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Antijudaismus im Neuen Testament

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Antijudaismus im Neuen Testament thematisiert Wurzeln des christlichen Antijudaismus, die nach traditioneller Lesart im Neuen Testament zu finden seien.

Einleitung

Auf eine Reihe von neutestamentlichen Texte beriefen sich Kirchen, christliche Regierungen und Bevölkerungsmehrheiten häufig, um Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Minderheiten in der Geschichte Europas zu rechtfertigen. Ein Teil der dadurch zustande gekommenen antijudaistischen Vorurteile und Klischees bereitete den späteren Antisemitismus vor und wirkte mit diesem zusammen bis hin zum Holocaust an den europäischen Juden.

Dass das Neue Testament Antijudaismus enthalten und rechtfertigen konnte, analysierte und kritisierte unter anderen 1900 der französische Altertumsforscher Jules Isaac[1]. Im Einzelnen stellte er fest, dass das Pharisäerbild der Evangelien das Judentum verzerrt darstellte und damit zur Verachtung der Juden im römischen Reich beitrug und dass die Polemik gegen die Pharisäer bereits im Johannesevangelium zum Klischee „des Juden“ umgedeutet wurde. Daraufhin seien Jesu Gerichtsworte an seine Generation als endgültige Verwerfung aller Juden missdeutet und das „Verstockungsmotiv“ in Apg 28,26f – in der prophetischen Tradition Umkehrpredigt an Juden (so in Jes 6,9f) – zum Merkmal des Judentums verallgemeinert worden.

Isaac erklärte die antijüdische Polemik im Neuen Testament - wie die antichristliche Polemik im späteren Talmud - aus dem wechselseitigen Abgrenzungsprozess von christlichen und jüdischen Gemeinden im Kontext des jüdisch-römischen Konflikts in Palästina des 1. Jahrhunderts. Antijudaismus ist demnach kein generelles Kennzeichen des NT. Er wird großenteils aus seiner Entstehungssituation erklärt und damit relativiert.

Die antijudaistische Theologie

Die Patristik, die die großkirchliche Theologie begründete, verknüpfte bereits im 2. Jahrhundert vier antijudaistische Glaubenssätze miteinander:

Ausgangspunkt dafür war die These vom „Gottesmord“: Indem Israel als Volk Gottes den Sohn Gottes getötet habe, habe es sich und alle seine Nachfahren selbst auf ewig vom Heil ausgeschlossen. Die Juden wurden damit zu dauernden Gegenspieler des wahren Gottes und seiner Gläubigen[2].

Jules Isaac zufolge Die setzten die Kirchenväter die Ablehnung Jesu durch die jüdische Mehrheit mit der Schuld an seinem Tod, also dem christlichen Glaubenszentrum, gleich. Die endgültige Vergebung, die in dem Markusevangelium Jesus am Kreuz durch die Übernahme des Endgerichts für sein Volk und alle Menschen erwirkte (Mk 15,33f), wurde zur ewigen Schuldanklage und Schuldbehaftung Israels im Gegensatz zur bereits geretteten Christenheit umgedeutet. Demnach konnte Israels „Verwerfung“ nur noch endgültig sein, seine Rettung nur noch in der Kirche liegen.

In der Kirchengeschichte wurde die kerygmatische Schuldbehaftung des Gottesmord zur kollektiven Verdammung des Judentums. Denn Jesus war für Christen seit dem Bekenntnis von Nicäa (325) als Sohn Gottes das gottgleiche Wesen Gottes unter den Menschen: Wer ihn getötet hatte, hatte Gott selbst getötet.

