Stuttgarter Schuldbekenntnis
Das Stuttgarter Schuldbekenntnis war die erste Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, die die Mitschuld der evangelischen Christen und Kirche an den Verbrechen des Dritten Reiches in allgemeiner Form benannte. Es wurde von drei Vertretern des provisorischen Rates der EKD - Hans Christian Asmussen, Otto Dibelius und Martin Niemöller - gemeinsam verfasst[1] und am 19. Oktober 1945 auf der Ratstagung verlesen.
Anlass war der Besuch hochrangiger Vertreter der Ökumene, die sich bereit zeigten, sich mit den Deutschen zu versöhnen und die neugebildete EKD aufzunehmen. Dazu erwarteten sie ein glaubwürdiges Schuldbekenntnis der evangelischen Christen Deutschlands. Die Erklärung kam dieser Erwartung nach und öffnete der EKD den Weg zu ökumenischer Gemeinschaft und verstärkter Hilfe für das hungernde deutsche Volk. Sie stellte einen Kompromiss aus Vorentwürfen und persönlichen Schulderklärungen von Kirchenvertretern dar, die im Kirchenkampf Leitungsfunktionen bekleidet hatten.
Der vorzeitig veröffentlichte Text löste heftige Kontroversen in der EKD und der deutschen Bevölkerung aus.
Der Wortlaut
Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland gegenüber den Vertretern des Ökumenischen Rates der Kirchen
- Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland begrüßt bei seiner Sitzung am 18. und 19. Oktober 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen. Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer großen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir:
- Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
- Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche, gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, daß Er unsere Kirchen als Sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, Sein Wort zu verkündigen und Seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.
- Daß wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.
- Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem Geist der Macht und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.
- So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus!
Stuttgart, den 19. Oktober 1945
Unterzeichner:
- D. Theophil Wurm, Landesbischof Württembergs
- D. D. Hans Christian Asmussen, Theologe, Präsident der Kirchenkanzlei der EKD
- Hans Meiser, Landesbischof Bayerns
- Heinrich Held (Theologe), Pfarrer in Essen, später Präses der Rheinischen Landeskirche
- Dr. Johannes Lilje, Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents, später Landesbischof in Hannover
- Hugo Hahn, Pfarrer, später Landesbischof Sachsens
- Lic. Wilhelm Niesel, Pfarrer, Theologieprofessor
- D.Dr. Rudolf Smend, Theologieprofessor, Staats- und Kirchenrechtler
- Dr. Gustav Heinemann, Rechtsanwalt, Synodaler, Laienvertreter, später Bundespolitiker und Bundespräsident
- Otto Dibelius, Landesbischof von Berlin-Brandenburg
- D.D. Martin Niemöller, Pfarrer, später Kirchenpräsident von Hessen-Nassau
Die Vorgeschichte
Die Stuttgarter Erklärung ging aus im Kirchenkampf und nach Kriegsende gewonnenen Erkenntnissen über das Versagen der Christen angesichts der Verbrechen der NS-Zeit, aber auch aus Bemühungen um die Einigung der evangelischen Kirchen und aus den Erwartungen der Ökumene hervor.
Kirchenkampf
Die Deutsche Evangelische Kirche (DEK) hatte sich 1934 nicht am Verhältnis zum Nationalsozialismus als solchem gespalten. Fast alle Unterzeichner der Stuttgarter Erklärung hatten Hitlers Kanzlerschaft begrüßt, zu fast allen Verfolgungs- und Terrormaßnahmen der Nationalsozialisten vor 1939 geschwiegen, den Krieg unterstützt und nur in einigen die Kirche betreffenden Teilbereichen eine oppositionelle Haltung zum Regime eingenommen. Auch die Bekennende Kirche (BK) hatte ihre grundsätzliche Loyalität zum Hitlerregime ständig bekundet und mit Ergebensheitsadressen – bis hin zu einem freiwilligen Führereid der Pastoren 1937 - versucht, sich gegenüber den Deutschen Christen (DC) und staatlichen Dienststellen zu behaupten.
Im Verlauf des Kirchenkampfes erkannten jedoch einige Kirchenführer ihr Versagen und die wahre Natur des Regimes, das sie um der Kirche willen bejaht hatten. Wenige Tage vor dem Münchner Abkommen am 29. September 1938 forderte die Leitung der BK ihre Pastoren auf, „anlässlich drohender Kriegsgefahr“ einen Gebetsgottesdienst zu halten und darin ein Fürbittengebet zu verlesen:[2]
- Wir bekennen vor Dir die Sünden unseres Volkes... Öffentlich und im Geheimen ist viel Unrecht geschehen.
