannten Grund für die Reise ins Heilige Land (die Einweihung der Erlöserkirche) nicht geglaubt zu haben und machten sich außerdem über ihn lustig. Auch der britische Vorwurf den Sir John Arthur Ransome Marriotts (1859-1945) erhob, dass der Kaiser mit seiner Präsents die deutschen Protestanten unterstützen wollte und sich gegen die Anglikaner richtete, ist nicht haltbar, da zu dieser Zeit die deutschen Protestanten den anglikanischen Protestanten bereits überlegen waren und es keine solche Maßnahme bedurfte. Zu beachten ist auch, wann Sir John Arthur Ransome Marriotts seinen Vorwurf formulierte, nämlich während des ersten Weltkrieges. Nachdem ich den Verlauf der Reise im nächsten Kapitel geschildert habe, werde ich im Resümee nochmals Gründe aufgreifen und ausschließen, weshalb der Kaiser nach Palästina reiste.
Bereits im Frühjahr 1898 wurde die Reise des Kaiserpaares vorbereitet. Unter anderem reiste eine Delegation nach Palästina, um die geplante Reiseroute zu kontrollieren. Dann, am 11. Oktober, begann die Reise. Kaiser und Kaiserin mit Gefolge machten sich zunächst auf den Weg nach Konstantinopel. Viele Pilger sowie zweihundert offizielle Gäste schlossen sich dem Kaiserpaar an. Während das offizielle Gefolge zusammen mit dem Kaiserpaar den Weg über Konstantinopel nahmen, reisten die Pilger direkt nach Palästina. Der Empfang, der dem Kaiser und der Kaiserin in Konstantinopel, Palästina sowie Syrien bereitet wurde, war von einer sehr positiven Haltung gegenüber dem deutschen Kaiserpaar geprägt. Nach einem kurztägigen Aufenthalt in Konstantinopel, den er dazu nutzte, um sich die Region anzuschauen, reiste der Kaiser mit seinem Gefolge weiter nach Palästina. Am 25. Oktober kam der Kaiser mit Gemahlin und Gefolge in Haifa an (mit seiner Jacht der „Hohenzollern“). Es war das erste mal seit sechshundertsiebzig Jahren, dass ein Kaiser deutscher Nationen das Heilige Land betrat. Der Staufer Friedrich II (1194-1250), der einen Kreuzzug ins Heilige Land unternahm, war der Letzte, der 1228 in Akko landete. Vom Berg Karmel schaute Kaiser Wilhelm II samt sein Gefolge auf Haifa mit seiner dort ansässigen deutschen Kolonie hinab. An dieser Stelle wurde zu seinem Gedenken später ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal erbaut und daraufhin Kaiser-Wilhelm-Platz genannt. Englische Soldaten demontierten 1918 das Denkmal, jedoch wurde es 1982 wieder im Beisein Prinz Louis Ferdinands wieder errichtet. Am 26. Oktober traf der Kaiser feierlich ins deutsche Konsulat ein, wo ihn ein Empfang im Garten erwartete. Das Oberhaupt der deutschen Kolonie, der Lehrer Friedrich Lange (1840-1923) und der Vizekonsul Fritz Keller (1833-1913) begrüßten im Namen der Templer den Kaiser und die Kaiserin. Der Lehrer Friedrich Lange drückte dem Kaiser gegenüber seinen Dank dafür aus, dass die deutsche Kolonie unter dem deutschen Protektorat stand und finanzielle Unterstützung erhielt und sprach die Hoffnung aus, auch in Zukunft vom Kaiser unterstützt zu werden, was der Kaiser freudig bejahte. Als Vertreter der dort ansässigen Katholiken (in Tabgha am Tiberias-See) und Protestanten sprach der Pastor Herman Baumeister (1867-1898) zur Begrüßung des Kaisers ein paar Worte. Daraufhin gab der Kaiser dem Pastor zu verstehen, dass er den „Katholischen Unterthanen“ [sic] überall Schutz gewähre. Im Anschluss an der Begrüßungsfeier