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Ritualmordlegende

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Darstellung eines angeblichen Ritualmordes von Juden am Kind Simon von Trient im Jahr 1475, aus der Weltchronik Hartmann Schedels von 1493

Eine Ritualmord-Legende (auch: Blutanklage, Blutbeschuldigung, Blutgerücht, englisch blood libel) sagt bestimmten, gesellschaftlich abgelehnten Minderheiten Ritualmorde an Angehörigen der eigenen Mehrheitsgruppe, meist Kindern, nach. Sie dient zur Verleumdung der behaupteten Tätergruppe, rechtfertigt und bewirkt ihre Unterdrückung und Verfolgung. Ihre Kolporteure greifen oft unaufgeklärte Entführungen, Unglücks- und Todesfälle auf und bieten dafür Sündenböcke an. Solche Legenden sind nicht nur als im Aberglauben verwurzelte Volkssagen anzutreffen, sondern werden auch von religiösen, staatlichen, regionalen oder lokalen Interessengruppen gezielt zur Propaganda konstruiert und genutzt. Oft ergeben sich daraus Pogrome, Lynch- und Justizmorde.

Überblick

Vorwürfe von rituellen Kindesmorden und Menschenverzehr erhoben verschiedene Völker und Religionen der Antike gegen ihnen fremde ethnische und religiöse Minderheiten: sei es aus Xenophobie, sei es, um deren Verfolgung zu rechtfertigen.

Für das Judentum kennzeichneten Kindesmord und Kannibalismus den Götzendienst der Fremdvölker. Im Hellenismus brachten gerade gebildete Griechen und Römer solche Gerüchte gegen das Judentum, später auch das Christentum in Umlauf. Im Christentum tauchten ähnliche Vorwürfe zunächst gegen manche gnostischen Sekten wie die Montanisten auf. Gegenüber Juden wurde der Vorwurf in der Spätantike nur sehr selten erhoben, spielte dann aber bereits auf das etablierte Dogma vom Gottesmord an.

Erst seit dem Hochmittelalter breiteten sich Ritualmordanklagen im von der Katholischen Kirche geprägten Europa aus und wurden dann zum festen Bestandteil der Verfolgung Andersgläubiger: meist Juden, seltener auch sogenannter Ketzer und Hexen. Später schrieben Katholiken auch Protestanten und Freimaurern solche Praktiken zu, während die Puritaner dies Katholiken zutrauten.[1]

Der christliche Ritualmordvorwurf gegen Juden kam im 12. Jahrhundert auf. Die angebliche Gier nach dem Blut von Christenkindern, das Juden für ihre Mazzen beim Pessach, zu verschiedenen magischen oder medizinischen Zwecken bräuchten, gehört zu den hartnäckigsten Stereotypen des christlichen Antijudaismus. Solche Anklagen endeten meist tödlich für die so Beschuldigten, ihre Angehörigen und Gemeinden. Seine Wirkung bezog diese Legende aus einer Kombination von kirchlicher Indoktrination, Aberglauben, durch viele Faktoren bewirkter wirtschaftlicher Not, sozialer Unzufriedenheit und apokalyptischen Ängsten.

Die antijudaistische Legende gelangte von England über Spanien und Frankreich in den deutschsprachigen Raum (13. Jahrhundert). Von dort wanderte sie nach Italien, Polen und Litauen (16. Jahrhundert), schließlich nach Russland (18. Jahrhundert) und in das Osmanische Reich (19. Jahrhundert). Sie überdauerte das Zeitalter der Aufklärung und erlebte parallel zum Antisemitismus von 1800 bis 1914 in Mittel- und Osteuropa einen neuen Aufschwung. Die Nationalsozialisten benutzten sie zur systematischen Volksverhetzung in der Vorbereitung des Holocaust. Gegenwärtig lebt sie vor allem in arabisch-islamischer Propaganda gegen Juden fort.

Ritualmord-Gerüchte wurden im 19. Jahrhundert in China, Indien und Madagaskar auch gegen Europäer verbreitet. Heute richten sie sich außer gegen Juden noch - meist von christlichen Fundamentalisten in den USA - gegen Satanisten und Abtreibungs-Befürworter.[2]

Antike

Das Judentum kannte in alter Zeit noch ein Opfer des ersten Kindes (2. Chr 33,6; 2. Kön 23,10), das die Tora streng und wiederholt verbietet (Ex 13,2.12f; 22,28f; 34,19f; Num 3,1ff; 18,15; Dtn 15,19) und mit Todesstrafe (Lev 20,2-5) bedroht. Die Propheten verurteilten Menschenopfer als Götzendienst (Jes 57,5; Jer 7,31; 32,35; Ez 16,20; 23,37) und tabuisierten sie so. Die apokryphe Weisheit Salomos rechtfertigte damit im 1. Jahrhundert v. Chr. die Ausrottung der Kanaanäer (12,4ff. u.a.). Eventuell schon in der Väterzeit 1200 v. Chr., spätestens bis 800 v. Chr. ersetzte die jüdische Religion Menschenopfer durch Tieropfer. Auch diese reglementiert die Tora streng und verbietet Juden u.a. den Blutgenuss, da im Blut das Leben sei und dieses ausschließlich dem Schöpfergott JHWH gehöre (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26f; 17,10-14). Damit wurde ein Hauptgrund für Opfer - das Hingeben und Einverleiben fremder Lebenskraft - entkräftet.

Auch in Griechenland wurden Menschenopfer bis etwa 480 v. Chr. abgewertet und verboten. Doch zugleich wurden manche Andersgläubige und Fremde mit Vorwürfen geheimer Menschenopfer-Riten dämonisiert. Poseidonius (135-51 v. Chr.) begründete die Hellenisierungspolitik der Seleukiden mit einem angeblichen jüdischen Brauch des Kindopfers. Apion, Sophist aus Alexandria, behauptete in seinem Geschichtswerk Aegyptiaca, Antiochos IV. Epiphanes habe im Jerusalemer Tempel einen Griechen gefesselt aufgefunden, den die Juden als jährliches Menschenopfer für ihren Gott gemästet hätten.[3] Er verleumdete laut Flavius Josephus (Contra Apionem, 94) um 40 n. Chr. gezielt das Judentum, um jüdischen Widerstand gegen die Vergötterung des Kaisers Caligula zu brechen. Nach dem byzantinischen Lexikon Suda (ca. 960 n. Chr.) überlieferte ein unbekannter Grieche namens Democritus um 100 v. Chr., dass Juden alle sieben Jahre griechische Knaben als Opfer schlachten.[4] Derartige Invektiven waren Teil der im hellenistischen Bildungsbürgertum besonders im 1. Jahrhundert üblichen antiken Judenfeindschaft.

Im Zuge der Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich nahmen regionale und staatliche Christenverfolgungen zu. Die Gegner der Christen sagten ihnen u.a. neben sexuellen Orgien, Inzest und Schadenszauber nach, Neugeborene und Kleinkinder zu entführen, um diese heimlich rituell zu töten und zu verspeisen. So beschrieb der Christ Minucius Felix in seinem Dialog Octavius um 200 die Sicht der Römer:[5]

Ein Kind, mit Teigmasse bedeckt, um die Arglosen zu täuschen, wird dem Einzuweihenden vorgesetzt. Dieses Kind wird von dem Neuling durch Wunden getötet, die sich dem Auge völlig entziehen; er selbst hält durch die Teighülle getäuscht die Stiche für unschädlich. Das Blut des Kindes - welch ein Greuel! - schlürfen sie gierig, seine Gliedmaßen verteilen sie mit wahrem Wetteifer. Durch dieses Opfer verbrüdern sie sich...

Solche Vorwürfe sind überwiegend aus der christlichen Apologetik bekannt, die auf gebildete Christentumsgegner wie Celsus, Sueton und Porphyrius antwortete[6], z.B. der Apologiae pro Christianis (um 150) von Justin oder dem Apologeticum Tertullians (um 194).[7] Sie verzerrten die damalige Praxis von Christen, von römischen Vätern ausgesetzte Neugeborene zu adoptieren und großzuziehen, und missdeuteten die christliche Eucharistiefeier als eine Art Kannibalismus. Die nächtlichen Feiern der Christen verstärkten das römische Misstrauen: Man glaubte, sie würden dort geheime okkulte und staatsfeindliche Praktiken üben.

Patristik

Die Kirchenväter übernahmen vom Judentum das Verbot der Menschenopfer und begründeten dieses mit dem Neuen Testament: Im Kreuzestod Jesu Christi sei Gottes Versöhnung mit der Welt geschehen (Joh 3,16). Das stellvertretende Selbstopfer des Sohnes Gottes habe alle weiteren Opfer überflüssig gemacht (Hebräerbrief 9,12; 10,10). Sie unterstellten Juden daher zunächst keine kultischen Menschenopfer.

Aber mit der These von der jüdischen Kollektivschuld am Tod Jesu, der Ablösung des erwählten Gottesvolks Israel durch die Kirche und weiterwirkenden Selbstverfluchung der Juden (Mt 27,25: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder) schufen sie die theologische Basis, auf die spätere Ritualmordlegenden sich stützen konnten.

Nach der Konstantinischen Wende beanspruchte die zur Staatsreligion des Römischen Reiches aufgestiegene Kirche auch politisch die Alleingeltung ihres Glaubens. Bald stellte fast nur noch die jüdische Minderheit ihren Absolutheitsanspruch in Frage, lehnte den Glauben an die Messianität und Göttlichkeit Jesu und Heilswirkung seines Todes ab und blieb allen Bekehrungsversuchen gegenüber resistent. Juden galten daher neben „Ketzern" als Hauptfeinde des Christentums und wurden systematisch diskriminiert.

Mit der Kirchenherrschaft wurde der Glaube an die Heilkraft der christlichen Sakramente - im orthodoxen Bereich vor allem der Ikonen, im katholischen der Eucharistie - dogmatisiert. Parallel dazu wuchs die Vorstellung, die Juden wollten und müssten aufgrund ihrer erblichen Verbindung mit Satan oder dem Antichrist die Folter und Kreuzigung Jesu Christi ständig wiederholen. Dies zeigt der Bildfrevel, den Athanasius von Alexandria (†373) den Juden von Berytos (Beirut) zuschrieb (wobei er das biblische Bilderverbot missachtete): Sie hätten Jesu Marter an einem Christusbild wiederholt. Das Bild habe begonnen zu bluten und Wunder zu wirken; dies habe die Juden zur Taufe bewegt. Diese Legende wurde später weit verbreitet und vielfach abgewandelt: etwa in der Weltchronik des Sigebert von Gembloux († 1112), aber auch im evangelischen Bereich z.B. von Hieronymus Rauscher († 1569). Sie lebt als Wallfahrtslegende in Oberried (Breisgau) bis heute fort.

