Ken Wilber
Kenneth ("Ken") Earl Wilber Jr. (* 31. Januar 1949 in Oklahoma City, Oklahoma, USA) ist ein amerikanischer Philosoph und interdisziplinärer Denker. Er lebt und arbeitet in Denver (Colorado).
Person
Ken Wilber befasst sich mit der Zusammenführung von Wissenschaft und Religion, den Erfahrungen der Mystiker und der Meditation mit denen der modernen Forschung. Er gilt als einer der Hauptvertreter einer so genannten 'Transpersonalen Psychologie', obwohl er sich von dieser längst distanziert hat, weil Teile seiner Überlegungen nicht mehr mit dieser Richtung übereinstimmen[1].
Wilbers Denken fußt auf den Ideen von Plotin, Meister Eckhart, Sri Aurobindo, des deutschen Idealismus, des tibetischen Buddhismus, Jean Gebser, Jürgen Habermas, Jean Piaget, Lawrence Kohlberg und vieler anderer. Er will die Stärken und Schwächen verschiedener weltanschaulicher und philosophischer Richtungen aufzeigen und einen theoretischen Rahmen entwickeln, in dem verschiedene Traditionen Platz haben. Deshalb trägt diese Denkrichtung die Bezeichnung Integrale Theorie.
Wilbers ca. 20 Bücher wurden bisher in 30 Sprachen veröffentlicht.
Denken
Sein Hauptwerk ist das 1995 erschienene 'Eros Kosmos Logos' (Originaltitel: Sex, Ecology, Spirituality). Wilber befasst sich darin im weitesten Sinne mit Systemtheorien. Dabei werden Grenzen zwischen Wissenschaftszweigen überschritten. Das Buch behandelt auf Seite der Wissenschaften vornehmlich Teile der Physik, Biologie, Soziologie, Psychologie und Wissenschaftsgeschichte. Darüber hinaus fließen aber auch religiöse und esoterische Gedanken in Wilbers Denken ein. Sein Ziel ist es, eine „Theorie von allem“ zu erstellen.
Er bemüht sich, miteinander konkurrierende Denkschulen zu versöhnen und somit Synthesen herzustellen.
Holons
Am Beginn von Wilbers Überlegungen steht die Frage, aus welchen "Dingen" die Welt aufgebaut sei. Seit der Antike ist dies ein zentrales philosophisches bzw. naturwissenschaftliches Problem. Thales von Milet sieht im Wasser den Urstoff, da jenes ihm als besonders dynamisch erscheint. Da dies natürlich auch für andere Moleküle gilt, führt Demokrit mit der Lehre von den Atomen einen nicht sichtbaren Urstoff ein. In der Neuzeit befasst sich unter anderem Leibniz mit diesem Thema. Für ihn ist die Welt aus Monaden aufgebaut.
Wilber versucht nun an den Anfang seiner Theorie ein "Ding" zu setzen, dass über möglichst viele verschiedene und sich ergänzende Eigenschaften verfügt. Bei ihm werden die Urstoffe als ‚Holons’ bezeichnet. Seine Grundannahme ist, dass sich die gesamte Realität aus diesen Holons zusammensetzt, mag es sich dabei um Materie, Energie, Ideen oder Prozesse handeln.
Der Atomismus geht davon aus, dass die Welt aus winzigen Ganzen aufgebaut ist, die irgendwann nicht mehr weiter teilbar sind (früher Atome, bald Strings?). Die antagonistische Denkrichtung, der Holismus, sieht die Dinge nur als Teile eines größeren Ganzen an, welches in seiner Gesamtheit die Realität darstelle. Wilber versucht nun eine Synthese zu schaffen, indem er Holons als Ganze/Teile definiert. Mit anderen Worten: Jedes Holon ist zwar ein Ganzes, aber gleichzeitig Teil eines weiteren Ganzen.
Beispiel: Das Holon ‚Deutschland’ (politisch) besteht aus den Subholons seiner Bundesländer und bildet gemeinsam mit anderen Staaten das Supraholon ‚EU’. Das Holon ‚Element’ besteht aus den Subholons ‚Atomen’ und kann gemeinsam mit anderen Holons der gleichen Ebene (nicht Typs) das Supraholon ‚Molekül’ bilden.
In den Holons wirken bestimmte Kräfte oder Eigenschaften. Wilber zieht dazu mehrere dualistische Unterscheidungsmerkmale heran. Letztere stellten meistens bei einem philosophischen Vorgängermodell das ausschließliche Kriterium dar, beispielsweise innen/außen (Leibniz' Monaden), individuell/kollektiv, autonom/abhängig et cetera.