im Garten des deutschen Konsulats besuchte man das katholische Hospiz der barmherzigen Schwestern vom heiligen Borromäus sowie die evangelische Schule, die sich ebenfalls in Haifa befand. Nach den Besuchen in Haifa, ging die Reise weiter nach Jaffa. Unterwegs wurden Atlit und Tantura besichtigt und man übernachtete kurz vor Caesarea, das auch besichtigt wurde, in einem Zeltlager bei Burdsch-el-Khail (heute Burdsch Binjamina). Am Morgen des 27. Oktobers wurde die Reise fortgesetzt. Der zur Templerkolonie zugehörige Georg Sus (1853-1932) führte den kaiserlichen Hofzug, da er Ortskundig war, auf der neu errichteten Straße nach Jaffa. Die Straße war mehr ein passabler Feldweg als eine gut befestigte Straße und bei deren Begehung wurde von der vorreitenden Kavallerie soviel Staub aufgewirbelt, dass der Kaiser anordnen ließ, es solle nur eine kleine Gruppe vorweg reiten und der Rest hinter dem kaiserlichen Wagen. Der Kaiser passierte Kakun und Kafr Saba (das heutige Kfar Saba) sowie die landwirtschaftliche Templerkolonie Sarona, die nördlich von Jaffa lag, im heutigen Regierungsviertel von Tel-Aviv. In Sarona wurde der Kaiser herzlich empfangen. Der deutsche Konsul in Jaffa Edmund Schmidt (1855-1916) empfing den Kaiser und begrüßte ihn freundlich im Auftrag der gesamten Kolonie. Der Kaiser wies darauf hin, dass er hoffe, dass seine freundschaftliche Politik gegenüber dem Osmanischen Reich dazu dienen werde, dass die deutschen Kolonien ( ehemals vier an der Zahl) sich in der dortigen Region gut entwickeln können. Von der Kolonie in Sarona ging die Reise weiter nach Jaffa, wo die Reisenden im deutschen Hotel du Parc gastierten. Vier Kolonialisten (mit Christian Hoffmann II als Anführer), je einer aus einer Kolonie, besuchten am nächste Tag den Kaiser. Dem Kaiser überbrachte man ein Memorandum, in dem die Ansiedlung der Templer in Palästina genauestens beschrieben wurde sowie ein mit Zeichnungen versehenes Album vom deutschen Orientmaler Gustav Bauernfeind (1848-1904). Der Kaiser drückte den Kolonialnisten gegenüber seinen Wunsch aus sie mögen „zum Wohle der Bewohner dieses Landes mit Ausdauer und Erfolg mit ihrer wichtigen Aufgabe fortfahren.“ Nun verließ der kaiserliche Hofzug Jaffa in Richtung Jerusalem, wo auf dem Weg dorthin der Kaiser Theodor Herzl an der jüdischen Ackerbauschule Mikwe-Israel traf und sie sich die Hände reichten. Doch über die Zukunft der Juden in Palästina sagte der Kaiser zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Der Kaiser reiste nun zu Pferd und gelangte über Ramle und Latrun nach Bab el-Wad, wo übernachtet wurde. Am Morgen des 29. Oktober verlief die Reiseroute über Abu-Ghosh nach Jerusalem. Das Kaiserpaar ritt auf weißen Schimmeln in weißen Sonnenmänteln dem Tross vorweg in die Stadt ein. Den Kaiser beeindruckte Jerusalem, im Gegensatz zum Gefolge, nicht. Der Aufenthalt des Kaisers in Jerusalem dauerte eine Woche lang, vom 29. Oktober bis zum 4. November, in der er geschichtsträchtige Stätten besuchte und zu Gast bei vielen Reden war, die er alle beantwortete. Dass der Kaiser über die Stadt enttäuscht war, merkte man anhand einer in Bethlehem gehaltenen Rede, die er auf der Terrasse vor der 1883 eingeweihten evangelischen Weihnachtskirche hielt . In dieser Rede kritisierte der Kaiser die Unstimmigkeiten, die zwischen den Christen herrschten und soweit führten, dass