Die Psychoanalyse[3] deutet diese Anschuldigung als Projektion und Verdrängung. Christen rächten sich an den Juden, deren Unglaube an Jesus sie bleibend an ihren eigenen Unglauben an die letztgültige Erlösung von Sünde und Tod erinnerte:

Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können. [4]

Die traditionelle Exegese[5] hat oft die christliche Offenbarung und Schuldzuweisung gegenüber den Juden eng miteinander geknüpft, indem sie Jesu Tod aus einem angeblich fundamentalen Gegensatz seiner Verkündigung zum Judentum erklärt: damalige jüdische Autoritäten hätten Jesus wegen seiner Gebotsübertretungen, die die Tora außer Kraft setzen wollten, und wegen der Unvereinbarkeit seiner Messiaswürde sei mit dem jüdischen Messiasglauben verurteilt und beseitigt; sein freiwilliges Opfer habe den jüdischen Gottesdienst beendet und seine Kreuzigung habe das Judentum insgesamt ins Unrecht gesetzt und dessen Heilsweg beendet.

Dieses Bild hat sich in der heutigen neutestamentlichen Exegese nicht erhalten. Jesu Verhältnis zur Tora und die Gründe für seine Hinrichtung werden differenziert: damalige innerjüdische Konflikte werden von den wahrscheinlichen Ursachen des römischen Todesurteils unterschieden. Aufgrund der unsicheren Quellenlage sind die Ergebnisse weiterhin vielfältig und umstritten.

In der Forschung der Nachkriegszeit haben viele – meist nichtchristliche – Autoren politische Motive für Jesu Kreuzigung ausgemacht, in denen das jüdische Volk und der Sanhedrin eine Nebenrolle gehabt hätten[6]. Christliche Historiker dagegen weisen die Initiative zur Verurteilung Jesu dem Sanhedrin zu[7].

Gottesmord und Schuldzuweisung im Neuen Testament

Einige Texte des Neuen Testament werden besonders oft als antisemitisch eingestuft. In diesen Texten kommt ein Bündel von Motiven zum Ausdruck, die sich um den Gottesmord und um die kollektive Schuld an diesem Mord gruppieren. Die Themen die dort vorkommen sind außerhalb der biblischen Exegese und der christlichen Theologie selten Objekt der Forschung gewesen und gelten für viele als Beweis eines dem Christentum innewohnenden Antisemitismus.

Mord an Jesus und Prophetenmord

Im Neuen Testament – außerhalb der Evangelien – wird oft die Kollektivschuld an dem Mord an Jesus erwähnt und angeprangert. Dieser Mord wird mit dem Prophetenmord gleichgesetzt und die Formulierungen und Schuldzuweisungen sind die gleichen, die bereits Jesus in den Evangelien verwendete, um die Kollektivschuld für den Mord an den Propheten anzuprangern. Adressaten dieser Schuldzuweisungen sind das jüdische Volk (1. Thess 2,15), der Sanhedrin (Apg 4,10; 5,30; 7,52), Jerusalems Einwohner (Apg 2,23.36; 3,13-15; 13,27-29), die gleichzeitig auch als Zeugen des Unrechts beansprucht werden (Apg 2,36; 4,10). Wo auch eine Schuld oder Mitverantwortung einzelner Machthaber erwähnt wird (Lk 23,12; Apg 4, 27f), geschieht es um die Einmütigkeit des Mordes zu betonen.

In einer einzigen Stelle wird die Verantwortung an dem Tod Jesu von den Menschen gelöst (1. Kor 2,7f): Was dort hervorgehoben wird ist das Unverständnis der „Herrscher dieser Welt“, des Satans, für das Geschehene und deren Täuschung, was als Parallelmotiv zu dem „Triumph des Kreuzes“ (Kol 2,14f) betrachtet werden kann.

Der Vorwurf des Prophetenmords ist ein Motiv, das öfter auch im Alten Testament vorkommt als Bußpredigt von Juden an andere Juden[8]. Dieser Vorwurf wird einmal in 1. Thessalonicherbrief von stereotypen Anschuldigungen begleitet, die eine lange Tradition in den Ächtungstexten der Antike haben und auch im Alten Testament als antijüdische Hetzen vorkommen (z.B. Est 3,8ff): Von Paulus sind diese mit dem Hindernis begründet, das die Juden seiner Verkündigung entgegenstellen[9].