- Wir gedenken aller, die in Versuchung stehen, grausame Rache zu üben und vom Hass überwältigt zu werden. Wir gedenken der Menschen, deren Land der Krieg bedroht und beten für sie zu Gott.
Hier sollten die Christen stellvertretend für alle Deutschen ihre Schuld am inneren und äußeren Unrecht der NS-Regierung bekennen. Unrecht, Rache und Krieg wurden als Schuldzusammenhang benannt.
Kurz darauf wurde der berühmte Brief des Schweizer Theologen Karl Barth an Josef L. Hromadka bekannt, in dem er alle Tschechen aufrief, aus christlicher Verantwortung dem Hitlerregime im Falle einer Besetzung der Tschechei bewaffneten Widerstand zu leisten. Er verstand dies als Folgerung aus der Barmer Theologischen Erklärung, der von ihm 1934 verfassten Gründungsurkunde der BK.
Die Autoren der Gebetsvorlage wurden daraufhin von allen Seiten – SS, Reichspropagandaministerium, Lutherrat – als Landesverräter angegriffen, so dass sie sich eilig von Barth distanzierten. Die laufenden Einigungsbemühungen der sogenannten „intakten“ Landeskirchen mit Staatsbehörden und BK-Vertretern platzten. Die lutherischen Bischöfe Marahrens, Wurm und Meiser versicherten Kirchenminister Hanns Kerrl, dass sie die Gebetsvorlage der BK aus „religiösen und vaterländischen Gründen“ auf das Schärfste missbilligten und sich von deren Autoren und Unterstützern trennten. Wenige Wochen später schwiegen sie ausnahmslos zu den Novemberpogromen.[3]
Dies war einer der Anstöße für Dietrich Bonhoeffer, auf eigene Verantwortung als Christ am konspirativen Widerstand gegen den Nationalsozialismus teilzunehmen. Auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht, nach dem siegreichen Frankreichfeldzug 1940, verfasste er in seiner Ethik ein stellvertretendes Schuldbekenntnis für die BK und die künftige Kirche. Es stellte unmissverständlich das Unrecht an den wehrlosen Juden und anderen Minderheiten heraus, zu dem die Kirche geschwiegen habe, so dass sich im Angesicht Jesu Christi jeder Seitenblick auf die Schuld anderer verbiete. Nach seiner Inhaftierung 1943 wurde Bonhoeffer, der die illegale Ausbildung der jungen Pastoren der BK geleitet hatte, in deren Fürbitten – sogar noch nach Kriegsende – nicht erwähnt.
Auch Hans Asmussen, Hauptautor der Stuttgarter Erklärung, hatte im Dezember 1942 einen Brief an den ÖRK gesandt, in dem er als Vertreter der BK das „Bewusstsein deutscher Schuld" vor der Ökumene aussprach.
Wiederherstellung oder Neuaufbau der EKD
Am Himmelfahrtstag 1945 (10. Mai), zwei Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, fand in Stuttgart die erste Großkundgebung der evangelischen Kirche statt. Vor einer großen Menge verkündete der württembergische Landesbischof Wurm als Sprecher der ganzen Bekennenden Kirche in Deutschland im Beisein des Generals der französischen Besatzungstruppen:[4]
- Das Herz des deutschen Volkes schlug für den Frieden, der Krieg war ein Parteikrieg. Eben deshalb sollte man nicht das ganze deutsche Volk als verantwortlich für die Gewalt- und Schreckensmethoden eines Systems ansehen, das von einer weit überwiegenden Mehrheit innerlich abgelehnt worden ist.