türkische Soldaten sogar in den Kirchen intervenieren mussten, um Gewaltausschreitungen zwischen den Christen zu verhindern. Das „Publikum“ bestand aus geistlichen aus Palästina, Klein-Asien und Ägypten. Des Weiteren bemängelte er die Uneinigkeit der Protestanten, die wegen divergierender Meinungen gespalten waren. Dies sei ein schlechtes Auftreten vor der moslemischen Bevölkerung und gebe ein unwürdiges Bild des Christentums wieder. Die Absicht Deutschlands müsse darin liegen, den Mohammedanern zu zeigen, wie die christliche Religion und Liebe sei. Dies solle durch Erziehungs- und Wohlfahrtseinrichtungen sowie durch die Kultur des Christentums bewirkt werden und nicht durch erlahmende Reden. Der verarmten regionalen Bevölkerung fehle es an diesen genannten Dingen und über dies führe der Weg „ihre Achtung und Liebe zum Christentum zu wecken.“ Zum Schluss der Rede sagte der Kaiser noch, er hoffe die Deutschen werden „die Prüfung erfolgreich bestehen.“ Als er aus Bethlehem wieder nach Jerusalem kehrte, ging der Kaiser zur dortigen Templer Kolonie und fand für die Templerkolonialisten bestärkendere Worte, als zuvor für die geistliche Hörerschafft vor der Weihnachtskirche in Bethlehem. Der Kaiser sagte, dass es in freue,
„daß [sic] Ihr verstanden habt, durch euer persönliches Leben Eueren Nachbarn ein gutes Beispiel zu geben, und daß [sic] Ihr gezeigt habt, wie man es machen muß [sic], um in diesen Ländern den deutschen Namen Achtung zu verschaffen. Ihr habt... Euch einen guten Ruf erworben hier und auch im Auslande und habt gezeigt, wie man es angreifen muß [sic], öde Felder wieder fruchtbar zu machen... Ich hoffe, daß [sic], wie augenblicklich, so auch in Zukunft die freundschaftlichen Beziehungen zum osmanischen Reiche, und insbesondere die Freundschaft zu Seiner Majestät dem Sultan und Mir, dazu dienen werden, Eure Aufgaben zu erleichtern. Wenn irgendeiner von Euch Meines Schutzes bedarf, so bin Ich da... und erfreulicher Weise ist das Deutsche Reich ja imstande, seinen Angehörigen im Auslande nachhaltigen Schutz zu gewähren.“
Diese positiven Worte des Kaisers zeigen, dass er ein großes Interesse am guten gedeihen der Kolonien in Palästina hatte. Die Anrede der Siedler in der zweiten Person, erweckt den Eindruck der besonderen Nähe zwischen ihnen und dem Kaiser. Auch lobt er ihre Arbeit, die sie bis Dato geleistet haben, was wie ich meine, zum Ausdruck bringt, dass er hoffe und wolle, dass sie ihre Arbeit weiter so gewissenhaft wie bisher fortführen werden. „... Ihr gezeigt habt, wie man es machen muß [sic], um in diesen Ländern den deutschen Namen Achtung zu verschaffen.“ Dieser Satz könnte eine Anspielung auf die zuvor gehaltene Rede in Bethlehem sein, in der er seine Unzufriedenheit gegenüber den anwesenden geistlichen ausdrückte. Hier meine ich vor allem den Teil des Satzes, in dem er die Achtung vor den deutschen Namen anspricht. Der letzte Teil („ [...] insbesondere die Freundschaft zu Seiner Majestät dem Sultan und Mir, dazu dienen werden, Eure Aufgaben zu erleichtern.“[...] Deutsche Reich ja imstande, seinen Angehörigen im Auslande nachhaltigen Schutz zu gewähren.