Das Gleichnis von den Weingärtnern

Der Prophetenmord kommt in den Synoptischen Evangelien auch in dem Gleichnis von den Weingärtnern (Mt 21,33-46; Mk 12,1-12; Lk 20,9-19) vor. Das Gleichnis wird bereits im Text als Mordanschuldigung erklärt und wird unmittelbar von der Anforderung Jesu gefolgt, die Verse des Psalters:

Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen. -- Ps 118,22-23

zu deuten.

Das antijudaistische Dogma der „Verwerfung“ des ganzen Gottesvolks wurde aus den Schlussworten des Gleichnisses abgeleitet:

Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: 'Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!' Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. - Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. -- Mk 12,8 || Lk 20,15[10],

was als Verlust der Erwählung Israels und deren Übergabe an die Christen gedeutet wurde, denn der Weinberg wird schon im Alten Testament oft als Metapher für das erwählte Volk in seiner Beziehung zu Gott verwendet.

Exegeten[11] haben den Passus als Ankündigung der Ablösung der damaligen Führung Israels gedeutet: Die „Weingärtner“ seien im Kontext (Mk 11,27) die Tempelpriester, die zur Oberschicht der Sadduzäer gehörten und als „Pächter“ das von Gott geschenkte Land Israel verwalteten. Sie werden im Stil prophetischer Gerichtspredigt fortgesetzten Unrechts angeklagt. Der Prophetenmord wird gesteigert bis hin zur Tötung des Gottessohns. Dies sei als innerjüdische Distanzierung zu verstehen: Die Gemeinden, an die das Markusevangelium sich wandte, lebten noch im Raum Palästinas auf dem Boden jüdischer Traditionen. Demgemäß sei auch die Erwähnung des Psalm 118 gegen die religiöse Führer, nicht das jüdische Volk insgesamt zu verstehen.

René Girard[12] hat das Motiv der Ausstoßung des Gleichnis der Weinberger und des Psalm 118 mit dem „Stein des Anstoßes“ in Jes 8,14-15; 28, 16-17 und dem Ärgernis der Evangelien in Verbindung gebracht. Was als Verwerfung des jüdischen Volkes oder seiner religiösen Führer gilt, ist in der Auffassung Girards nichts anderes als die so oft in den Evangelien vorkommende Offenbarung des blutigen Charakter der opferkultischen Religion, die auf den Mechanismus der Ausstoßung des Opfers gründet. Dem ewigen Hindernis (skandalon) der Idolatrie und des Opferkultes für das Volk Israel folgt das Hindernis der Offenbarung des Opfermechanismus durch die Propheten und Jesus, der die Rolle des Opfer unter aller Augen übernimmt: Der offengelegte Mechanismus wird zum Ärgernis (skandalon) weil er nicht mehr funktioniert und nur noch Blutvergießen hervorbringt. In diesem Sinne seien aber die abschließenden Versen des Passus Und wer auf diesen Stein fällt, der wird zerschellen; auf wen aber er fällt, den wird er zermahlen. (Mt 21, 44 || Lk 20, 18) nicht als Verwünschung, sondern zusammen mit Mt 11, 6 || Lk 7, 23 zu lesen: ... und selig ist, der nicht Ärgernis nimmt an mir.

Die Selbstverfluchung

Im Matthäusevangelium auf die Selbstentlastung des Pilatus von der Schuld am Tod Jesu folgt die Selbstbelastung der Volksmenge: Und das ganze Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! (Mt 27,25).

Auf alle Nachkommen Israels bezogen, wanderte der Satz als festes Stereotyp in die Adversos-Iudaeos-Literatur der Kirchenväter ein. Er prägte die christliche Volksfrömmigkeit und begleitete seit dem 4. Jahrhundert die Ausgrenzung und blutige Verfolgung jüdischer Gemeinden im christianisierten Europa. Die oft im Kontext kirchlicher Passionsspiele ausgelösten Pogrome wurden dann als Erfüllung des „Fluchs“ ausgegeben. Damit wurde die Schuld des Christentums am Leiden der Juden auf diese zurückprojiziert.