Er wies die Schuld an Krieg und Völkermord der „Gottlosigkeit" des NS-Regimes und seiner „Abkehr von Gott und seinen Lebensordnungen" zu. Die Kirche habe diesen „Säkularismus" bekämpft. Tatsächlich hatten gerade Wurm und die übrigen lutherischen Landsbischöfe im Mai 1939 im Hitlerstaat die „von Gott gesetzte Ordnung“ erblickt und ihre Mitglieder angewiesen, „sich in das völkisch-politische Aufbauwerk des Führers mit voller Hingabe einzufügen.“[5] Statt Protest folgten seit dem Kriegsbeginn demgemäß gemeinsame glühende Aufrufe von Bekennenden und Deutschen Christen zur Opferbereitschaft. Seit 1942 versuchte Wurm zudem, BK, DC, „Neutrale" und „intakte“ Landeskirchen unter dem Dach seines „Kirchlichen Einigungswerkes" zu vereinen. Nur den radikalsten Flügel der „Neuheiden" wollte er ausschließen.[6]
So traten die ungelösten Konflikte um Glauben, Gestalt und Aufgabe der Evangelischen Kirche nun wieder hervor. Die erste Initiative zu ihrer Wiederherstellung nach dem Modell der DEK ergriff August Marahrens, der lutherische Bischof der Hannoverschen Landeskirche, am 30. Mai 1945 mit einem Schreiben an den noch bestehenden Lutherrat. Dies löste heftige Proteste seitens des ÖRK aus, der darauf hinwies, dass Marahrens 1939 mit den Godesberger Thesen die Vereinbarkeit von nationalsozialistischer Ideologie und christlichem Glauben unterzeichnet hatte.
Am 8. Juni 1945 lud Wurm die bestehenden Kirchenleitungen nach Treysa ein, wobei er den Reichsbruderrat der BK überging. Daraufhin lud Martin Niemöller, KZ-Überlebender und im Ausland als glaubwürdig angesehener Vertreter der BK, seinerseits die Bruderräte der BK zu einem Vorbereitungstreffen für Treysa nach Frankfurt am Main ein. Er bat auch Karl Barth brieflich um Teilnahme und theologischen Rat. Barth sagte sofort zu und reiste erstmals seit seiner Zwangsentlassung 1938 wieder nach Deutschland.
In Frankfurt betonte Niemöller in seinem Einleitungsreferat am 21. August die Schuld der ganzen Kirche an der „Entwicklung der letzten 15 Jahre“ und forderte, die Evangelische Kirche mit unbelasteten Kräften auf der Beschlussbasis der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem 1934 völlig neu aufzubauen. Als einziger der in Frankfurt anwesenden Bruderräte analysierte Barth das politische Versagen der BK im Dritten Reich und führte es auf die lange antidemokratische Fehlorientierung des deutschen Protestantismus zurück:[7]
- Friedrich, Bismarck und Hitler waren Menschenverächter, darum könnt Ihr mit denen nicht christliche Politik machen. Von diesem Bann muss die Bekennende Kirche freikommen.
Er erntete dafür unter seinen deutschen Freunden nur Empörung, eine Aussprache über sein Referat unterblieb.
Niemöllers anschließender Briefwechsel mit Wurm konnte tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten über die künftige Gestalt der EKD nur teilweise ausräumen. Niemöller warf z.B. Otto Dibelius vor, er habe sich den Bischofstitel unrechtmäßig zugelegt, um kirchenpolitisch Karriere zu machen. Die Landeskirchenverfassungen seien aufzuheben, die Landesbischöfe seien als geistliche Leiter der Christen ungeeignet.[8]
Das Treffen zur Gründung einer provisorischen Kirchenleitung in Treysa vom 27. bis 31. August leitete Niemöller mit einem Vortrag ein, in dem er zunächst ein persönliches Schuldbekenntnis aussprach, zu dem er in der KZ-Haft gelangt sei. Dann stellte er die besondere Verantwortung der BK für die NS-Katastrophe heraus:
- Hier trägt die Bekennende Kirche ein besonders großes Maß an Schuld; denn sie sah am klarsten, was vor sich ging und was sich entwickelte; sie hat sogar dazu gesprochen und ist dann doch müde geworden und hat sich vor den Menschen mehr gefürchtet als vor Gott. [...] Sie allein wusste, dass der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat unser Volk nicht gewarnt.
Diese Einsichten wollte Niemöller als „Wort an die Pfarrer“ allen Predigern nahebringen, doch dies lehnten die in Treysa versammelten Kirchenführer ab. Stattdessen wurde ein „Wort an die Gemeinden“ verabschiedet, in dem es hieß: [9]
- Wo die Kirche ihre Verantwortung ernst nahm, rief sie zu den Geboten Gottes, nannte beim Namen Rechtsbruch und Frevel, die Schuld in den Konzentrationslagern, die Misshandlung und Ermordung von Juden und Kranken und suchte der Verführung der Jugend zu wehren. Aber man drängte sie in die Kirchenräume zurück wie in ein Gefängnis. Man trennte unser Volk von der Kirche. Die Öffentlichkeit durfte ihr Wort nicht mehr hören; was sie verkündigte, erfuhr niemand. Und dann kam der Zorn Gottes. Er hat uns genommen, was Menschen retten wollten.