Zunächst weist Wilber den Holons vier Grundvermögen zu, deren erste beiden als horizontale Kräfte bezeichnet sind. Damit ist die Interaktion mit Holons der gleichen Ebene gemeint (z. B. im Verhältnis souveräner Staaten oder verschiedener chemischer Elemente). Erstes Grundvermögen ist die Selbsterhaltung (Autonomie, Agenz), also diejenige Eigenschaft, welche dem Holon seinen Status als Ganzes verleiht. Zweites Grundvermögen ist die Selbstanpassung (Akkommodation, Kommunion), welches sich auf die Korrespondenz mit gleichen Holons bezieht und worin sich sein Teil-Aspekt erkennen lässt.
Beispiel: Ein Staat ist durchaus um die Wahrung seiner Existenzrechte bemüht, welche in seiner Verfassung festgeschrieben sind (Agenz), doch wird nicht umhin kommen, in eine gewisse Interaktion mit seiner Umwelt, also anderen Staaten, zu treten (Kommunion).
Gibt es in einem System zu viel Agenz oder zu viel Kommunion, treten Pathologien auf. Dies wiederum hat die beiden anderen Grundvermögen eines Holons zur Folge, welche als vertikale Kräfte bezeichnet werden. Drittes Grundvermögen ist die Selbsttranzendenz, also der Zusammenschluss mit anderen Holons der gleichen Ebene zu einem neuen, höheren Supraholon. Viertes Grundvermögen ist parallel dazu die Selbstauflösung, welchen den Zerfall eines Holons in seine Subholons zur Folge hat.
Beispiel: Mehrere autonome Stadtstaaten werden von einem starken äußeren Imperium bedroht. Die Städte sind bereit bis zu einem gewissen Grad miteinander zu kooperieren (Kommunion), wollen aber ihre Selbstständigkeit beibehalten (Agenz). Ist der äußere Gegner besonders stark, funktioniert dieses System nicht mehr. Übertreiben es die Städte mit der Agenz und schicken ihren Verbündeten nicht genügend Krieger, werden sie nacheinander in das Imperium eingereiht (nennen wir dieses Persien). Eine zu starke Kommunion würde auftreten, wenn die Städte ihrem eigenen mächtigsten Vertreter (nennen wir diesen Athen) zu viel Macht bei der Abwehr des Imperiums zubilligen und dabei schließlich ihre Autonomie verlieren. In beiden Fällen käme es zu einer Auflösung der Stadtstaaten, die ihren politischen Charakter verlören. Etwas ganz anderes aber wäre es, wenn sich die Städte zu einem interurbanen Bund gegen das Imperium zusammenschlössen. Sie würden zwar einen Teil ihrer Befugnisse an eine höhere Ebene abgeben, aber dennoch autonom bleiben. Dies würde eine Transzendenz darstellen.
Holarchien
Die Holons bilden Systeme. Moleküle sind komplexer als Atome, sie haben im Wilberschen Sprachgebrauch damit eine größere Höhe. Dafür gibt es aber im Universum sehr viel mehr Atomen als Moleküle, was er als größere Spanne bezeichnet. Je komplexer Holons durch Evolution werden ( Atomen- Moleküle- Zellen-Organismen usw.), desto seltener können diese auftreten.
Höhere Ebenen müssen immer ihre unteren Ebenen umfangen. Wenn sich die Atomen eines Moleküls auflösen, kann auch dieses nicht mehr existieren. Wird hingegen ein Wasser-Molekül aufgespalten, bleiben immer noch die Wasser- und Sauerstoffatome bestehen. Die Holons der höheren Ebenen mögen also bedeutender sein, die der niedrigen sind dafür grundlegender.
Wilber versucht möglichst grundlegende Ebenen von einander zu unterscheiden. Dazu wird die Welt in Physiosphäre (Materie), Biosphäre (Leben) und Noosphäre (Verstand) unterteilt. Theoretisch müsste es darüber noch weitere Ebenen geben, die man stellvertretend als Theosphäre bezeichnen könnte. Dieses wäre aber nur das gröbste denkbare Schema, da sich zum Beispiel die Physiosphäre unter anderem in Atome, Elemente und Moleküle untergliedern ließe.
Nun wird mit der Unterscheidung zwischen Individuum und seiner Umwelt, also dem Kollektiv, eine quantitative Größe eingefügt. Zum Beispiel wären in dem kollektiven Holon ‚Staat’ die einzelnen Menschen das individuelle Holon ‚Bürger’. Zwischen beiden Größen besteht immer eine Abhängigkeit: Soll das kollektive Holon eine Evolution durchlaufen, muss dies auch für sein individuelles Pendant gelten (Koevolution).