Heutige Exegeten wenden sich unter dem Eindruck dieser Wirkungsgeschichte dem Text zu. Klaus Haacker zufolge ist die Textstelle im Matthäusevangelium nicht als Fluch wegen eines Justizmord zu deuten: Der Satz betont nur die Überzeugung der Meute, dass Jesus den Tod verdient habe. Das Einbeziehen der „Kinder“ in die Selbstverfluchung bringt eine traditionelle Auffassung zum Ausdruck, nach der ungesühntes Unrecht Auslöser für Unheil in der Folgegeneration ist[13].

Die Weherufe gegen Schriftgelehrten und Pharisäer

Die Evangelien stellen die Pharisäer als einheitliche Gruppe und Vertreter einer streng orthodoxen Gesetzesobservanz dar. Sie werden oft zusammen mit den „Schriftgelehrten“ genannt und treten als Gegner Jesu auf, die Anstoß an seiner Lehre nehmen. In Streitgesprächen nehmen sie die Rolle der rhetorisch spitzfindigen Frager ein, die Jesus in die Enge treiben wollen, um einen Grund für seine Verurteilung zu finden. Manchmal wird auch eine etwas abweichende Darstellung angeboten: gerade in Jerusalem sind sie Jesu Gesprächspartner, die seiner Toraauslegung teilweise zustimmten (Mk 12,28-34) und der damals wohl berühmte Schriftlehrer, Rabbi Gamaliel, tritt im Sanhedrin als Fürsprecher der Urchristen auf (Apg 5,34-39)[14].

Die Verzerrung, die die umgangssprachliche Gleichsetzung von „Pharisäer“ mit „Heuchler“ begründete, ist den sogenannten Weherufen gegen die Pharisäer entnommen (Mt 23, 13-36, Lk 11, 38-52), eine Reihe von Fluchrufen, die von der Formel Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, ... eingeleitet sind und die in den Vorwurf des Prophetenmord mündet:

... Denn ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten und sagt: Wären wir in den Tagen unserer Väter gewesen, so würden wir uns nicht an dem Blut der Propheten schuldig gemacht haben. So gebt ihr euch selbst Zeugnis, daß ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben. -- Mt 23, 29-31.

Es ist hervorgehoben worden, dass die Weherufe in Verbindung mit der Kritik der Prophetenbücher[15] an den Opferpraktiken zu setzen sind. R. Girard zufolge schließen die Grabmäler der Propheten den heiligende Opferzyklus, der von dem einträchtigen Mord an den Propheten geöffnet wurde und durch Opferriten am Leben gehalten wird[16]. Die Anklage Jesu sei nicht gegen eine bestimmte Gruppe des Jüdischen Volks gerichtet: Objekt dieser Anklage ist vielmehr die religiöse Mythisierung des Blutvergießens, ein Verfahren, das der ganzen Menschheit gemeinsam ist, wie in Mt 23, 35 (..alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde, ...) und in Lk 11, 50 (...das Blut aller Propheten, das von Grundlegung der Welt an vergossen worden ist, ...) in den Worten Jesu angedeutet wird.

Die Juden des Johannesevangelium

Die Verwendung des Gesamtbegriffs „Die Juden“ im Johannesevangelium, um die Gegner Jesu zu bezeichnen, die seine Offenbarung verweigern, wird in der neutestamentlichen historisch-kritischen Exegese anhand der Trennung christlicher Gemeinden Kleinasiens – aus deren Tradition das Johannesevangelium stammt – von dem Judentum erklärt. Daran komme keine generelle Verurteilung des Judentums zum Vorschein, sonder eine aktuelle Situation.

Eine der Textstellen des Johannesevangelium, denen ausdrücklicher Antisemitismus unterstellt wird, ist eine Rede, in der Jesus die Mordansichten seiner Gegner anprangert:

Warum versteht ihr meine Sprache nicht? Weil ihr mein Wort nicht hören könnt. Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an und stand nicht in der Wahrheit, weil keine Wahrheit in ihm ist. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und der Vater derselben. Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht. -- Joh 8, 43-45.