Hier wurde also keine besondere Schuld der BK benannt, sondern die gesamte Kirche als Lobby für die vom NS-Regime Entrechteten dargestellt, deren Protest durch staatliche Verfolgung nicht habe wirksam werden können. Im Widerspruch dazu redete die Abschlusserklärung vom Versagen der Kirche aufgrund traditioneller lutherischer Bejahung des Obrigkeitsstaates.
Die Einheit der EKD wurde in Treysa nur gewahrt, indem die konfliktträchtige Frage nach der dem Barmer Bekenntnis gemäßen Kirchenverfassung offen gelassen wurde. Das kirchliche Außenamt unter dem DC-Bischof Theodor Heckel wurde aufgelöst und die Pflege der ökumenischen Beziehungen wurde Niemöller übertragen.
Barth war in Treysa nur Gast; viele Kirchenvertreter sahen ihn nicht als Delegierten der BK, sondern wie 1938 als reformierten Ausländer und denunzierten ihn teilweise als „Oberinspektor der alliierten Armeen“.[10] Er bekräftigte in einem Brief an Niemöller am 28. September, was er vor dem Treffen öffentlich mehrfach erbeten hatte: Ein einfaches, klares Wort aller deutschen Kirchenführer zu ihrer Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus sei notwendig, um einmal ohne Umschweife aus[zu]räumen, was zwischen ihnen und uns steht.[11]
Ökumenische Erwartungen
Die Vertreter der Ökumene hatten im Kirchenkampf auf vielfältige Weise versucht, den Bekennenden Christen und „Nichtariern" zu helfen und sich dabei nicht selten den Unmut ihrer eigenen Regierungen zugezogen. Sie wollten nun unbedingt verhindern, dass die ökumenische Kirchengemeinschaft erneut wie 1918 die Kriegsschuldfrage ausklammerte und so zu ihrer gesamtpolitischen Verdrängung beitrug. Zugleich wollten sie dazu beitragen, dass die Bevölkerungen der Siegerstaaten einen Neubeginn mit den Deutschen mittragen würden.
Bischof George Bell, dessen Protest im britischen Oberhaus gegen die alliierte Luftkriegsführung 1942/43 ihn das Führungsamt der Anglikanischen Kirche in Großbritannien kostete, hatte die allererste christliche Schulderklärung, eine Predigt von Friedrich Bodelschwingh am 27. Mai 1945, aufmerksam wahrgenommen und freudig begrüßt:[12]
- In Deutschland können Bekehrung und Erneuerung nur in den deutschen Herzen vor sich gehen. Alles, was wir tun können, ist, demütig und ohne Selbstgerechtigkeit durch die Bruderschaft im Evangelium und in der Wahrheit Christi Mut zu machen.
Im Juli 1945 besuchten hochrangige Vertreter des ÖRK - Hans Schönfeld, Stewart Herman und der emigrierte deutsche Jude Alfred Freudenberg - erstmals die westlichen Besatzungszonen, um die Bereitschaft der deutschen Protestanten zur Aufnahme in die Ökumene zu sondieren. Sie erwarteten, dass die Evangelische Kirche sich einer „Selbstreinigung “ unterziehen und kirchliche Würdenträger wie Marahrens und Heckel, die „ständige Verbeugungen vor den Nationalsozialisten" gemacht hatten, zum Rücktritt zwingen solle. Denn die Besatzungsbehörden übten in dieser Richtung damals keinen Druck aus, sondern sahen evangelische Kirchenvertreter weithin unkritisch als Vertretung einer innerdeutschen Opposition zum Hitlerregime an.[13]
In ihren Berichten registrierten die Besucher die Stimmung unter den Protestanten: Der Theologe Paul Althaus etwa sah die „Nationale Revolution“ von 1933 nach wie vor als legitime Reaktion auf das „Unrecht von Versailles". Er schrieb in einem Vortrag: „Unsere Führung hat furchtbare Fehler gemacht“, ohne diese zu benennen und ohne eine kirchliche Mitschuld anzudeuten. Sodann ging er nahtlos zum „Vertreibungsunrecht der Alliierten“ über, das er sehr konkret darstellte und daran die Frage anschloss, ob die Deutschen nun aus einem unbegreiflichen Willen Gottes heraus unter einen vergleichbaren „Fluch" wie die Juden geraten seien. Deshalb sahen die Ökumenevertreter Christen, die wie Niemöller seit Monaten vor dem Stuttgarter Treffen unaufgefordert, öffentlich und rückhaltlos eigene Schuld bekannten, als ihre vorrangigen Gesprächspartner an.