Der Kirchenhistoriker Socrates Scholasticus (380 - ca. 440) berichtete in seiner Christentumsgeschichte (um 415), betrunkene Juden hätten bei einem ihrer Feste in einem syrischen Dorf einen Christenknaben aufgehängt, um den christlichen Glauben an Jesu heilvollen Kreuzestod zu verspotten. Dieser eher als Unfall beschriebene erste bekannte christliche Ritualmord-Vorwurf gegen Juden blieb ohne direkte Folgen.

Im Frühmittelalter behauptete Agobard, der Erzbischof von Lyon, im Jahr 829, Juden würden von ihnen entführte Christenkinder an die Araber zur Sklavenarbeit verkaufen. Dieser Vorwurf wurde aber noch nicht mit dem Motiv der Christusfolter und des Ritualmords verknüpft.

Hochmittelalter

1144 tauchte im englischen Norwich erstmals der Vorwurf auf, Juden hätten zum Pessachfest ein vermisstes christliches Kind - William von Norwich - entführt und gemartert wie Christus am Kreuz. Das Gerücht löste eine Anklage gegen örtliche Juden aus, die abgewiesen wurde und dann von einem Pogrom gefolgt war. Thomas von Monmouth schuf um 1173 eine Legende, die die Anklage nachträglich begründen sollte:[8]

Seinerzeit kauften die Juden vor Ostern ein Christenkind und taten ihm all die Martern an, die unser Gott erlitten hat; und zu Karfreitag hängten sie es an ein Kreuz wegen unseres Gottes und dann beerdigten sie es. Sie dachten, es würde nicht entdeckt werden, aber unser Gott offenbarte, daß der Knabe ein heiliger Märtyrer sei, und die Mönche nahmen ihn und bestatteten ihn zeremoniell im Kloster, und Dank unseres Gottes tut er großartige und vielfältige Wunder, und er wird St. William genannt.

Der Autor berief sich auf den Konvertiten Theobald von Cambridge, der ihm die innersten Geheimnisse des Judentums verraten habe: Ohne Blutvergießen könnten Juden ihre Heimat nicht wiedergewinnen. Um sich für deren Verlust und ihre Unfreiheit unter Christen zu rächen, würden sie jährlich zur Osterzeit einen Christen entführen, um an ihm auf blasphemische Weise Jesu Kreuzigung nachzuahmen und so alle Christen zu verspotten. Der Ort des Opfers werde jährlich ausgelost.

Die Legende ritualisierte einen gewöhnlichen Mordvorwurf mit Motiven, die in vielen Ritualmordanklagen der folgenden Jahrhunderte immer wieder auftraten:

  • Bezug auf den jährlichen Ostertermin,
  • Motiv des „unschuldigen Kindes"
  • Nachahmung der Kreuzigung Jesu,
  • Schuldbeweis durch Wunder, die von der Leiche des vermeintlichen Opfers ausgehen,
  • eine Verschwörungstheorie.

Der Blutgenuss und direkte Bezug zum jüdischen Passahfest fehlten noch. Die Legende sollte wundergläubige Pilger anwerben, um Einkünfte an den Ort der Verehrung zu bringen.

Das Rache- und Verschwörungsmotiv verweist auf die vorausgegangenen Pogrome der Kreuzzüge, bei denen Kreuzfahrer viele bis dahin blühenden Judengemeinden in Europa und Palästina ausgerottet hatten. Dies wurde mit dem Gottesmord gerechtfertigt, mit dem Juden ewigen Fluch und Vergeltung auf sich gezogen hätten. Bei den Massakern des Jahres 1096 im Rheinland waren sie meist zuerst verschont und vor die Wahl zwischen Taufe und Tod gestellt worden. Fast alle entschieden sich für den Tod und töteten ihre Kinder eigenhändig, um sie nicht den Christen auszuliefern, danach sich selbst. Jüdische Chroniken und Klagelieder verherrlichten dies als „Heiligung des Gottesnamens" (Qiddusch Haschem) und Nachahmung der Bindung Isaaks (Aqedah).

Auf diese Erfahrung führte der Historiker Israel J. Yuval die christlichen Blutanklagen des 12. Jahrhunderts mit zurück, während Michael Oberweis sie aus spätantiken Ketzeranklagen und Kreuzfahrerberichten herleitete, die Kreuzigungen von Christen durch Muslime erzählten.[9]

Seit der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre durch das 4. Laterankonzil im Jahre 1215 konnte sich der Vorwurf des Ritualmords mit dem des Hostienfrevels verbinden: Weil sich Wein und Brot bei der Eucharistie in das reale Blut und den Leib Christi verwandeln sollten, schrieb man der Hostie magische Kräfte zu. Ihr Missbrauch konnte im Aberglauben der Bevölkerung - vergleichbar mit Vorgängen des Voodoo-Zaubers - weitreichende Folgen haben.

Beide im 12. Jahrhundert aufgekommenen Anklagen bezogen ihre Motive nicht aus allgemeiner antiker Fremdenfeindlichkeit, sondern aus der Passionsgeschichte Jesu, dem Glaubenszentrum der Christen. Weitere Ritualmord-Anklagen folgten bald und wurden stets zur Karwoche oder nahe dem Pessach-Termin erhoben. Sie behaupteten in vielen Ausschmückungen immer die Folterung eines christlichen Knaben, die das Leiden Christi abbildete, so in:

  • 1168: Gloucester (England)
  • 1171: Blois (Frankreich). Dort fand aufgrund einer Ritualmordanklage erstmals ein Prozess gegen 34 jüdische Männer und 17 Frauen statt. Man bot ihnen Straffreiheit an, falls sie sich taufen ließen. Doch sie weigerten sich mit der Begründung, ein Religionsübertritt könne das Unrecht an ihnen nach ihrem Glauben nicht ungeschehen machen. Obwohl die Anklage nicht bewiesen werden konnte, verbrannte man sie auf dem Scheiterhaufen.
  • 1179: Paris
  • 1181: London (Rodbertus); Bury, St. Edmund, England
  • 1182: Saragossa, Aragonien (Spanien)
  • 1183: Bristol, England
  • 1192: Winchester, England
  • 1244: Londoner Juden werden erneut eines Ritualmords angeklagt, aber nicht überführt und dennoch zu hohen Geldstrafen verurteilt.
  • 1250: Saragossa (Domingo de Val)
  • 1255: Lincoln (Großbritannien): Der tote Knabe Hugh wurde nahe beim Haus eines Juden aufgefunden. Dieser wurde gefoltert, gestand, man habe ihn für einen Ritualmord beauftragt, wurde daraufhin durch die Londoner Straßen geschleift und zuletzt gehängt. 100 weitere Juden wurden in London wegen Ritualmords angeklagt: Einer wurde freigesprochen, zwei begnadigt, die übrigen 97 wurden mit oder ohne Verfahren gehängt.[10] Die angebliche Marter des Knaben Hugh stellte der Engländer Matthäus von Paris († 1259) in seiner Chronik in grausamen Details analog zur Passion Jesu dar. Auf diese Legende beriefen sich Ankläger in ähnlichen Fällen, so beispielsweise der Stadtprediger von Celle, Sigismund Hosemann, noch 1699 in seinem Pamphlet Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz.

Andere Mordanklagen gegen Juden zeigen, wie sich der Vorwurf aus seinem rituellen Kontext (Knabenentführung oder -kauf, passionsähnliche Marter, Blutopfer) löste und verselbständigte. Sie tauchten nach Leichenfunden von christlich getauften Mädchen auf:

Im 13. Jahrhundert trat - parallel zur Entfaltung einer christlichen Blutmystik - neben die Analogiebildung zum Leiden Jesu immer öfter die Behauptung, Juden bräuchten Christenblut zum Einbacken in ihre Mazzen, für Zauberei oder zur Heilung ihnen angeborener Leiden. Sie seien demnach nicht nur als Nachkommen der „Gottesmörder", sondern auch von eigenen Religionsvorschriften her genötigt, solche Morde zu begehen. Diese Blutanklage tauchte erstmals auf deutschsprachigem Boden auf:

  • 1235: In Fulda kamen am Heiligabend fünf Kinder bei einem Hausbrand ums Leben. Man beschuldigte die örtlichen Juden, sie hätten zwei der Opfer zur Gewinnung von Blut als Heilmittel ermordet. Von einer rituellen Tötung sprach diese Anklage nicht. 34 Juden wurden am 28. Dezember ohne Zeugen, Verfahren und Beweise verbrannt.

Um einen Flächenbrand ähnlicher Pogrome zu verhindern, ließ Kaiser Friedrich II. diesen Präzedenzfall von einer großen Kommission Theologen aus ganz Europa, darunter jüdischen Konvertiten, untersuchen. Das Ergebnis lautete:[11]

Weder das Alte noch das Neue Testament sagen aus, dass die Juden nach Menschenblut begierig wären. Im Gegenteil: Sie hüten sich vor der Befleckung durch jegliches Blut. Dies ergibt sich aus den Gesetzen des Moses, die hebräisch Berechet [Thora] heißen, in Übereinstimmung mit den Vorschriften, die hebräisch Talmillot [Talmud] heißen. Es spricht auch eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit dafür, dass diejenigen, denen sogar das Blut erlaubter Tiere verboten ist, keinen Durst nach Menschenblut haben können. Gegen diesen Vorwurf spricht: 1) der Horror dieser Sache; 2) dass es die Natur verbietet; 3) die menschliche Verbindung, die Juden auch den Christen entgegenbringen; 4) dass sie nicht willentlich ihr Leben und Eigentum gefährden würden.
Aus diesen Gründen haben wir im Konsens mit den regierenden Fürsten entschieden, die Juden des Reiches von dem schweren Verbrechen, dessen man sie angeklagt hat, freizusprechen und die übriggebliebenen Juden von allen Verdächtigungen frei zu erklären.