“ ) seiner Rede könnte nicht nur ausschließlich an die deutschen Kolonialisten gerichtet sein, sondern ebenfalls an die moslemische Bevölkerung und deren Machthabern. Freudig gestärkt durch des Kaisers Worte wurde am darauffolgenden Tage die Nachtruhe durch den Gesang deutscher Siedler gestört. Sie sangen die deutsche Nationalhymne. Doch Dr. Robert Bosse (preußischer Kultusminister sowie Mitglied des kaiserlichen Gefolges), meinte man solle die Hoffnungen der Siedler nicht zu sehr anregen. Denn Dr. Bosse war es bewusst, dass Wilhelm II keine „konkrete Schritte“ einleiten würde, die die Beziehungen zum Sultan Abdulhamid II gefährdeten, auch wenn der Kaiser versuchte die Stellung der deutschen Siedler in Palästina zu stärken. Am 31. Oktober wurde das eigentlich erklärte Ziel der Reise erreicht, nämlich die Einweihung der Erlöserkirche, die vor Besuchern aus der ganzen Welt stattfand. Das Gebiet auf dem die Kirche errichtet wurde, übergab der Kaiser dem katholischen „Deutschen Verein vom Heiligen Lande“, der selbst schon vorher längere Zeit versucht hatte das Gebiet zu kaufen. Doch ist das Terrain auch den Moslems heilig gewesen und so versuchte der Verein es vergebens. Erst als der Kaiser persönlich intervenierte, kaufte der Sultan selbst das Gebiet für 100.000 Mark, die Wilhelm II aufbrachte und so war es nun möglich, dass Wilhelm II die Stätte dem „Deutschen Verein vom Heiligen Lande“ feierlich übergab. Die Besuche, die der Kaiser im Jordanland geplant hatte, sagte er aufgrund der Hitze sowie der staubigen Straßen ab. Außerdem auch wegen Nachrichten die ihn aus Berlin erreichten, wie es in der öffentlichen Bekanntmachung geheißen hat. In seinen letzten Tagen in Jerusalem traf er die wichtigsten Vertreter aller dort ansässigen Religionen wie auch die der staatlichen Einrichtungen. Des Weiteren besuchte er Pastor Ludwig Schnellers syrisches Waisenhaus , der Kaiserwerther Mädchenschule „Talitha Kumi“ sowie das deutsche Diakonissen-Krankenhaus und die katholische Hospiz. Eine zionistische Gesandtschaft traf am 2. November unter der Leitung Theodor Herzl im Zeltlager des Kaisers ein. Wilhelm II teilte ihnen mit, dass
„alle diejenigen Bestrebungen auf sein wohlwollendes Interesse zählen könnten, welche auf eine Hebung der Landwirtschaft in Palästina zur Förderung der Wohlfahrt des türkischen Reiches unter voller Beachtung der Landeshoheit des Sultans abzielten.“
Theodor Herzl muss sehr enttäuscht über die nichtssagenden Worte des Kaisers gewesen sein, wenn er gehofft hatte, über den Kaiser den Weg zum Judenstaat in Palästina bahnen zu können (sogar der Onkel des Kaisers Friedrich I [1826-1907], der Großherzog von Baden, hatte Herzl telegraphisch zum Erfolg beglückwünscht). Denn wenn man sich die Worte des Kaisers genau anschaut, lassen sie die Vorsicht erkennen, mit der der Kaiser seine Worte wählte. Vor allem das Ende der vorletzten Zeile sowie die letzte Zeile, in der Wilhelm II die Landeshoheit des Sultans herausstellt, dürften die Hoffnungen Theodor Herzls samt seiner Begleiter auf die deutsche Unterstützung begraben haben. Dem Kaiser waren die guten Beziehungen zum türkischen Sultan also wichtiger, als die Hoffnung die linksorientierten Juden in Deutschland loszuwerden. Ein Abschiedsgottesdienst für den Kaiser fand am 3. November in der Erlöserkirche statt. Mit der Eisenbahn kam der Hof am nächsten Tag zurück nach Jaffa, wo es dann mit dem Schiff weiter nach Beirut ging. Im Libanon und in Syrien beschaute sich der Kaiser geschichtsträchtige Orte an und kehrte schließlich im November den 26. nach Berlin zurück.