Am 24. Juli schrieb der Generalsekretär des ÖRK, Willem Adolf Visser t’ Hooft, an George Bell und bat ihn, auf die Briten einzuwirken, damit diese Marahrens zum Rücktritt aufforderten: Die Auslandskirchen würden sonst keine normalen Beziehungen zur EKD aufnehmen können. Bell, dem dies widerstrebte, versuchte stattdessen, Marahrens in einem persönlichen Besuch in Loccum von der Notwendigkeit seines Rücktritts zu überzeugen: vergeblich. Marahrens blieb bis 1947 im Amt, verlor aber seinen Einfluss auf die Gestaltung der EKD.
Am 25. Juli schrieb Visser't Hooft zudem an Otto Dibelius und bat ihn um ein „brüderliches Gespräch" mit den Kirchenvertretern, die schwer unter der deutschen Besetzung gelitten und deren Folgen zu tragen hätten:[14]
- Dieses Gespräch würde aber sehr viel leichter sein, wenn die Bekennende Kirche Deutschlands sehr offen spricht – nicht nur über die Missetaten der Nazis, sondern auch besonders über die Unterlassungssünden des deutschen Volkes, einschließlich der Kirche.
- Die Christen anderer Länder möchten gerade nicht als Pharisäer dastehen. Aber sie möchten so gern, dass offen gesagt wird, wie das so ganz eindringlich in Bonhoeffers Gedicht gesagt ist, dass das deutsche Volk und auch die Kirche nicht offen und laut genug gesprochen haben. Die Äußerungen von Bischof Wurm, von Asmussen [...] sind noch so 'apologetisch' und machen es den anderen nicht leicht, nun auch ihrerseits ohne Pharisäertum ihre eigene andersartige Schuld am ganzen Geschehen zu bekennen.
Während Dibelius ausweichend antwortete, lud Niemöller Visser't Hooft am 10. Oktober nach Stuttgart ein. Ein weiterer Brief von Ehrenberg an Niemöller bekräftigte unmissverständlich die entscheidende Bedeutung einer Schulderklärung auf dem Stuttgarter Treffen für die Hilfsbereitschaft der Ökumene und künftigen Beziehungen zu ihr. Das machte den deutschen Kirchenvertretern deutlich, dass ohne eindeutiges Schuldbekenntnis keine erneuerten Beziehungen zur Ökumene erreichbar waren.
Vorläufer und Vorentwürfe
Noch ohne ökumenisches Drängen hatten Bodelschwingh und Hans Asmussen im Mai und Juni 1945 erste persönliche Schulderklärungen veröffentlicht. Hinzu kamen Privatinitiativen einiger Pastoren. So sandte Pfarrer Gottlieb Funcke an Wurm einen Entwurf, in dem die Gräueltaten an den Juden den ersten und ausführlichsten Platz erhielten:[15]
- Über die führenden Missetäter ist das längst verdiente Strafgericht hereingebrochen. Aber auch der letzte im deutschen Volk muß jetzt erkennen, dass unser Volk in seiner Gesamtheit schuldig geworden ist.
Danach zählte er die Vernichtungslager auf, in denen Juden ermordet wurden, wies auf „Grausamkeiten gegen deutsche, polnische, russische und vor allem jüdische Menschen" hin und wies nach Hermle die damals übliche „Ausrede" Davon haben wir nichts gewusst zurück:
- Aber bekannt war die unmenschliche Misshandlung des deutschen Judentums. Indem wir sie duldeten, sind wir mehr oder weniger mitschuldig geworden.
Funcke sprach die Verantwortung der Deutschen für die Überlebenden des Holocaust an, denen man das Versprechen einer neuen Lebensgemeinschaft unter den „Leitsternen“ von Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit schulde.