Diese rational begründete Schutzerklärung, die weitere Ritualmord-Anklagen verbot, nützte den Juden jedoch kaum. Es kam nun zu deren Häufung und überregionalen Verbreitung:

  • 1283: Mainz. Dort wurden zehn Juden durch einen Mob ohne Verfahren umgebracht.
  • 1285: München: Dort wurden nach einem Ritualmordgerücht 180 Juden - fast alle, die dort gelebt hatten - gelyncht.[12]
  • 1287: Werner von Oberwesel sollte aus religiösen Motiven von Juden ermordet worden sein. Die Legende entstand um 1288 und löste blutige Verfolgungen der Juden im ganzen Rheingebiet aus. In Bacharach wurden deswegen 26 Juden ermordet. Heinrich Heine erinnerte in seiner fragmentarischen Erzählung Der Rabbi von Bacharach an dieses Ereignis. - Um die Leiche des Jungen entstand ein Kult: Man schrieb ihr besondere Leuchtkraft zu und weigerte sich zunächst, sie zu beerdigen. Um 1370 berichtete eine lateinische Chronik, Juden hätten ihn an den Füßen aufgehängt, um eine Hostie, die er gerade verschlucken wollte, zu erlangen. Daraufhin wurde Werner als Märtyrer mit einem Fest jedes Jahr am 19., später am 18. April verehrt. Dieser Kult wurde im Bistum Trier erst 1963 eingestellt.
  • 1294: Rudolf von Bern wurde am 17. April ermordet. Als Täter wurden die Berner Juden verantwortlich gemacht. Auch er wurde später als Märtyrer verehrt.

Einige Päpste versuchten die Juden vor solchen Beschuldigungen zu schützen. Innozenz IV. (1243-1254) reagierte auf die dringende Petition einer Abordnung von Juden aus dem ganzen Reich schon 1247 mit einer Bulle an alle fränkischen und deutschen Bischöfe, die häufige Gründe der Ritualmord-Anklagen benannte:[13]

Wir haben die flehentliche Klage der Juden vernommen, dass manche kirchlichen und weltlichen Würdenträger wie auch sonstige Edelleute und Amtspersonen in Euren Städten und Diözesen gottlose Anklagen gegen die Juden erfänden, um sie aus diesem Anlass auszuplündern und ihr Hab und Gut an sich zu raffen. Diese Männer scheinen vergessen zu haben, dass es gerade die alten Schriften der Juden sind, die für die christliche Religion Zeugnis ablegen. Während die Heilige Schrift das Gebot aufstellt: Du sollst nicht töten! und ihnen sogar am Passahfest die Berührung von Toten untersagt, erhebt man gegen die Juden die falsche Beschuldigung, dass sie an diesem Feste das Herz eines ermordeten Kindes äßen. Wird irgendwo die Leiche eines von unbekannter Hand getöteten Menschen gefunden, so wirft man sie in böser Absicht den Juden zu. Es ist dies alles nur ein Vorwand, um sie in grausamster Weise zu verfolgen. Ohne gerichtliche Untersuchung, ohne Überführung der Angeklagten oder deren Geständnis, ja in Missachtung der den Juden vom apostolischen Stuhl gnädig gewährten Privilegien beraubt man sie in gottloser und ungerechter Weise ihres Besitzes, gibt sie den Hungerqualen, der Kerkerhaft und anderen Torturen preis und verdammt sie zu einem schmachvollen Tode... Solcher Verfolgungen wegen sehen sich die Unglückseligen gezwungen, jene Orte zu verlassen, wo ihre Vorfahren von alters her ansässig waren. Eine restlose Ausrottung befürchtend, rufen sie nun den apostolischen Stuhl um Schutz an ...

Er forderte daher die Adressaten auf, die Christen dazu anzuhalten, den Juden „freundlich und wohlwollend zu begegnen".

Ähnliche Schutzbullen gaben auch sein Nachfolger Gregor X. (1271-1276), später auch Martin V. (1417-1431), Nikolaus V. (1447-1455) und Paul III. (1534-1549) heraus. Doch sie hatten kaum Erfolg damit, zumal sie das Gottesmord-Dogma teilten und den Talmud und Disputationen mit Juden offiziell verboten. Sofern es zu Verfahren kam, wurden Blutanklagen oft von Priestern und Theologen formuliert und mittels der von der Inquisition zugelassenen Folter im Verhör bekräftigt. Zudem wurde das Stereotyp mittels christlicher Kunst und volkstümlichen Passionsspielen im Volksglauben verankert. Altar- und Deckengemälde in Kirchen zeigen, wie Juden den kreuzförmig ausgestreckten Leib ihres angeblichen Opfers mit Messern oder Lanzen verletzen oder schächten, ihm Blut entziehen, dieses auffangen usw.; oft auch nach einer vorherigen Beschneidung, so auf dem Herrenberger Altar von Jörg Ratgeb (1518).

Frühe Neuzeit

Ketzer und Hexen

Im 15. Jahrhundert kamen auch Ritualmord-Vorwürfe gegen sogenannte Hexen - Männer wie Frauen - auf. Ihnen wurden Praktiken vorgeworfen, die die kirchliche Inquisition seit dem 13. Jahrhundert Katharern und Waldensern unterstellt und mit der Folter „bestätigt" hatte: nächtliche orgiastische Zusammenkünfte mit Teufelsanbetungen oder Huldigungsritualen an böse Geister und Kinderopfern.

Nachdem bis dahin nur vereinzelte Klagen gegen Zauberer oder Zauberinnen laut geworden waren, wurde nun eine bedrohliche Sekte angenommen, die solche Praktiken wie „Schwarze Magie" heimlich verbreite und verabredet zur Zerstörung des Christentums ausübe. Motive wie der „Hexensabbat" (vom Schabbat), die „Synagoge“ (für den Hexentanz) und der Ritualmord stammten aus älteren Vorstellungen vom Judentum.[14]

Die Chronik des Hans Fründ aus Luzern von 1441 beschrieb die Begleitumstände einer Hexenverfolgung im Wallis und zählte dabei erstmals auf, was angeblich an einem Hexensabbat geschehe: Teufelspakt, Luftflug, Herstellung und Verwendung von Hexensalben, orgiastisches Mahl mit geraubten Lebensmitteln, Schadenszauber, ritueller Kindesmord und Kannibalismus.[15]

Juden

Im selben Zeitraum nahmen auch Ritualmord-Anklagen gegen Juden zu: 30 Fälle sind allein im deutschen Sprachraum dokumentiert. Sie endeten fast alle mit Pogromen und Hinrichtungen der Angeklagten. War die Anklage einmal erhoben, dann wurden die Begründungen dafür beliebig ausgetauscht, bis das durch Folter erpresste Geständnis das gewünschte Ergebnis „bestätigte“.

  • 1431 wurden nach Ritualmordanklagen die jüdischen Gemeinden von Ravensburg, Überlingen und Lindau zerstört.
  • 1451 ernannte Papst Nikolaus V. Johannes von Capistrano dazu, die Inquisition nun auch gegen Juden zu organisieren. Dieser erneuerte die Vorwürfe von Ritualmord und Hostienfrevel gegen sie, die Innozenz IV. schon 1247 zurückgewiesen hatte.
  • 1470: Ein Verhörprotokoll aus Endingen am Kaiserstuhl spiegelt die verzweifelte Suche des mit dem christlichen Aberglauben wenig vertrauten Juden Merklin nach der „richtigen“ Antwort, die seine Qual beenden würde: Er und seine Angehörigen bräuchten das Christenblut als heilsame Arznei; dann für die Fallsucht eines seiner Söhne; dann als Odor gegen ihren üblen Körpergeruch; dann als Chrisam (Salböl) für die Beschneidung. - Dieser „Blutaustausch“ bewies aus Sicht seiner Ankläger, dass Merklin sich die Wiederaufnahme seiner Familie in Gottes Bund durch das Blut von Erwählten anzueignen versuchte. Dies galt als todeswürdig, weil Israels Erwählung zum Bundesvolk nach der seit 70 verfestigten Substitutionstheologie durch Jesu Blutopfer beendet und den Christen übergeben worden sei, so dass die Beschneidung ihre Wirksamkeit verloren habe. Die Familie Merklins wurde auf dem Scheiterhaufen lebendig verbrannt.
  • 1475 wurde die Geschichte des Simon von Trient in ganz Deutschland und Oberitalien bekannt und besonders folgenreich:

In Trient hatten Juden und Christen bislang friedlich zusammengelebt. In jenem Jahr jedoch begann der berühmte Prediger Bernhardin von Feltre als neu ernannter Prior des Franziskanerklosters eine Serie von Hetzpredigten gegen die Juden der Stadt. Als am Gründonnerstag (23. Mai) der zwei bis drei Jahre alte Simon verschwand, gab Feltre öffentlich den Juden die Schuld daran und prophezeite, sie würden noch vor dem bevorstehenden Osterfest ihre Bosheit beweisen. Man durchsuchte alle ihre Häuser. Der jüdische Hofbesitzer Samuel fand am Karsamstag im Bach vor seinem Haus Simons Leiche und meldete den Fund den Behörden. Diese nahmen ihn und weitere Vertreter der jüdischen Gemeinde fest.

Der Tridentiner Bischof Johannes Hinderbach leitete das zwei Jahre dauernde Verfahren; er ließ alle verfügbaren, durch Folter erpressten „Geständnisse“ von Ritualmorden im Bodenseegebiet zusammentragen und benutzte sie dann für seine eigenen Verhöre. An der Folter starben vorzeitig vierzehn der Angeklagten; die übrigen hatten gestanden. Doch ihre widersprüchlichen Aussagen und Druckwerke, die von Hinderbach noch vor Prozessende in Auftrag gab, um die Marter Simons zu illustrieren, veranlassten Papst Sixtus IV., den Fall neu aufzurollen. Er übergab einem Freund da Feltres den Vorsitz der päpstlichen Untersuchungskommission. Dieser stellte fest, man habe die Juden durch Folter zum Geständnis eines Ritualmords gebracht, und behauptete die Richtigkeit ihrer Festnahme und der Anklage. Diese wurde jedoch ergebnislos fallengelassen.

Parallel dazu wurden „Augenzeugenberichte“ und drastische Holzschnitte über das Leiden Simons in Umlauf gebracht. Simon wurde schließlich heilig gesprochen. Zur Verbreitung seiner Geschichte trug wesentlich die 1493 in Nürnberg gedruckte Chronik Hartmann Schedels, das Liber chronicarum, bei. Ein Standbild in Frankfurt am Main zeigte das gemarterte Kind und die Juden mit dem Teufel, um an „der Juden Schelmstück" zu erinnern. Erst 1965 stellte eine päpstliche Kommission einen „Justizirrtum" fest und hob Simons Heiligsprechung auf.