Der Austausch zwischen Individuum und Kollektiv muss auf allen holarchischen Ebenen erfolgen. Man nehme das Holon ‚Mensch’: In der Physiosphäre besteht dieser aus Materie, die sich in unserem Planeten auf kollektiver Ebene wiederfindet. In der Biosphäre basiert sein Körper auf Zellen, die einem Metabolismus unterworfen sind. Pendant wäre hierbei das biologische Umfeld, also die Familie und der Stamm einerseits und das restliche Ökosystem andererseits. In der Noosphäre hat er mittels Symbolen und Begriffen die Fähigkeit zu denken. Durch die kollektive Entsprechung, also die Gesellschaft, kann dieses auch nach seinem biologischen Tod durch Schrift und Edukation reproduziert werden.
Kleine individuelle Holons wie Atome kommen häufig im Universum vor, sie besitzen also eine große Spanne. Dafür besitzen sie nur eine geringe Höhe, da sie nicht sonderlich komplex aufgebaut sind. Ihr kollektives Pendant wäre die Galaxie, bei der dieses ebenso der Fall ist: Die Gesamtmasse aller Galaxien ist natürlich größer als die der Planeten, da letztere Teil von ersteren sind. Galaxien haben also ebenso eine große Spanne bei geringerer Komplexität und befinden sich somit auf einer niedrigen Ebene. Wird nur die bloße Anzahl der kollektiven Holons verglichen, verhält sich diese genau umgekehrt im Verhältnis mit den individuellen Pendants. Es stehen viele Atome wenigen Molekülen gegenüber, aber wenige Galaxien vielen Planeten.
Quadranten
Schließlich billigt Wilber den Holons noch eine weitere Eigenschaft zu: Sie verfügen über ein Inneres und ein Äußeres. Dieses Denken berührt zum Beispiel Kants ‚Ding an sich’, welches der Realität zu Grunde liege.
Das innere Holon ‚Moral’ ist zum Beispiel nicht direkt für unser Bewusstsein erfassbar. Wir können aber durch das äußere Holon ‚Rechtssystem’ sehr wohl eine materielle Entsprechung davon erstellen. Diese mag nicht immer mit seinem Pendant übereinstimmen, kann sich aber diesem annähern. Empirische Wissenschaften wie die Physik, die Biologie oder die Soziologie untersuchen die äußerlich messbaren Holons, während das hermeneutische Denken (zum Beispiel Moral- oder Geschichtsphilosophie) sich durch Überlegung den inneren Holons zuwendet.
Der Dualismus Innen/Außen lässt sich nun mit dem bereits angesprochen Begriffspaar Individuell/Kollektiv verknüpfen. Dadurch erhält man ein Modell bestehend aus vier Quadranten. Wiederum stehen die Holons der gleichen Ebene miteinander in Verbindung.
Beispiel: Der Mensch der Frühgeschichte hatte irgendwann die Sprache erlernt. Dazu war allerdings das innerlich-individuelle Holon ‚Begriff’ nötig. Damit dieses überhaupt gedacht werden konnte, musste er bereits ein entsprechendes Gehirn entwickelt haben. Auf dem äußerlich-individuellen Sektor befindet sich deshalb das Holon ‚komplexer Neokortex’. Damit die Sprache weitergegeben werden konnte, musste der Mensch in einer sesshaften Gemeinschaft leben, welche durch das äußerlich-kollektive Holon ‚Stammesdorf’ repräsentiert wird. Dazu musste es aber kulturelle Faktoren geben, welche dieses zusammenhielten. Die Schamanen benutzen deshalb bestimmte Rituale, welche den Menschen versicherten, die Welt bis zu einem gewissen Grad kontrollieren zu können. Diesen Entwicklungszustand kann man nach Piaget als ‚magisch’ bezeichnen, was das entsprechende innerlich-kollektive Holon wäre.
Alle vier Quadranten bedingen sich gegenseitig, so dass sich die Frage nach dem ursprünglichsten Sektor erübrigt. Damit wird auch der Streit zwischen Idealismus und Materialismus umgangen.
Klassifikation
Wegen der Betonung der Wichtigkeit von spirituellen Ebenen wird Wilber manchmal der Esoterik zugeordnet. Nach Meinung von Kennern seines Gesamtwerks trifft dies jedoch nur auf die erste Phase seiner Arbeit zu (bis 1979).