Bischof Wurm hatte im Juli ein „Wort an die Christenheit im Ausland“ entworfen, das im Oktober zusammen mit der Stuttgarter Erklärung veröffentlicht wurde. Darin gestand er die Schuld der Deutschen am Kriegsausbruch ein, wies aber den Siegermächten zugleich die Verantwortung dafür zu, dass Hitler überhaupt zur Macht gelangen konnte. Er sah die Kirche in der Opferrolle, die nur unter Lebensgefahr Protest wagen konnte:[16]
- Wir verurteilen insbesondere die Geiselmorde und den Massenmord an den deutschen und polnischen Juden. Wir Christen in Deutschland haben sehr darunter gelitten, daß solche Dinge den deutschen Namen schändeten und die deutsche Ehre befleckten.
In diesen Aussagen wurden drei später immer wiederkehrende Argumentationsmuster deutlich:
- Die Kirche wurde so dargestellt, als habe sie als Ganze wenigstens manchmal gegen Unrecht protestiert, sei aber vom Staat daran gehindert worden. Verschwiegen wurde, dass es nur einzelne Protestanten waren, die Rechtsbruch benannten und dagegen aufstanden.
- Die Staatsmaßnahmen gegen die Kirche und die Beschneidung ihres öffentlichen Einflusses wurden mit dem Judenmord in einer Reihe aufgezählt. So sah man sich eher als Opfer neben Opfern denn als Mitverursacher des Holocaust. Das Wort sollte erklären, weshalb die Kirche dazu nichts sagen konnte. Dass sie auch dann sehr wenig dazu gesagt hätte, wenn man sie gelassen hätte, wurde nicht als Schuld erkannt.
- Eine spezifische Schuld der Kirche kam nicht vor. Ihren Anteil am Aufstieg der Nationalsozialisten erörterte Wurm nicht. Für den Zusammenhang zwischen kirchlichem Antijudaismus und Antisemitismus fehlte ihm das Gespür. Stattdessen redete er in traditioneller Solidarisierung mit dem Nationalismus über die Kränkung der „deutschen Ehre“.
Der endgültige Wortlaut der Stuttgarter Erklärung entstand aus einem Textentwurf von Otto Dibelius, einem Formulierungsvorschlag von Hans Asmussen sowie aus Passagen einer Rede von Martin Niemöller über Jeremia 14,17-21. Er war auch derjenige, der die letzte Fassung aus den vorliegenden beiden Entwürfen erstellte und - gegen das Zögern von Dibelius - durch eine energische Intervention dafür sorgte, dass der Kernsatz der Erklärung („Durch uns ist unendliches Leid über viele Länder und Völker gebracht worden …“) aus Asmussens Vorentwurf in den Text aufgenommen wurde.
Innenpolitische Situation
Verlauf der Stuttgarter Treffens
Reaktionen und Wirkung
in Deutschland
Die Stuttgarter Erklärung wurde am 27. Oktober zuerst im Kieler Kurier, einer Zeitung der britischen Militärregierung, veröffentlicht; vier Tage später auch in der Hamburger Neuen Presse. Beide Artikel standen unter der Überschrift:[17] Schuld für endlose Leiden. Evangelische Kirche bekennt Deutschlands Kriegsschuld. Es folgten der volle Wortlaut der Erklärung mitsamt den Namen ihrer Unterzeichner und Adressaten.
Die Veröffentlichung löste ungeheure Empörung aus. In der damaligen Lage - über 10 Millionen Menschen waren vertrieben oder geflohen, Millionen in die Kriegsgefangenschaft deportiert, Gewalttaten der Roten Armee bekannt geworden - stieß die Erklärung meist auf Unverständnis und heftigen Widerspruch, selten auch auf Zustimmung.[18] Ihre Entstehungsumstände waren in der Bevölkerung weitgehend unbekannt, zumal die EKD-Führung den Gemeinden den Wortlaut erst viel später bekannt machte.