Nachdem es in Trient zu Pilgerströmen zum Grab des Simon gekommen war, erinnerte man sich auch anderswo an unaufgeklärte Todesfälle von Kindern, um eine einträgliche Heiligenverehrung in Gang zu bringen. So entdeckte man nachträglich in den Folgejahren weitere angebliche Ritualmorde, unter anderem in:

Doch nur einige davon lösten erfolgreich einen Kult aus, so die Legende um Anderl von Rinn. Nach den Erfahrungen von Trient ließ man 1475 seine Leiche ausgraben, um zu „beweisen", dass er am 12. Juli 1462 von ortsfremden Juden zum „Märtyrlein" gemacht worden sei. Sein Leichnam wurde mumifiziert ausgestellt. Doch erst 1620 stellte der aus Trient stammende Arzt Hippolyt Guarinoni exakt 5812 Wunden daran fest: Nun wurde der angebliche Tatort, der Judenstein bei Rinn, zum bedeutenden Wallfahrtsort in ganz Tirol, Bayern und Kärnten. Jesuiten führten 1621 erstmals ein „Anderl-Spiel“ in Rinn auf, das in Orten der näheren und weiteren Umgebung nachgeahmt wurde und erheblich zum Aufschwung des Tiroler Volksschauspiels beitrug. Papst Benedikt XIV. sprach Anderl mit der Bulle Beatus Andreas 1754 selig und erlaubte eine Eigenmesse und ein Eigenofficium für ihn. Seine Gebeine wurden in der Pfarrkirche ausgestellt, seine angebliche Ermordung wurde in Figuren abgebildet und 200 Jahre lang regelmäßig szenisch aufgeführt.

Seit der Reformation trat der antijudaistische Ritualmord-Vorwurf in der kirchlichen Theologie Mitteleuropas zurück und konnte vor Gericht kaum noch durchgesetzt werden. Der Nürnberger Reformator Andreas Osiander hatte um 1540 anonym die erste exegetische und logische Widerlegung des Vorwurfs veröffentlicht: Ob es war und glaublich sey / daß die Juden der Christen Kinder heymlich erwürgen / vnd jr blut gebrauchen. Seine Schrift wurde von eines Ritualmords angeklagten Juden in Sappenfeld bei Eichstätt vor Gericht zitiert.

Dies veranlasste Johannes Eck 1541 zu einer heftigen Gegenschrift, die nochmals alle überlieferten angeblichen Beweise über den religiösen Blutdurst der Juden vorführte. Doch Eck fand nun kaum noch gelehrte Unterstützer; auch katholische Theologen beriefen sich nun auf die Verwerfung der Ritualmord-Beschuldigung durch Papst Innozenz IV. Die Sappenfelder Juden wurden freigesprochen. 1563 fand der letzte Prozess zu einer Ritualmord-Anklage vor dem Reichskammergericht statt. Dort war von einem Bedarf der Juden an Christenblut keine Rede mehr, der Angeklagte wurde freigelassen.

Neuzeit

Osteuropa

Nach den Vertreibungen der Juden aus den meisten deutschsprachigen Städten bis etwa 1700 trat der Ritualmord-Vorwurf gegen Juden dort zurück. Doch nun kam es in Osteuropa, wohin viele vertriebene Juden vor Pogromen geflohen waren, bis in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder zu entsprechenden Anschuldigungen, Prozessen und Pogromen.

Für die Lubliner Union von Polen und Litauen haben Historiker von 1500 bis 1800 mindestens 89 Ritualmordanklagen und -prozesse ermittelt; man schätzt 200 bis 300 Hinrichtungen als ihre Folge. Die verschärfte Lage der Juden dort führte ab etwa 1850 zu großen Rückwanderungsbewegungen. Diesen folgten in den Zuzugsländern wiederum neue Ritualmord-Anklagen: so in Österreich-Ungarn (u.a. Tisza-Eszlar 1882, Polná 1903), die nun allerdings schon im Kontext des modernen Antisemitismus erhoben wurden.[16]

Im Russischen Reich kam es erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu Ritualmordprozessen gegen Juden.

  • 1799: Im ehemals polnischen Senno südlich von Vitebsk. Dort fand man kurz vor dem Pessachfest in der Nähe einer jüdischen Gastwirtschaft die Leiche einer Frau. Ein Prozess gegen vier Juden endete mit Freispruch aus Mangel an Beweisen. Typisch für die russische Entwicklung war jedoch, dass die Regierung die Angelegenheit zum Anlass für gesamtstaatliche Judendiskriminierung nahm: Zar Paul I. forderte einen offiziellen Bericht über die Juden Weißrusslands an. Der beauftragte Autor, der spätere Justizminister Gavriil R. Deržavin schrieb darin, er halte Ritualmorde für das Fantasieprodukt unwissender Fanatiker. Doch es sei durchaus möglich, dass sie in alter Zeit tatsächlich verübt worden seien. Zudem gebe es in den jüdischen Gemeinden Personen, die derartige Verbrechen begangen hätten. Daher seien derartige Anklagen Ernst zu nehmen und zu verfolgen.

In den Folgejahrzehnten traten weitere lokale Ritualmordbeschuldigungen im jüdischen Ansiedlungsrayon Russlands - der čerta - auf.

  • 1816: In Grodno sollte ein Jude ein vierjähriges Mädchen vor dem Pessahfest ermordet haben. Darauf verbot Zar Alexander I. mit einem Ukas am 6. März 1817, Juden künftig ohne hinreichende Indizien und nur wegen der abergläubischen Ritualmordlegende des Mordes an christlichen Kindern anzuklagen. Dennoch kam es zu weiteren Prozessen dieser Art.
  • 1823: In Veliž (Gouvernement Vitebsk) wurden zwei Juden, ein Kaufmann und ein Ratsmitglied, vor Gericht gestellt, weil sie den Sohn eines russischen Soldaten rituell ermordet haben sollten. Nachdem sie vollständig freigesprochen waren, appellierte die Hauptbelastungszeugin an den Zaren persönlich, worauf dieser den Fall neu aufrollen ließ. Der mit der Untersuchung beauftragte Generalgouverneur Chovanskij - ein bekannter Judenfeind - behauptete ein Jahr später in seinem Bericht an den neuen Zaren Nikolaus I., die gesamte jüdische Gemeinde von Veliž hätte einige christliche Frauen dazu verführt, den Mord zu begehen. Darauf ließ der Zar die jüdischen Schulen und Synagogen der Stadt schließen. - Chovanskij versuchte nun, auch bei weiteren ungeklärten Mordfällen eine Verstrickung von Juden „nachzuweisen“ und wollte dazu den Fall in Grodno wieder aufrollen. Doch inzwischen beschäftigte der Fall Veliž die höchsten Staatsorgane: 1831 den Senat, seit 1834 den Staatsrat. Dieser sprach die seit 1825 inhaftierten Juden im Januar 1835 in letzter Instanz frei und verurteilte die Hauptbelastungszeugin und zwei weitere wegen Meineides. Sie wurden nach Sibirien verbannt. Der Zar akzeptierte das Urteil, weigerte sich aber, den Ukas seines Vorgängers von 1817 zu bestätigen. Anders als dieser glaubte er, es gebe jüdische Sekten, die christliches Blut für ihre Riten benötigten.
  • 1853: In Saratov wurden zwei im Vorjahr verschwundene russische Schüler mit Spuren einer Beschneidung tot aufgefunden. Ein jüdischer Garnisonssoldat, ein Pelzhändler und sein Sohn wurden angeklagt. Auch dieser Fall gelangte in höchste Staatsebenen: Der Zar beauftragte eine Sonderkommission, anhand des Saratover Falls auch die angeblichen „Dogmen des religiösen Fanatismus der Juden" im Allgemeinen zu untersuchen. Mitglied war der konvertierte Jude und Professor für Judaistik Daniil Chvol’son (1819-1911), der ein Buch über mittelalterliche Blutanklagen veröffentlicht hatte. Obwohl die Kommission 1856 keine Beweise fand und den Fall einzustellen riet, verurteilte der Staatsrat die Beschuldigten zuletzt zu lebenslanger Haft im Arbeitslager. Der als Reformzar geltende Alexander II. bestätigte das Urteil 1860 und lehnte Begnadigungsgesuche ab. Zwei der Verurteilten begingen Selbstmord in der Haft, der dritte wurde 1867 begnadigt.

Auch nach der Justizreform Alexanders II. wurden solche Anklagen zugelassen:

  • 1879: In Kutaisi (Georgien) wurden zehn des Mordes an einem georgischen Mädchen angeklagte Juden freigesprochen.

Unter dem als Reaktionär geltenden Zar Alexander III. wurde – trotz der damals wachsenden antisemitischen Stimmung - keine Ritualmordbeschuldigung zu einem juristischen Fall. Doch unter Nikolaus II. fanden wieder Ritualmordprozesse statt:

  • 1900: In Wilna wurde der jüdische Kaufmann Blondes von seinem polnischen Dienstmädchen vor dem jüdischen Pessachfest beschuldigt, sie verletzt und ihr Blut abgezapft zu haben. Das Gericht fand keine Mordabsichten und verurteilte Blondes zu vier Monaten Haft; sein Verteidiger ging in Berufung und erreichte 1902 einen Freispruch.
  • 1903: In Kishinev kam es nach einem bereits aufgeklärten Mordfall an einem Jungen vom 6. bis 9. Februar zu Aufruhr, zu dem orthodoxe Priester die Menge aufstachelten. Unter dem Ruf „Tötet die Juden" wurden 45-49 jüdische Bewohner der Stadt - darunter Frauen, Alte, Säuglinge - ermordet, 400-500 verletzt und über 700 ihrer Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört. Die einzige staatlich erlaubte und vom Geheimdienst Ochrana mitfinanzierte Tageszeitung Bessarabetz hatte sie als mögliche Täter präsentiert, da der Mord an einem orthodoxen Ostertermin stattgefunden hatte. Ein andere Lokalzeitung wies dazu auf alte Ritualmord-Legenden hin. - Das Pogrom löste internationale Proteste und eine Petition des US-amerikanischen Senats aus, auf die der Zar nicht antwortete. Von da an versuchten Judengemeinden Selbstverteidigungsgruppen zu bilden; der Zionismus erhielt seitdem Auftrieb, und Zehntausende Juden verließen wie schon nach den staatlich geduldeten Judenpogromen von 1880 Russland.
  • 1910: In Smolensk wurde einer jüdischen Familie vorgeworfen, das Kind einer Bettlerin zu rituellen Zwecken getötet zu haben. Das Verfahren wurde nach zwei Monaten eingestellt, hatte aber ein juristisches Nachspiel bis Dezember 1913: Die betroffene Familie reichte eine Verleumdungsklage gegen die Mutter des Kindes und einen örtlichen Geistlichen ein, der als Mitarbeiter der reaktionären Zeitung Russkoe Znamja („Russisches Banner“) und Vorsitzender des Sojuz russkogo naroda („Bund des russischen Volkes“) die Ritualmordversion öffentlich propagiert hatte. Sie wurden zu einer Gefängnisstrafe verurteilt; doch dem Priester gelang es, die Strafe zu umgehen.
  • Dezember 1911: In Tarašča (Gouvernement Kiew) wurde die Jüdin Chana Spektor beschuldigt, ihr 15-jähriges Dienstmädchen zu rituellen Zwecken getötet zu haben. Sie wurde noch im selben Monat freigesprochen. Doch nach Protesten der Zeitung „Russkoe Znamja" und des Kiewer Staatsanwalts wurde der Fall an den Senat weitergeleitet, der den Freispruch im März 1912 bestätigte.