Bedeutung der Palästinenserreise
Der Geschäftsträger der Botschaft in Konstantinopel überprüfte die Ergebnisse der Reise mit den Zielen der Reise in seinem abschließenden Bericht. Die Kopien dieses Berichts wurden auf Anweisung des Kaisers in allen ausländischen Botschaften versandt, was Alex Carmel, wie ich meine zurecht, als Zustimmung des Kaisers auffasst. Als Begünstigte dieser Reise wurden die deutschen Siedler herausgestellt, die vor allem von den extra für den Besuch des Kaisers ausgebauten Straßen und Brücken etc. profitierten. Das Leitmotiv, das für die Reise angegeben wurde, war die Religiosität und der größte Erfolg, die Begeisterung für die Deutschen, die durch die Kaiserreise im Osmanischen Reich ausgelöst wurde. Dr. Robert Bosse bemerkte, dass einige Mitreisende der Palästinenserreise meinten das Deutsche Reich werde nun auch in Palästina „festen Fuß fassen“ . Jedoch zeigte die Reise,
„wie vorsichtig unser Kaiser in dieser Beziehung alles vermieden habe, was übertriebenen politischen Hoffnungen oder auch dem Misstrauen anderer Nationen zum Anhalt hätte dienen können. Die auswärtige Politik des Deutschen Reiches bewegt sich auch heute noch – Gott sei Dank – auf dem von den Fürsten Bismarck vorgezeichneten Bahnen. Sie ist namentlich in der orientalischen Frage ausgesprochene Friedenspolitik.“
Deutsche Zentren oder gar Territorien zu gewinnen, wie sie das Deutsche Reich in China hat, habe das Deutsche Reich in Palästina nicht vor, sondern erfreue sich über die friedliche Arbeit der dortigen deutschen Siedler. Man kann also sagen das Verhältnis des Kaisers zu den deutschen Siedlern in Palästina war ihnen gegenüber wohlwollend, jedoch in Anbetracht der Beziehungen zum Osmanischen Reich, nicht uneingeschränkt. Die Hoffnung, welche die Orientreise in den Herzen und Köpfen der Templer erweckte, dass der Kaiser sich nun mehr für die Kolonien einsetze (vor allem politisch), wurde aus den schon genannten Gründen also nicht erfüllt. Die Träume der deutschen Kolonialisten in Palästina zerplatzten wohl entgültig, als der Kaiser im „Fall“ Fritz Unger (1876-1910) ihnen nicht zur Hilfe eilte (obwohl er ihnen mehrmals auf seiner Orientreise seinen Schutz zusicherte). Der Siedler Fritz Unger wurde von wütenden Arabern in Anwesenheit des deutschen Vizekonsuls und Vertreter türkischer Behörden erschlagen, da in der vorherigen Nacht ein Dieb, der aus ihren Dorf stammte, im Weinberg erschossen wurde. Der Hilferuf der Siedler gen Heimat verhallte ungehört. Das entgültige politische Interesse des Deutschen Reiches an Palästina verstummte, als den Franzosen offiziell das Heilige Land überlassen wurde, weil die deutsche Hauptstadt die Zone entlang der Bagdadbahn beanspruchte, als Deutschland, Frankreich, England und Russland die asiatische Türkei in Interessensphären einteilten.
Literatur
Schriften Wilhelms II.