Quellen
Werke
Vorbemerkung: Werke mit * sind besonders geeignet zum Einstieg und Überblick
- 1977 The Spectrum of Consciousness (dt.: Spektrum des Bewusstseins)
- 1979 No Boundary: Eastern and Western Approaches to Personal Growth (dt.: Wege zum Selbst)
- 1980 The Atman Project: A Transpersonal View of Human Development (dt.: Das Atman Projekt)
- 1981 Up from Eden: A Transpersonal View of Human Evolution (dt. Halbzeit der Evolution)
- 1982 The Holographic Paradigm and Other Paradoxes: Exploring the Leading Edge of Science (dt. Das holografische Weltbild)
- 1983 A Sociable God: A Brief Introduction to a Transcendental Sociology (dt.: Der glaubende Mensch)
- 1983 Eye to Eye: The Quest for the New Paradigm (dt.: Drei Augen der Erkenntnis)
- 1984 Quantum Questions: Mystical Writings of the World's Great Physicists
- 1986 Transformations of Consciousness: Conventional and Contemplative Perspectives on Development (co-authors: Jack Engler, Daniel Brown) (dt.: Transformation des Bewusstseins)
- 1987 Spiritual Choices: The Problem of Recognizing Authentic Paths to inner Transformation (co-authors: Dick Anthony, Bruce Ecker) (dt.: Meister, Gurus, Menschenfänger ISBN 3810501115, Tb. ISBN 3596138256)
- 1991 Grace and Grit: Spirituality and Healing in the Life of Treya Killam Wilber (dt.: Mut und Gnade ISBN 3442427401)
- 1995 Sex, Ecology, Spirituality: The Spirit of Evolution (dt.: Eros, Kosmos, Logos ISBN 3596149746)
- 1996 *A Brief History of Everything (dt.: Eine kurze Geschichte des Kosmos ISBN 3596133971)
- 1997 The Eye of Spirit: An Integral Vision for a World Gone Slightly Mad (dt.: Das Wahre, Schöne, Gute ISBN 3596152178)
- 1998 The Essential Ken Wilber - An Introductory Reader
- 1998 The Marriage of Sense and Soul: Integrating Science and Religion (dt.: Naturwissenschaft und Religion ISBN 3810523348)
- 1999 One Taste: The Journals of Ken Wilber (dt.: Einfach Das ISBN 3596150728)
- 2000 Integral Psychology: Consciousness, Spirit, Psychology, Therapy (dt.: Integrale Psychologie ISBN 3924195692)
- 2000 *A Theory of Everything: An Integral Vision for Business, Politics, Science and Spirituality (dt.: Ganzheitlich handeln ISBN 392419579X)
- 2001 Speaking of Everything (2-stündiges Audio-Interview auf CD)
- 2002 Boomeritis - A Novel That Will Set You Free ISBN 1570628017 (Taschenbuchausgabe 2003 ISBN 1590300084)
- 2003 Kosmic Consciousness (12 hour audio interview on ten CDs) ISBN 1591791243
- 2004 Mit Cornel West, Kommentar zu The Matrix, The Matrix Reloaded und The Matrix Revolutions in The Ultimate Matrix Collection
- 2005 Im Auge des Hurrikans bist du sicher: Erfahrungen und Reflexionen ISBN 345105549X
- 2005 *The Integral Operating System (a 69 page primer on AQAL with DVD and 2 audio CDs) ISBN 1591793475
- 2006 Mit Hans Jellouschek und Peter Schellenbaum, Was heilt uns? Zwischen Spiritualität und Therapie ISBN 3451056844
- 2006 Integral spirituality: a startling new role for religion in the modern and postmodern world ISBN 1590303466
- The Many Faces of Terrorism (in Vorbereitung)
- Kosmic Karma and Creativity: Volume Two of the Kosmos Trilogy (in Vorbereitung)
Sekundärliteratur
- Frank Visser: Ken Wilber. Denker aus Passion. 2002, ISBN 393648600X
- Wulf Mirko Weinreich: Integrale Psychotherapie. Ein umfassendes Therapiemodell auf der Grundlage der Integralen Philosophie nach Ken Wilber. 2005, ISBN 3936149543
Weblinks
- Ken Wilbers offizielle Homepage (englisch)
- deutsche Website des "Arbeitskreises Ken Wilber"
- Dirk Hübner: Nikolai Berdjajew kontra Ken Wilber - Von der personalen Wahrheit - Eine kritische Auseinandersetzung mit Ken Wilbers Buch: „Das Wahre, Schöne, Gute“ (Kritik in starker Anlehnung an Nikolai Berdjajew)
Personendaten | |
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NAME | Wilber, Ken |
ALTERNATIVNAMEN | Wilber, Kenneth Earl |
KURZBESCHREIBUNG | amerikanischer Autor |
GEBURTSDATUM | 31. Januar 1949 |
GEBURTSORT | Oklahoma City, Oklahoma, USA |