Die beiden letztgenannten Fälle standen schon unter dem Einfluss des Falles von Mendel Beilis in Kiew 1911: der letzten russischen Ritualmordanklage, die internationale Beachtung fand. Hier konstruierte das zaristische Innenministerium die Anklage, um parlamentarischen Forderungen nach Aufhebung der seit Jahrzehnten gültigen antijüdischen Knebelgesetze zurückweisen zu können. Trotz fingierter Beweise wurde der Angeklagte nach zweijähriger Haft 1913 schließlich von einer Jury einstimmig freigesprochen, musste aber emigrieren. Die Haltung der Staatsbehörden fand vielfache Kritik im Ausland und rückte den russischen Antisemitismus ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Sie trug auch zur Verständigung von konservativen und revolutionären russischen Oppositionellen in der „Judenfrage“ bei.[17]

Mitteleuropa

Auch in Mitteleuropa überdauerten sowohl antijudaistische als auch andere Ritualmord-Legenden, z.B. gegen die Freimaurer, die Aufklärungsepoche und Französische Revolution. Erstere lebten in ländlichen Gebieten nicht nur mündlich fort, sondern wurden durch allerlei schriftliche und bildliche Überlieferung gestützt und wachgehalten: vor allem in Form lokaler und regionaler Heiligenverehrung vermeintlicher Märtyrer.

So waren die Wallfahrten zum Sarg des Werner von Oberwesel in Bacharach zwar 1545 beendet worden und seine Gebeine verschollen; doch bis 1834 zeigten Deckengemälden der Dorfkirche die Legende um seinen Tod. Umgebende Orte ließen solche drastischen Darstellungen regelmäßig restaurieren, so ein Reliefbild und Altartafeln in der Spitalkirche von Oberwesel (1968 entfernt). In Trier wurde Werner 1761 in den örtlichen Heiligenkalender aufgenommen, sein angeblicher Todestag wurde bis 1963 jedes Jahr mit einer Prozession begangen. In Womrath, seinem angeblichen Geburtsort, wurde ihm noch 1911 eine neue Kapelle gewidmet, in der ebenfalls sein „Martyrium" abgebildet und als „Wernerfest" mit eigens komponierten Liedern jährlich gefeiert wurde. Sogar im Kölner Dom war er in das Chorgestühl eingeschnitzt, zusammen mit einem Judensau-Motiv.

Auch wo der Versuch, einen Kult zu stiften, weniger nachhaltig gelang - so im Fall des Johanneken von Troisdorf -, bedrohte vielerorts schon das bloße Gerücht eines Ritualmords die dorfansässigen Juden, z.B. in:

Im 19. Jahrhundert erhielt die Legende im Zusammenhang der abgelehnten Judenemanzipation ungeahnten neuen Auftrieb. Im katholischen Rheinland wurden dutzende Ritualmord-Anklagen laut, die am Niederrhein 1819, 1834 und 1891/92 zu Ausschreitungen gegen dort lebende Juden führten. In Dormagen wurde ein Mädchen am 12. Oktober 1819 Opfer einer Sexualstraftat, wie ein ärztliches Gutachten feststellte. Noch bevor die Todesursache bekannt wurde und danach griffen Mengen von Tausenden in Neuss, Grevenbroich, Hülchrath, Emmerich, Binningen (Eifel) und Rheinbrohl Synagogen, Friedhöfe und Häuser von Juden ihres Ortes an. Plünderungen jüdischer Geschäfte blieben aus. Im August und September 1819 hatten in größeren Städten und anderen Regionen die stärker ökonomisch motivierten Hep-Hep-Unruhen stattgefunden.

In Neuenhoven, Bedburdyck, Stessen (heute Ortsteile von Jüchen) kam es 1834 nach einem Sexualverbrechen an einem Jungen (15. Juli) wiederum wochenlang zu schweren Exzessen gegen Juden, diesmal auch mit Plünderungen und Mordversuchen: u.a. in Grevenbroich, Neuss, Düsseldorf, Rommerskirchen, Güsten. Die Krawalle zogen sich bis Aachen und Xanten und konnten nur durch preußisches Militär beendet werden, da die örtliche Gendarmerie vielfach nicht eingriff.

Die Vorfälle wirkten in den Folgejahren nach: 1835 wurde in Willich bei Krefeld eine Kinderleiche gefunden, woraufhin sofort das Gerücht eines jüdischen Ritualmords in Umlauf kam. Ein Handwerkslehrling versuchte, damit einen jüdischen Kaufmann vor Ort zu erpressen: Er behauptete, er habe zwei Juden im Wald bei der Ermordung des Kindes beobachtet, und verlangte „Schweigegeld". Der Erpresser wurde jedoch inhaftiert und dann als der Mörder des Kindes überführt. - 1836 fand man in Düsseldorf eine Kinderleiche; wieder wurden die Juden eines Ritualmords beschuldigt. Obwohl der Verdacht sich nicht erhärten ließ, behaupteten lokale Zeitungsartikel noch ein Jahr später: Die Art der Ermordung ließ keinen Zweifel übrig, daß er von einem Juden hingeschlachtet worden sei, um das sogenannte Christenmarterblut zu gewinnen...

1840 stand im Zeichen der international beachteten Damaskusaffäre: Hohe Kirchenfunktionäre des Vatikan unterstützten die dortige Ritualmordanklage. Sie löste in den Folgejahren weitere Ritualmordanklagen im arabischen wie europäischen Raum aus. Im selben Jahr wurde in Jülich ein altes jüdisches Ehepaar eine Woche lang inhaftiert, weil es einen blutigen Mordversuch an einem neunjährigen Mädchen begangen haben sollte. Dieses fanden die Behörden jedoch bald darauf unverletzt auf; das Blut war bloß aufgetragen worden. Das Mädchen gab schließlich zu, von seiner Mutter und zwei Bekannten zu der Aussage angestiftet worden zu sein. Sobald die Anklage als fingiert entlarvt war, verebbten die anfangs groß aufgemachten Berichte darüber.

1862 in Köln entstand während der Karwoche eine regelrechte Hysterie in der Bevölkerung. Ein Mann, der sein eigenes Kind an der Hand führte, wurde von einer Menschenmenge als vermeintlicher jüdischer Kindesentführer bedroht und konnte sich nur mit Mühe als der Vater ausweisen. Andere als Kindesmörder verdächtigte Personen wurden schwer misshandelt. Ein katholischer Passant, dem Kinder nachgerufen hatten, er sei „Blutjude", wurde von herbeieilenden Erwachsenen fast totgeprügelt.

Seit etwa 1860 bildete die Ritualmordanklage einen gemeinsamen Nenner zwischen christlichen Antijudaisten und rassistischen Antisemiten, die den angeblichen jüdischen „Blutdurst" aus Rasse-Eigenschaften herleiteten. Papst Pius IX. sah die Kirche von der „Synagoge des Satans“ bedroht. Er erhob Simon von Trient 1867 zum Märtyrer und Heiligen und pries 1869 das antisemitische Pamphlet Der Jude, das Judentum und die Verjudung der christlichen Völker, das die Juden der Neigung zum Ritualmord bezichtigte. Dem französischem Autor Henri Roger Gougenot des Mousseaux verlieh er einen hohen kirchlichen Orden. Der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg übersetzte dessen Pamphlet später ins Deutsche.[18] Auch in Deutschland unterstützten Autoritäten wie Bischof Konrad Martin von Paderborn diese Allianz mit Schriften, die behaupteten, Juden bräuchten das Blut christlicher Kinder für ihre Religionsausübung. Zugleich brachte der Antisemit Max Liebermann von Sonnenberg kostenlose Broschüren mit christlichen Ritualmord-Beschuldigungen in Massenauflage in Umlauf.

1881 begann das 1850 von Jesuiten gegründete, unter der Aufsicht des Kardinalstaatssekretärs unter Leo XIII. herausgegebene einflussreiche katholische Journal La Civilta Cattolica eine jahrelange antijüdische Artikelserie. Die Autoren behaupteten, dass die Juden, dieses fremde Volk, wenn es zu viel Freiheit erhält, sofort zum Verfolger, Unterdrücker, Tyrannen, Dieb und Zerstörer der Länder würden, in denen sie lebten. Auch jüdische Ritualmorde versuchte man zu beweisen: Jedoch sei nicht das Pessach, sondern das Purimfest der Anlass dafür. Listen zählten Hunderte angebliche Blutmordfälle auf; aktuelle Prozesse in Russland und Österreich wurden ausgeschlachtet. Man empfahl den europäischen Regierungen, Sondergesetze für eine Rasse einzuführen, die in so außergewöhnlicher Weise durch und durch verdorben ist. Auch der Vatikan selbst gab Erklärungen ab, die die Verschwörungstheorie einer jüdischen Weltbeherrschung über Geheimsekten wie die Freimaurer etablierten und wiederholt - zuletzt 1930 - bekräftigten.[19]

Nach vorübergehendem Rückgang der Bedrohung von Juden im Niederrheingebiet kam es 1891 nach einem Leichenfund am 29. Juni in Xanten zur „Affäre Buschoff": Albert Buschhoff, der Metzger und Schächter der kleinen jüdischen Gemeinde, wurde eines Ritualmords verdächtigt. Zeugen behaupteten, sie hätten das tote Kind kurz vor der Tatzeit des Mordes vor seinem Haus spielen und dann hinein gehen sehen. Als die Behörden keinen Anlass sahen, Buschhoff festzunehmen, wurden Wohnungen und Läden von ortsansässigen Juden mit Steinen beworfen, einzelne Juden auf offener Straße misshandelt. Buschhoff bat um seine Verhaftung, um sich zu schützen und seine Unschuld zu beweisen. Die Behörden gingen darauf nicht ein, so dass er nach Köln floh. Die jüdische Gemeinde zog nun einen auswärtigen Kriminalbeamten hinzu. Dieser ermittelte, Buschhoff habe den Jungen bewusstlos geschlagen, in seine Scheune getragen und dort wahrscheinlich ermordet. Daraufhin wurde er festgenommen. Die gerichtliche Voruntersuchung ergab keine ausreichenden Indizien für einen Tatverdacht: Er wurde wieder freigelassen. Doch in ganz Deutschland führte die antisemitische Presse mittlerweile eine Kampagne gegen die Justiz, der sie vorwarf, vom Judentum beeinflusst zu sein - sonst hätte man Buschhoff längst den Prozess gemacht. Diese Sicht teilten auch große christlich-konservative Blätter.