Mit der „deutschen Kriegsschuld" stellten die Zeitungen ein Thema in den Vordergrund, das in der Erklärung weder vorkam noch primär gemeint war. Da am 19. Oktober auch die Nürnberger Prozesse gegen deutsche Kriegsverbrecher eröffnet worden waren, verstand man die Erklärung weithin - gerade auch unter evangelischen Christen - als einseitiges Zugeständnis an eine vom Ausland aufgenötigte Siegerjustiz und „Verrat" an deutschen Interessen. Typisch war z.B. die Reaktion des schleswig-holsteinischen Präses Wilhelm Halfmann:[19]
- Die polnischen Greuel, die Frauenschändungen, die Vernichtung der mittel- und osteuropäischen Kulturlandschaft mit ihrem Reichtum an Lebensmitteln, die Vertreibung der Millionen - kurz der beispiellose Volksmord, der jetzt vor sich geht - ist der keine Schuld? Solange darüber verlegen verschwiegen wird, solange hat man drüben keine Vollmacht, von deutscher Schuld zu reden.
So distanzierte man sich von den Vertretern der eigenen Kirche wie von feindlichen Vaterlandsverrätern.
Von anderer Seite wurde der Erklärung gerade der Mangel an politischer Konkretion vorgeworfen, da sie keinen expliziten Hinweis auf die Schuld der Deutschen und der Kirchen an Holocaust und Krieg enthielt. Autoren wie Otto Dibelius verstanden sich ausdrücklich als Antisemiten und empfanden damals keine besondere Verantwortung der Kirche für den Holocaust. Gerade der von Niemöller eingefügte Kernsatz blieb jahrelang umstritten und war Stein des Anstoßes für viele konservative Lutheraner, die hier die traditionelle Unterscheidung von Kirche und Staat vermissten und dem Staat allein die Verantwortung für Krieg und Völkermord zuweisen wollten.
Kritisiert wurde auch die komparativische Formulierung („… nicht mutiger bekannt …“), die den Indikativ „wir haben mutig bekannt“ gedanklich voraussetzt. Fast dieselbe Formulierung hatte die Junge Kirche, eine der BK nahestehendes Kirchenblatt, 1939 zum „50. Geburtstag des Führers“ verwendet:[20]
- Der Christ, der das Walten der Vorsehung und den Schritt des Allmächtigen ehrfürchtig in den Wandlungen der Weltzeit spürt, vernimmt den Aufruf, im Alltag und Sonntag treuer zu glauben, inniger zu lieben, stärker zu hoffen, fester zu bekennen: So allein kann sich zeigen, was an dem christlichen Glauben echt ist...
Deshalb kritisierten Vertreter der BK wie Hermann Diem die Voraussetzung, man habe mutig bekannt, nur nicht genug, als den Tatsachen des Kirchenkampfes völlig unangemessenes Eigenlob.
in der Ökumene
Nach der Verlesung war es dem anglikanischen Bischof George Bell vorbehalten, den Hauptmangel der Erklärung anzudeuten, indem er an den Widerstand seines engen Freundes Dietrich Bonhoeffer erinnerte und hinzufügte:
- Kein Mensch kann sich diesem Unmaß an Grausamkeit verschließen, welche an den Juden, den Verschleppten und den politischen Personen, beinahe Millionen von Sklaven angetan wurde. Auch jetzt sind wir sehr erregt über die gegenwärtig erfolgenden Ausweisungen aus dem Osten.
Bell hatte das Ausmaß der Vergasungen noch nicht vor Augen, hob aber die Juden hervor und sprach die aktuell nötige Solidarität mit ihnen an. Seine Äußerung über die „gegenwärtig erfolgenden Ausweisungen aus dem Osten“ bezog sich primär auf die nach dem Krieg einsetzende Vertreibung von Juden, die den Krieg überlebt hatten, aus Polen, aber auch auf die Vertreibung von Millionen Deutschen aus dem Sudetenland sowie den Gebieten östlich von Oder und Neiße, gegen die sich Bell um diese Zeit in Großbritannien wandte. Doch auch er ließ offen, was die Kirche beigetragen hätte, dass es zu dieser Grausamkeit kommen konnte, und welche besonderen Aufgaben über allgemeine menschliche Betroffenheit hinaus daraus in Zukunft zu folgern wären.
Deutungen der Erklärung
Weitere Folgen
In den folgenden Jahren zeigte sich, dass die Stuttgarter Erklärung nicht geeignet war, den Prozess der Aufarbeitung des kirchlichen Versagens in Deutschland zu fördern. Sie trug im Gegenteil zu einer raschen Selbstberuhigung und Hinwendung zu restaurativen Tendenzen bei.