- Autobiographie (Memoiren):
- Aus meinem Leben – 1859–1888, Leipzig 1926 (K. F. Koehler)
- Ereignisse und Gestalten – 1878–1918, Leipzig, Berlin 1922 (K. F. Koehler)
- Erinnerungen an Korfu. Berlin 1924
- Vergleichende Geschichtstabellen von 1878 bis zum Kriegsausbruch 1914. Verlag von F. Koehler, 1921
- Meine Vorfahren. Leipzig 1929
- Kulturhistorische Werke:
- Das Wesen der Kultur. Privatdruck, 1921
- Die chinesische Monade, ihre Geschichte und ihre Deutung. Leipzig 1934
- Studien zur Gorgo. Berlin 1936
- Das Königtum im alten Mesopotamien. Leipzig 1938
- Ursprung und Anwendung des Baldachins. Amsterdam 1939.
Sammlungen:
- Ernst Johann, Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., München 1966 (dtv)
- Briefe an den Zaren 1894–1904, hgg. und eingel. von Walter Goetz, übersetzt von M. T. Behrmann, Berlin 1920
- Briefe und Telegramme an Nikolaus II. (1894–1914)'‘, hgg. von H. v. Gerlach, Wien 1920
Literatur über Wilhelm II.
Zeitgenössische Literatur
- Friedrich Meister, „Kaiser Wilhelm II.“, Verlag Ernst Hofmann Berlin 1894
- Friedrich Naumann, „Die Politik Kaiser Wilhelms II.“, Verlag Freistatt München 1903
- Adolf Stein, „Wilhelm II.“, Leipzig 1909 (Kurzdarstellung)
- Arthur N. Davies: The Kaiser I knew, London 1918
- Emil Ludwig, Wilhelm der Zweite, Berlin 1926 (Ernst Rowohlt)
- Edgar v. Schmidt-Pauli, „Der Kaiser – Das wahre Gesicht Wilhelms II.“, Verlag für Kulturpolitik Berlin 1928 (Die Person des Kaisers aus Sicht eines Psychologen)
- Max Buchner, „Kaiser Wilhelm II., seine Weltanschauung und die deutschen Katholiken“, Leipzig: Köhler 1929
- J. D. Chamier, „Ein Fabeltier unserer Zeit – Glanz und Tragödie Kaiser Wilhelms II.“, Amalthea-Verlag 1938 (vorzügliche Biographie des engl. Autors)
Spätere Literatur
- Hans Helfritz, „Wilhelm II: als Kaiser und König“, Verlag Scientia AG, 1954 (historische Studie des Prof. f. öffentliches Recht bzgl. der positiven Leistungen des Kaisers)
- Nicolaus Sombart, „Wilhelm II – Sündenbock und Herr der Mitte“, Berlin (Verlag Volk & Welt) 1997 (Betrachtungen zur Person des Kaisers und dessen Umfeld aus kultursoziologischer Sicht)
- Golo Mann, „Wilhelm II.“, München: Scherz 1964
- Sigurd von Ilsemann, Der Kaiser in Holland, Bde. I/II, München 1968, hgg. von Harald v. Koenigswald (zeitgenössische Tagebuchaufzeichnungen des letzten Flügeladjutanten Wilhelm II. in Doorn; postum, Bd 1: 1918–23; Bd 2: 1924–41
- Friedrich August Henn, „Meine Erinnerungen an Wilhelm II. im Exil in Doorn“ (1966), Privatdruck, Frankfurt a.M 2001 – ein Zeitzeuge, der Hofpfarrer in Doorn, berichtet.