Im April 1892 wurde Buschoff schließlich wegen Mordes angeklagt. 160 Zeugen wurden verhört; ihre Aussagen hatten sich seit den ersten Vernehmungen erheblich verändert, die Vorwürfe waren immer präziser und schärfer geworden. Doch Buschoff konnte ein lückenloses Alibi vorweisen und wurde am 14. Juli freigesprochen. Einen Tag zuvor war sein Haus in Xanten vollständig zerstört worden, seine Existenz war vernichtet und er konnte nicht mehr nach Xanten zurückkehren. - Während des Prozesses und danach kam es nicht in Xantens Umgebung, aber in denselben niederrheinischen Orten wie 1819 und 1834, vor allem den Kreisen Neuss und Grevenbroich, zu schweren judenfeindlichen Ausschreitungen. Dort wurden jüdische Friedhöfe verwüstet, Fensterscheiben eingeworfen, Bäume umgehauen, Gärten zerstört, von Juden bewohnte Häuser angezündet und versucht, die Synagoge von Grevenbroich zu sprengen. Ein Viertel der jüdischen Einwohner von Neuss verließen damals den Ort und zogen in andere Gegenden. Die übrigen waren gesellschaftlich geächtet und verarmten in den Folgejahren.

Die Fortdauer des religiösen Judenhasses im Kreis Neuss-Grevenbroich zeigte sich bei der Reichstagswahl 1893: Entgegen dem umgebenden Trend erzielte der liberal-katholische Stadtrat Clemens von Schorlemer-Lieser mit antisemitischer Hetze und Unterstützung der ansonsten im Rheinland abgelehnten preußisch-protestantischen Christlich-Sozialen Partei Adolf Stoeckers enorme Stimmengewinne. Zudem folgten der überall publizierten Affäre Buschhoff im ganzen folgenden Jahrzehnt viele weitere Ritualmord-Beschuldigungen, auch in weit entfernten und überwiegend protestantischen Regionen:

Diese Fälle fanden trotz überregionaler Berichterstattung meist nur lokale Beachtung. Doch zugleich wurden die von 1890 bis 1917 besonders häufigen Ritualmord-Beschuldigungen im zaristischen Russland und in der Habsburger K.u.K.-Monarchie stets von der deutschen Presse aufgegriffen und fanden meist starken Nachhall in der Öffentlichkeit.

Manche Fälle erfanden Zeitungsredakteure selbst. So erreichte der Fund der grausam zerstückelten Leiche des Schülers Ernst Winter am 11. März 1900 in Konitz (Westpreußen) erst durch gezielte Pressepropaganda besondere Aufmerksamkeit. Sogleich kam das Ritualmordgerücht auf: zuerst in der städtischen Unterschicht, dann auch im wohlhabenden Bürgertum. Ein Berliner Zeitungsverleger, Wilhelm Bruhn, schürte es gezielt mit einem Untersuchungsausschuss, dem viele angesehene Stadtbürger angehörten. Er verfolgte in Konkurrenz zur Polizei Spuren, die auf jüdische Täter verweisen sollten. Bald wurde der jüdische Metzger Adoph Lewy als Tatverdächtiger gehandelt. Die Presse griff jedes belanglose Detail und nachgewiesen unwahre Zeugenaussagen auf und strickte daraus Szenarien des Tathergangs. Eine Ansichtskarten-Reihe zeigte die Leichenteile, ihre Fundorte, den Beschuldigten, den später des Meineids überführten Hauptbelastungszeugen beim Beobachten der Tat, deren Ausführung als rituelles Schächten im Keller des Metzgers, die dabei Anwesenden, darunter den stadtbekannten Metzgersohn, mit Bärten, Zylindern und Gebetsriemen. Darunter standen Parolen wie „Hütet eure Kinder!“, „Den Mördern zur Warnung, den Christen zur Wahrung ihrer teuersten Güter", „blutgierige Sekte unter den Hebräern". Die Bildmotive wurden während der laufenden polizeilichen Suche nach dem Täter in Umlauf gebracht, ihr Verkauf sollte den Bau eines Grabmals für das Mordopfer finanzieren.

Nicht nur die antisemitische Presse, sondern auch gewöhnliche Zeitungen der katholischen Zentrumspartei und der Evangelisch-Lutherischen Kirche machten sich die Anklage gegen die Juden zu eigen. Die über Monate anhaltende Hetzpropaganda erzeugte eine bedrohliche Pogromstimmung, die am 10. Juni 1900 (einem Sonntag) eskalierte: Eine Menge von Tausenden sammelte sich mit Knüppeln bewaffnet auf dem Konitzer Markt, bedrängte den Bürgermeister und ließ sich auch nicht durch Warnschüsse der Gendarmerie abhalten, das Haus Lewys und die örtliche Synagoge völlig zu zerstören. Diese war schon zweimal zuvor Ziel versuchter Brandstiftung geworden. Auch in den Orten der Umgebung wie Prechlau (Kreis Schlochau) und Kamin (Kreis Strasburg in Westpreußen) kam es zu Tätlichkeiten gegen die wenigen dort lebenden Juden, die von den Behörden schutzlos gelassen wurden. Einige der Angegriffenen erkrankten schwer, andere flohen aus der Gegend und ließen ihren Besitz zurück; Gemeinden trafen sich nur noch heimlich in ihren Häusern zu Privatgottesdiensten. - Die antijüdische Stimmung hielt in ganz Westpreußen jahrelang an. Noch 1903 wurde ein älterer Jude in Stegers bei Schlochau erschlagen, nachdem er in einer Gastwirtschaft auf den Mord an Ernst Winter angesprochen worden war und jede jüdische Beteiligung daran bestritten hatte.

Akademischer Diskurs

Seit der Aufklärung war die Ritualmord-Legende unter Gebildeten unglaubwürdig geworden, wurde aber seit dem ab 1800 aufkommenden Antisemitismus wiederbelebt. 1840 entfaltete sich in London wegen der Damaskusaffäre eine rege öffentliche Debatte um angeblich jüdische Blutrituale.[20] Dabei wurden ältere Schriften wiederentdeckt, die schon im Mittelalter die Legende zurückgewiesen hatten, z.B. Vindiciae Judaerum (1656) des niederländischen Rabbiners Manasseh ben Israel (1604-1657). Seinen öffentlichen heiligen Eid, Juden seien schuldlos solcher Verbrechen, hatten spätere bekannte Rabbiner und Sprecher des Judentums wie Jacob Emden (1697-1776), Jonathan Eybeschütz (1690-1764), Solomon Hirschell (1762-1842) und David Meldola (1714-1818) oft wiederholt.

Aber auch zum Christentum übergetretene Juden traten gegen die Ritualmord-Legende ein. Alexander McCaul gab 1840 die Schrift Reasons for Believing that the Charge Lately Revived Against the Jewish People Is a Baseless Falsehood heraus und initiierte einen öffentlichen Protestbrief, den 58 Konvertiten unterzeichneten: an erster Stelle Michael Salomo Alexander (1799-1845), erster Bischof für die Anglikanische Kirche in Jerusalem. Darin hieß es:[21]

Wir, die Unterzeichner, nach Herkunft Juden, [...], aber nun, von Gottes Gnade, Mitglieder der Kirche Christi, erklären feierlich, dass wir niemals direkt oder indirekt unter Juden davon gehört haben, noch weniger wissen, vom Brauch, Christen zu ermorden oder christliches Blut zu benutzen. Wir glauben, dieser Vorwurf, der früher so oft gegen sie vorgebracht und erst kürzlich wiederbelebt wurde, ist eine regelwidrige und satanische Lüge.

In Berlin veröffentlichte der Konvertit Joachim Heinrich Biesenthal (1800-1886)[22] unter dem Pseudonym Karl Ignaz Corvé das Buch Ueber den Ursprung der Wider die Juden Erhobenen Beschuldigung.

1871 machte sich der katholische Alttestamentler August Rohling (1839-1931) mit dem einflussreichen, in viele Sprachen übersetzten Buch Der Talmudjude einen Namen. Darin versuchte er zu beweisen, dass die jüdische Religion ihren Anhängern gebiete, Christen zu schaden und zu töten, wo sie nur könnten: auch durch Blutopfer. Dabei griff er auf die 1751 erschienene Schrift Entdecktes Judenthum von Johann Andreas Eisenmenger (1654-1704) zurück, die ebenfalls in bewusst antijüdischer Absicht verfasst war. Noch im selben Jahr veröffentlichte der Rabbiner Isaak Kroner die Gegenschrift Entstelltes, Unwahres und Erfundenes in dem Talmudjuden Professor Dr. August Rohling's, die aber kaum Beachtung fand.[23]

Rohling trat in den Folgejahren häufig als Gutachter bei Ritualmord-Prozessen auf, so auch in Tisza-Eszlár, wo es 1883 ein schweres Pogrom gab. Ihm trat nun u.a. der protestantische Konvertit und Alttestamentler Franz Delitzsch entgegen. Er wies Rohling detailliert nach, dass sein Buch zur Hälfte mit entstellten, zur anderen Hälfte mit gefälschten Talmudzitaten argumentierte (Rohling's Talmudjude Beleuchtet, Leipzig 1881). Sein Gegengutachten brachte Delitzsch als Buch heraus: Schachmatt den Blutlügnern Rohling und Justus, Erlangen 1883.

Nachdem Rohling in Wien den Rabbiner Joseph Samuel Bloch (1850-1923) wegen Verleumdung angezeigt hatte – Bloch hatte ihm bewusste Fälschung und Meineid vorgeworfen - , gelang es dessen Anwalt, dass das Gericht Delitzsch als Gegengutachter zuließ. Daraufhin zog Rohling seine Klage zurück und verlor danach seine akademische Lehrerlaubnis. Seine Schriften wurden dennoch in hohen Auflagenzahlen weiter verbreitet, u.a. durch den katholischen Bonifatius-Verein.[24] Sie wurden später auch von Julius Streicher für die Propaganda des „Stürmer“ aufgegriffen.

Gegen die seit 1880 verstärkte antisemitische Propaganda engagierte sich auch der evangelische Theologe und Judaist Hermann Leberecht Strack (1848-1922). Er schrieb u.a. Der Blutaberglaube bei Christen und Juden, München 1891, das 1924 als Teil des erweiterten Buchs Der Blutaberglaube in der Menschheit, Blutmorde und Blutritus. Zugleich eine Antwort auf die Herausforderung des `Osservatore Cattolico' neuaufgelegt wurde. 1900 war in München von ihm bereits Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der `Volksmedizin' und des `jüdischen Blutritus' erschienen.