Das Darmstädter Wort von 1947 versuchte erstmals, die weitergehenden historischen Ursachen des Holocaust und die kirchlichen Anteile daran zu thematisieren. Auch darin wurden der Holocaust und Antijudaismus noch nicht genannt. Entscheidende Anstöße für diese Aufarbeitung gab erstmals die „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag", die 1961 gegen den Widerstand der meisten Autoren der Stuttgarter Erklärung im Auftrag der EKD gegründet wurde.[21]
Quellen
- ↑ Wolfgang Gerlach, Als die Zeugen schwiegen S. 378
- ↑ Werner Koch, Der Kampf der Bekennenden Kirche im Dritten Reich, in: Beiträge zum Thema Widerstand 4, Informationszentrum Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstr., Berlin 1974
- ↑ Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer S. 684ff
- ↑ Günter Brakelmann, Evangelische Kirche und Judenverfolgung S. 75
- ↑ Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen S. 55
- ↑ Hans Prolingheuer, Wir sind in die Irre gegangen S. 78
- ↑ Hans Prolingheuer, Kleine politische Kirchengeschichte S. 95
- ↑ Gerhard Besier, Gerhard Sauter, Wie Christen ihre Schuld bekennen, S. 46, Anmerkung 29
- ↑ Siegfried Hermle, Evangelische Kirche und Judentum S. 262
- ↑ G. Besier, a.a.O. S. 13
- ↑ Martin Greschat, Im Zeichen der Schuld S. 10
- ↑ G. Besier, a.a.O. S. 17
- ↑ G. Besier, a.a.O. S. 17
- ↑ G. Besier, a.a.O. S. 24ff
- ↑ S. Hermle, a.a.O. S. 266
- ↑ S. Hermle, a.a.O. S. 265
- ↑ Klauspeter Reumann: Kirche und Nationalsozialismus S. 381
- ↑ Heinz Eduard Tödt: Umgang mit Schuld im kirchlichen Bekenntnis und in der Justiz nach 1945, in: Wolfgang Huber, Positionen und Profile im Nachkriegsdeutschland S. 123ff
- ↑ K.P. Reumann, a.a.O. S. 392
- ↑ H. Prolingheuer, a.a.O. S. 94
- ↑ S. Hermle, a.a.O. S. 11
Literatur
- Gerhard Besier, Gerhard Sauter: Wie Christen ihre Schuld bekennen. Die Stuttgarter Erklärung 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985, ISBN 3525521812
- Walter Bodenstein: Ist nur der Besiegte schuldig? Die EKD und das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945. Ullstein, Frankfurt/Main - Berlin 1986, ISBN 3-548-33065-7
- Armin Boyens: Kirchen in der Nachkriegszeit. Vier zeitgeschichtliche Beiträge. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, ASIN 3525557086
- Günter Brakelmann: Evangelische Kirche und Judenverfolgung. Drei Einblicke. Darin: Kirche und die Frage der Mitschuld 1945-1950. (S. 67-95) Hartmut Spenner Verlag, Waltrop 2001, ISBN 3-933688-53-1
- Martin Greschat (Hrsg.): Im Zeichen der Schuld: 40 Jahre Stuttgarter Schuldbekenntnis, eine Dokumentation. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1985, ISBN 3-7887-0779-8
- Siegfried Hermle: Evangelische Kirche und Judentum - Stationen nach 1945. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, ISBN 3-525-55716-7
- Brigitte Hiddemann (Hrsg.): Das Stuttgarter Schuldbekenntnis: 1945 - 1985. Evangelische Akademie, Mülheim/Ruhr 1985
- Peter Longerich: „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945. Siedler, München 2006, ISBN 3-88680-843-2 (Rezensionen).
- Hans Prolingheuer: Kleine politische Kirchengeschichte. 50 Jahre evangelischer Kirchenkampf. Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1984, ISBN 3760908705
- Hans Prolingheuer: Wir sind in die Irre gegangen. Die Schuld der Kirche unterm Hakenkreuz. Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln 1987, ISBN 3760911447
- Klauspeter Reumann: Kirche und Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte des Kirchenkampfes in Schleswig-Holstein. Karl-Wachholz-Verlag, Neumünster 1988, ISBN 3529028363
Siehe auch
- Entnazifizierung
- Zur katholischen Kirche unter Papst Pius XII. (Eugenio Maria Giuseppe Giovanni Pacelli
- Reichskirche unter Reichsbischof Ludwig Müller