- Hans Rall, „Wilhelm II. – Eine Biographie“, Graz (Verlag Styria) 1995
- Christian Graf von Krockow, Unser Kaiser. Glanz und Elend der Monarchie. München 1996
- Klaus Jaschinski, „Kaiser Wilhelm II. auf Pilgerfahrt im Heiligen Land“, in: Ulrich van der Heyden, Joachim Zeller (Hrsg.) ... Macht und Anteil an der Weltherrschaft., Berlin * Tyler Whittle, „Kaiser Wilhelm II: – Eine Biographie“, München 1979
- Louis Ferdinand Prinz von Preußen, Im Strom der Geschichte, München [1989] 1994 [ursprünglicher Titel: „Als Kaiserenkel durch die Welt“, 1. Auflage, Berlin: Argon 1952]
- Hans Wilderotter und Klaus D. Pohl (Herausgeber): Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil. hgg. i. A. des Dt. Historischen Museums (Berlin), Gütersloh/München 1991
- J. D. Chamier, „Ein Fabeltier unserer Zeit – Glanz und Tragödie Kaiser Wilhelms II.“, Neuauflage 1989, Vorwort: Louis Ferdinand Prinz von Preußen
- John C. G. Röhl, Die Jugend des Kaisers, 1859–1888, München (Beck)
- John C. G. Röhl, Der Aufbau der Persönlichen Monarchie, 1888–1900, München (Beck) 2001
- Wolfgang J. Mommsen, War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten, München (Propyläen) 2002
- Christopher Clark: Kaiser Wilhelm II.. London 2000 (kurze, abgeschlossene Biografie auf neuerem Forschungsstand, bisher nur engl.)
- Eberhard Straub, „Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien“, Berlin (Siedler) 1998, ISBN 3886805654
- Friedhild den Toom, „Wilhelm II. in Doorn“, Hilversum 2002 (die nl. Autorin arbeitet für die Stichting Huis Doorn)
- John C. G. Röhl, Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München (C. H. Beck) 2002
- Joachim Schröder, "Die U-Boote des Kaisers - Die Geschichte des deutschen U-Boot-Krieges gegen Großbritannien im Ersten Weltkrieg", Bonn (Bernard und Graefe) 2. Auflage 2003 - erstmals wird hier die entscheidende Rolle des Kaisers im U-Boot-Krieg beleuchtet.
- Martin Kohlrausch (Hrsg.), Samt und Stahl. Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen (Beiträge von Otto von Bismarck, Hans Blüher, Rudolf Borchardt, Paul Busching, Winston Churchill, Egon Friedell, Walter Goetz, Georg Hinzpeter, Ernst Horneffer, Karl Lamprecht, Friedrich Naumann, Walther Rathenau, Jean-Paul Sartre, Reinhold Schneider, Percy Ernst Schramm, August Stein, Ludwig Thoma und Theodor Wolff. Mit teilweise unveröffentlichten Fotografien aus dem Hause Hohenzollern. Berlin (Landt) 2006, ISBN 3-938844-05-1 [zu beziehen unter: http://www.landtverlag.de/]
Weblinks
- Wilhelm II. (Deutsches Reich). In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL).
- Lebendiges Museum online: Wilhelm II. (Deutsches Historisches Museum, Berlin)
- Preussen-Chronik (Website zu einer Sendereihe der ARD im "Preußenjahr" 2001 über Kaiser Wilhelm II.)
- Wilhelm II. (Preussen.de)
- Friedrich August Henn: „Meine Erinnerungen an Wilhelm II. im Exil in Doorn“ (Ein Zeitzeuge, ehedem Hofpfarrer in Doorn, berichtet)
- Über Wilhelm II. (Universität Gießen; mit umfangreicher Sammlung zur Geschichte der Sozialversicherung)
- Website des Kaiser-Wilhelm-Kuratorium
- Haus Doorn in den Niederlanden
| Personendaten | |
|---|---|
| NAME | Wilhelm II. |
| ALTERNATIVNAMEN | Friedrich Wilhelm Albert Victor Prinz von Hohenzollern (Geburtsname) |
| KURZBESCHREIBUNG | letzter König von Preußen und letzter Deutscher Kaiser |
| GEBURTSDATUM | 27. Januar 1859 |
| GEBURTSORT | Potsdam |
| STERBEDATUM | 4. Juni 1941 |
| STERBEORT | Doorn, Niederlande |