Zeit des Nationalsozialismus

Während des Nationalsozialismus wurde die Ritualmordlegende wiederbelebt. Das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer", herausgegeben von Julius Streicher, benutzte sie permanent für seine besonders abstoßenden Karikaturen, um Juden als heimtückische „Blutsauger" darzustellen. Artikel über verschwundene oder tot aufgefundene Kinder wurden stets mit Hinweisen auf das „jüdische Blutritual" verknüpft. Bereits im Juli 1926 erschien aus Anlass eines Doppelmordes in Breslau ein Heft, das sich ausschließlich mit angeblichen Ritualmordfällen befasste.

Am 17. März 1929 fand man bei Manau den Jungen Karl Kessler tot auf: In der folgenden Nummer des Stürmer schrieb der Zahnarzt Otto Hellmuth als Sonderberichterstatter einen Leitartikel, der behauptete:[25]

Die Sektion der Leiche ergab, daß der Körper völlig ausgeblutet war. ... Damit ist der Beweis einwandfrei geliefert, daß es sich hier nur um einen jüdischen Blutmord handeln kann.

Der Untersuchungsrichter widersprach öffentlich jedem Detail des frei erfundenen Textes. Doch Hellmuth hielt im ganzen Landkreis gut besuchte Vorträge zum Thema „Blutmord in Manau - Jüdische Moral und Blutmysterien". Daraufhin wurden zahlreiche Juden der Umgebung festgenommen und mussten ein Alibi nachweisen. Am Fundort der Leiche wurde eine Tafel, später ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Karl Kessler - Opfer eines Ritualmordes" aufgestellt. Dort hielten örtliche NS-Aktivisten nun jährlich Gedenkfeiern ab. Hellmuth stieg zum Gauleiter von Mainfranken auf und betrieb 1934 und 1937 die „Aufklärung" des Falls, um seine Verdienste für das Gau aus der Zeit vor der Machtergreifung hervorzuheben. Nach einer großen „Gedenkfeier“ am 19. März 1937 verhaftete die Gestapo neun Juden in Würzburg und Erlangen, die gestreute Gerüchte mit dem Tod des Jungen verbanden. Obwohl alle Beschuldigten ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen konnten, wurden sie bis November 1937 inhaftiert.

Im Mai 1939 gab der „Stürmer“ eine Sondernummer zum Thema Ritualmord heraus, die wie die Chroniken des Mittelalters „historische Zeugnisse" vorführte. Ein Aufruf an die Leser, der Redaktion Materialien über ähnliche frühere oder aktuelle Fälle zuzusenden, erzielte jedoch nicht das gewünschte Echo. Neue spektakuläre Anklagen blieben aus, so dass nur die Neuauflage altbekannter Legenden blieb. Umso mehr intensivierte der Stürmer seine Hetzpropaganda mit Kriegsbeginn: Der Krieg wurde als letzter Ritualmord des „Weltjudentums“ und „Geheimplan zur Völkervernichtung“ dargestellt. So betonten NS-Pamphlete während des Krieges immer wieder den Zusammenhang, den Adolf Hitler in seiner Januarrede 1939 konstruiert hatte, z.B. im Jahr 1942:[26]

...Ritualmorde zu begehen, blieb dem von Natur aus niedrigen, verbrecherischen Instinkt der Juden vorbehalten - Morde, um ihrer Blutgier zu frönen, Morde, um ihren unstillbaren Haß gegen die Gojim zu befriedigen, Morde, um das Gesetz des Glaubens zu befolgen. Was muß das für ein Gott sein, der solche blutigen Opfer von seinen Anhängern verlangt? ... Noch glaubt der Jude, einen letzten Trumpf in der Hand zu haben, da es ihm gelang, den jüdischen Bolschewismus im Verein mit dem nicht minder jüdischen Kapitalismus der Engländer und Amerikaner seinen Interessen dienstbar zu machen. Aber ... der von den Juden entfesselte Krieg wird mit der radikalen Vernichtung des Judentums enden... Ein dunkles Kapitel menschlicher Geschichte, unverständlicher Dummheit und Verblendung geht damit zu Ende, und eine bessere judenfreie Zeit bricht an.

Zu diesem Zeitpunkt war der Holocaust in vollem Gang. Die Ritualmordlegende war aufgrund ihrer historischen Konstanz, Volkstümlichkeit und Verankerung im kollektiven Unbewussten hervorragend zu seiner Rechtfertigung geeignet. Hellmut Schramm gab 1943 eine 475 Seiten starke „historische Untersuchung" dazu heraus, die sich als Summe aller vorangegangenen Hetzschriften präsentierte und sich dabei ausdrücklich auch auf vatikanische Erklärungen berief: Der jüdische Ritualmord. Heinrich Himmler befahl nach der Lektüre dem Chef des Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner, in den von Deutschland besetzten Gebieten Nachforschungen über Ritualmorde anzustellen. Er wollte diese als Radiopropaganda benutzen. Zugleich bestellte er eine Auflage des Buchs und ließ es an die mit Massenerschießungen beauftragten Untergebenen versenden:[27]

Ich übersende Ihnen mehrere 100 Stück, damit Sie diese an Ihre Einsatzkommandos, vor allem aber an die Männer, die mit der Judenfrage zu tun haben, verteilen können.

Hitler verlangte analog zu dem Film Der Ewige Jude in den letzten Kriegsjahren einen Propagandafilm über die Damaskusaffäre, der während des Krieges aber nicht mehr gedreht werden konnte.

Ritualmord-Vorwürfe nach 1945

Europa und USA

Mit dem Ende des Nationalsozialismus verschwand die Ritualmord-Legende nicht. Im Zusammenhang mit Fluchtbewegungen überlebender Juden kam es 1946 in Osteuropa zu neuen Pogromen. Das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946 wurde ebenso durch Ritualmord-Vorwürfe ausgelöst wie Angriffe auf Juden in Kunmadaras, Miskolc und Özd in Ungarn im Mai und Juli 1946. In Karcag bei Kunmadaras sollten sieben christliche Kinder unauffindbar verschwunden sein; die Landbevölkerung glaubte, Juden würden sie zu Wurst verarbeiten. Eine aufgebrachte Menge verhinderte die Verhaftung eines ortsbekannten Kollaborateurs der Nationalsozialisten, erschlug drei und verletzte 18 von 73 Juden des Ortes.[28]

In Deutschland wurden die jährlichen Wallfahrtsfeste für Anderl von Rinn (s.o.) erst 1954 - gegen erhebliche Widerstände des Landesbischofs und der örtlichen Bevölkerung - offiziell eingestellt und 1994 von Bischof Reinhold Stecher auch von Seiten der Kirche endgültig verboten. Er ließ ein Fresko von Anderls „Schlachtung" in der Ortskapelle übermalen.

Dennoch setzen lokale und regionale katholische Fundamentalisten zusammen mit Rechtsextremisten die Wallfahrten zum Judenstein weiter fort. Ihr Initiator ist der von Bischof Stecher suspendierte und in Österreich 1998 als Volksverhetzer verurteilte Kaplan Gottfried Melzer. Er gab bis 1993 den in der Schweiz gedruckten, in Tirol und Bayern verbreiteten Loreto-Boten heraus, ein auf antisemitischen Aberglauben spezialisiertes Wochenblättchen. Im Frühjahr 1990 erschien dort ein Sonderheft zum Thema Ritualmorde und Hostienschändungen als Werke des Hasses der Gegenkirche, in dem die Redaktion „mit allem Nachdruck“ feststellte:[29]

Das Martyrium des seligen Kindes von Rinn trägt alle Anzeichen eines jüdischen Ritualmordes an sich. Ritualmorde und Hostienschändungen stehen in einem inneren Zusammenhang: Es offenbart sich in beiden der abgrundtiefe Haß Satans gegen das von Gott geschaffene Leben, und der Haß gegen Gott selbst, der im 'Brot des Lebens' geheimnisvoll gegenwärtig ist. Satan hat seine besonderen Werkzeuge für diese Freveltaten: ... Wir müssen sie in besonderer Weise auch bei den Nachfahren jener suchen, die Jesus Christus ... ans Kreuz schlagen ließen und seine Anhänger unerbittlich verfolgten.

Sodann wärmten die Autoren der Ausgabe 36 „Fälle“ aus der bekannten mittelalterlichen und neuzeitlichen antijüdischen Hetzliteratur bis zum Jahr 1932 wieder auf, gaben sie als Fakten aus und verknüpften sie zu einer phantastischen globalen Verschwörungstheorie:[30]

Da Satan der 'Menschenmörder seit Anbeginn' (Joh 8,44) ist,
und da die kultische Verehrung Satans wesentlich zur Freimaurerei gehört [...],
und da weiters Kerntuppe und Führungsgremium der Freimaurerei sich aus Personen ausschließlich jüdischer Abstammung zusammensetzen,
muß man konsequenterweise sagen, daß die von der Spitze der Freimaurerei geplante und die von den unteren Vertretern der Freimaurerei verwirklichte Fristenlösung, dieser Massenmord an den ungeborenen Kindern (60 Millionen jährlich) als ein 'immerwährendes' und 'unaufhörliches' Menschenopfer an Satan [...] anzusehen ist. [...]
Teile der Leiber der unzähligen im Mutterschoß hingemordeten Kinder werden von den Menschen konsumiert und aufgenommen in Form von Medikamenten und Schönheitsmitteln, die aus den Leibern der Getöteten hergestellt werden. Wie lange noch wird das Blut der Gemordeten zum Himmel um Rache schreien?! Der Zweck dieses weltweiten 'rituellen Massenmordes' liegt auf der Hand: [Dadurch] sollen dem 'Herrn der Welt' die Wege gebahnt werden.

Unterstützt wird Melzer von Rechtsextremisten wie Christian Rogler und katholischen Theologen wie Robert Prantner, Autor in der von Andreas Mölzer (Berater Jörg Haiders in der FPÖ) herausgegebenen österreichischen Zeitschrift Zur Zeit, ein Ableger der Jungen Freiheit. Darin riefen auch Veranstaltungshinweise und Annoncen zum „Anderlegedenken" auf.

Auch manche obskuren Christengruppen in den USA verbreiten antisemitische Ritualmordlegenden weiterhin als Fakten, z.B. die Gruppe American Promises.[31]

Die britische Zeitung The Independent veröffentlichte 2003 einen Cartoon, der den damaligen Staatspräsidenten Israels, Ariel Sharon, beim Verzehr eines palästinensischen Babys darstellte. Der Untertitel lautete: Was ist? Habt Ihr noch nie einen Politiker gesehen, der ein Baby küsst? Der Zeichner Dave Brown beantwortete die Beschwerde der israelischen Regierung damit, dass er auf Goyas Bild Saturn opfert seinen Sohn als Vorbild der Karikatur verwies. Deren Absicht sei daher nicht antisemitisch. Er gewann für den Cartoon einen Jahrespreis der britischen Political Cartoon Society.[32]

Islamische Länder

In arabisch-islamischen Medien ist seit geraumer Zeit ein wachsender Arabischer Antisemitismus zu beobachten, in dessen Kontext die judenfeindliche Ritualmord-Propaganda inzwischen häufiger auftaucht. Dies begann mit der von Christen initiierten Damaskusaffäre 1840, die als erstes Zeichen einer globalisierten Mediengesellschaft gilt. Judenfeindliche Agitatoren versuchten die Ritualmord-Legende nach dem Vorbild christlicher Gruppen für politische Ziele zu nutzen, fanden aber in der muslimischen Bevölkerung zunächst wenig Glauben, so dass daraus selten Pogrome folgten.

Besonders in Ägypten, Jordanien, im Iran und in Saudi-Arabien sind Ritualmord-Stereotypen in den staatlich kontrollierten Medien inzwischen jedoch akzeptiert. Al Riad, die saudiarabische Regierungszeitung, schrieb z.B. am 10. März 2002:[33]

Sie [die Juden] werden bezichtigt, nichtjüdische Kinder und nichtjüdische Erwachsene an sich zu locken, sie zu schlachten und ihnen das Blut abzuzapfen. Sie werden bezichtigt, dieses Blut in die Mazzen (ungesäuertes Brot) zu verbacken...Das jüdische Volk ist verpflichtet, für dieses Fest Menschenblut aufzutreiben, damit ihre Geistlichen dieses Gebäck für die Feiertage vorbereiten können.

Im Herbst 2003 erschien zum Fastenmonat Ramadan in einem von der Hisbollah betriebenen Fernsehsender Al-Manar in Syrien eine Vorabendserie Al Shatat („Diaspora"). Eine der 29 Folgen, die Juden für nahezu alle politischen Katastrophen der Neuzeit verantwortlich machten, zeigte, wie jüdische Rabbiner an einem „Sabbatschänder“ ein „heiliges talmudisches Ritual" vollstreckten: Sie foltern den Gefesselten grausam, zwingen ihn, flüssiges Blei zu trinken, schneiden ihm ein Ohr ab und durchtrennen zuletzt seine Halsschlagader. In einer weiteren Folge wurde ein christliches Kind geschlachtet, um dessen Blut zum Backen von Mazzen zu verwenden. Im Abspann des Films wurde dem syrischen Verteidigungsministerium, dem Kulturministerium, der Archäologiebehörde und der Polizei von Damaskus gedankt. Zunächst sollte die Serie im staatlichen syrischen Fernsehen gezeigt werden und in Farsi, Englisch und Hebräisch übersetzt werden. Auf internationale Kritik hin zog die syrische Regierung diesen Plan zurück und bestritt, dass sie die Produktion unterstützt habe. Der Direktor des Senders betonte jedoch: Die Serie zeigt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.[34]

Abkehr von der Ritualmord-Tradition

Das Grundgesetz verbietet die Verleumdung religiöser Minderheiten, das deutsche Strafgesetzbuch stellt die Verbreitung antisemitischer Propaganda unter Strafe. Im kirchlichen Bereich ermöglichte das Dekret Nostra Aetate vom 28. Oktober 1965 eine Erneuerung der Beziehungen von Katholiken und Juden. Es beschwor das gemeinsame biblische Erbe und lehnte die pauschale Verurteilung des jüdischen Volkes als von Gott verflucht ab. Damit entzog es auch der christlichen Ritualmord-Legende die theologische Basis.

Die örtlichen Bischöfe haben die Kulte um Anderl von Rinn (1954; 1994) und Simon von Trient (1965) aufgehoben und verboten. Damit wurde deren Selig- bzw. Heiligsprechung stillschweigend für falsch erklärt. Die katholischen Gegner dieser Abkehr berufen sich weiterhin auf die Seligsprechung Anderles von 1754, die einer nicht revidierbaren Unfehlbarkeitsentscheidung sehr nahekomme. Nachdem Bischof Stecher das Verbot des Anderle-Kults 1985 bekräftigte – „es kann kein Zurück zur Intoleranz früherer Jahrhunderte geben" – erklärte der Vatikan die Angelegenheit 1988 in einem offiziellen Schreiben für eine „Sache des Bistums Innsbruck".[35] Für David Kertzer, der als einer der ersten Historiker die 1998 geöffneten Vatikanarchive für den Zeitraum 1800-1938 auswerten konnte, ist dies Zeichen einer Verdrängung der kirchlichen Mitwirkung an der Entstehung des Antisemitismus.

Johannes Paul II. hat mit seinem Schuldbekenntnis im Jahr 2000 Juden um Verzeihung gebeten für die Sünden, die „nicht wenige Katholiken gegen das Volk des Bundes und der Seligpreisungen begangen haben“. Er hat dabei der „Leiden“ gedacht, „die dem Volk Israel in der Geschichte auferlegt wurden“. Damit deutete ein Papst erstmals eine Mitschuld des Vatikan für den Holocaust an. Doch ältere päpstliche Dekrete zur angeblichen Verdorbenheit und Bösartigkeit der Juden widerrief der Vatikan bis heute nicht.

Siehe auch

Quellen

  1. Theologische Realenzyklopädie, Band 29, S. 254
  2. Poppy Dixon: Eating Fetuses: The lurid Christian fantasy of godless Chinese eating „unborn children." Oktober 2000 (englisch)
  3. Jewish Encyclopedia: Apion
  4. Jewish Encyclopedia: Blood Accusation.Origins
  5. Minucius Felix: Octavius
  6. Prof. Dr. Landersdorfer: Kirchengeschichte des Altertums II
  7. HSozkult: Rezension von Henrike Maria Zilling Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers
  8. Rohrbacher/Schmidt, Judenbilder S. 18
  9. Theologische Realenzyklopädie, a.a.O. S. 257
  10. Tripod.com: Blood Libel - A History of Groundless Anti-Semitic Fables („Grundlose antisemitische Fabeln“ (englisch)
  11. Jewish Encyclopedia: Blood Accusation.History
  12. Andreas Heusler, Tobias Weger: Kristallnacht. Gewalt gegen die Münchner Juden im November 1938 (mit Stadtgeschichte)
  13. Josef Kastein: Eine Geschichte der Juden, daraus: Der Prozess gegen den Talmud
  14. Rita Voltmer, Franz Irsigler: Die europäischen Hexenverfolgungen der Frühen Neuzeit - Vorurteile, Faktoren und Bilanzen
  15. Neue Zürcher Zeitung (26. Juli 2000): Die frühesten Dokumente zum Hexensabbat
  16. Raimund Elfering: Die „Bejlis-Affäre" im Spiegel der liberalen russischen Tageszeitung „REČ’" (pdf) S. 14
  17. Raimund Elfering, a.a.O. S. 15-18
  18. Hansjakob Stehle (Zeit.de): Blick ins päpstliche Geheimarchiv. (Rezension von David Kertzer, Die Päpste gegen die Juden)
  19. Johannes Schmitt: „Des Satans Synagoge": Katholischer Antisemitismus (I). Die Päpste im 19. und frühen 20. Jahrhundert
  20. Heinrich Graetz: Damaskusaffäre
  21. Jewish Encyclopedia, Blood Accusation pronounce false
  22. Jewish Encyclopedia: Joachim Heinrich Biesenthal
  23. Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Gefälschte Talmudzitate. Dr. Kroner, Dr. Bloch und der Prozess Rohling/Bloch vom November 1885
  24. Bautz: August Rohling
  25. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 355
  26. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 358
  27. NS-Archiv Dokumente zum Nationalsozialismus: Heinrich Himmler: Ein Auftrag an Ernst Kaltenbrunner
  28. Peter Kenez: Antisemitism in Post World War II (englisch)
  29. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 360
  30. Rohrbacher/Schmidt, a.a.O. S. 362
  31. Ritualmord-Propaganda der American Promises Organisation: The Torture And Death of Saint Simon of Trent (englisch)
  32. Artikel über den Cartoon im „Independent" (englisch)
  33. MEMRI: Saudi-arabische Zeitung über die 'schrecklichen Gebräuche' der Juden zum Purimfest (15. März 2002)
  34. Michael Borgstede: Hisbollah und Syrien kooperieren: Judenhass im Vorabendprogramm
  35. Etica.com: Gegen das Unfehlbarkeitsdogma

Literatur

  • Susanna Buttaroni, Stanislaw Musial: Ritualmord. Böhlau Verlag 2002, ISBN 3205770285
  • Alan Dundes: The Blood Libel Legend: A Casebook in Anti-Semitic Folklore. The University of Wisconsin Press, 1992, ISBN 0299131106 (englisches Standardwerk)
  • Rainer Erb: Die Legende vom Ritualmord. Metropol 1993, ISBN 392689315X
  • Hannelore Fieg: Ritualmord und Satanskultbeschuldigungen in Spätantike, Mittelalter und früher Neuzeit. Christen und Juden, Ketzer und Hexen, Diplomarbeit Universität Innsbruck 2000
  • Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1914) Berlin: Metropol, 2002. ISBN 3932482840
  • David I. Kertzer: Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus. List Tb, 2004, ISBN 3548603866
  • Hannelore Noack: Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten. Antisemitische Aufwiegelung durch Verteufelung der Juden. University Press für wissenschaftliche Literatur GmbH, Paderborn 2001, ISBN 3935023995
  • Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3525362676
  • Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55498-4 (S. 269-291: Ritualmord und Hostienfrevel; S. 304-368: Die Barbarei längst verflossener Jahrhunderte)
  • Georg R. Schroubek: Zur Kriminalgeschichte der Blutbeschuldigung. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Nr. 65, 1985, S. 2-17
  • Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Wallstein Verlag, Göttingen 2002, ISBN 3892446121
  • Gerhard Muller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie Band 29, Religionspsychologie - Samaritaner. Walter de Gruyter, 1998, ISBN 3110161273 (Artikel Ritualmord, S. 253-265)
  • Israel J. Yuval: Vengeance and Damnation, Blood and Defamation: From Jewish Martyrdom to Blood Libel Accusations. (hebräischer Aufsatz): Zion 58, 1993, S. 33-90.

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