Selbst wenn Jesus Israels Erwählung zum Volk Gottes ausdrücklich betont (Joh 43, 37) – und auch an anderen Stellen des Johannesevangelium die Vorrangstellung der jüdischen Glaube bekräftigt wird (z.B. Joh 4, 22) –, scheint der Satz das Judentum als Satansbrut zu verdammen und als teuflischen Gegenspieler Jesu zu fixieren. Diese widersprüchliche Lesart erübrigt sich in der Interpretation des Textes als Hinweis auf die Verbindung zwischen Grundungsmord, Lüge und Satan, die durch R. Girard vorgeschlagen worden ist[17]: Jesus offenbart in diesem Abschnitt der Sinn der Mordansichten seiner Gegner. Die Prophetenmorde und der Mord an Abel der Synoptischen Evangelien kommen hier lediglich als Menschenmord vor, als Ergebnis der Lüge des Opferkultischen Gewalt zum Vorschein, wenn man den „Menschenmörder von Anfang an“ mit dem Prinzip der heiligenden Gewalt, des Sündenbockmechanismus, identifiziert, wie jeder Hinweis auf Satan, der im Neuen Testament zu finden ist, nahe legt[18].

Antijudaismus und Neues Testament nach 1945

Angesichts der nachhaltigen Wirkungsgeschichte des christlich motivierten Antijudaismus hat in der christlichen Exegese der letzten Jahrzehnte ein allmähliches Umdenken eingesetzt. Jahrhunderte lang eingeübte antijudaistische Vorurteile beim Auslegen des NT werden nun hinterfragt. Mit der Historisch-kritischen Methode wurde intensiv versucht, den ursprünglichen Sinn und Kontext der Aussagen im Neuen Testament, die als judenfeindlich wahrgenommen wurden, freizulegen und sie gegebenenfalls theologisch zu kritisieren.

Der interreligiöse Dialog

Das eingeleitete Umdenken hat dazu beigetragen, die Voraussetzungen für die Erneuerung des Dialogs zwischen Christen und Juden zu schaffen. Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) intensivierte sich dieser Dialog seit den Kirchentagen der 1960er Jahre: Während christliche Historiker und Theologen die neutestamentliche Verkündigung stärker aus dem Alten - heute auch genannt: Ersten - Testament erklärten, setzte auch auf jüdischer Seite eine „Heimholung“ des Rabbis (Tora-Lehrers) Jesus von Nazaret ins Judentum ein.

Während auf katholischer Seite das 2. Vatikanische Konzil 1965 eine neue Hinwendung zu Israel und Auseinandersetzung mit dem christlichen Schuldanteil am Holocaust begründete, setzte auf evangelischer Seite der Rheinische Synodalbeschluss von 1980 einen Meilenstein für die Revision und Präzisierung kirchlicher Lehraussagen. Diesen Prozess haben inzwischen eine Reihe von Landeskirchen der EKD nachvollzogen. Kernaussage ist das Bekenntnis zum „ungekündigten Bund“: Israel sei und bleibe das erwählte Volk Gottes, das als solches die Wurzel der Kirche sei. Nur auf diesem Grund sei die Botschaft von Jesus Christus Gnade für alle Völker. Die Auswirkungen dieser theologischen Klärung auf sämtliche kirchliche Aufgabenbereiche wie auch den staatlichen Religionsunterricht und den allgemeinen Religionsdialog sind noch nicht absehbar.

Theologische Ansätze

Einige Theologen haben die Frage ins Zentrum gerückt, ob die Ablehnung des Judentums für das NT und die Entstehung des Christentums notwendig und konstitutiv war. In der Holocausttheologie der USA vertritt etwa Rosemary Radford-Ruether die These, Judenfeindschaft sei von Beginn an ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens gewesen. Auch der deutsche Neutestamentler Ulrich Wilckens hält Anti-Judaismus für ein unaufgebbares Implikat der urchristlichen, besonders der paulinischen Lehre. Sein Kollege Peter von der Osten-Sacken plädiert deshalb für einen „theologischen Besitzverzicht“: Christen sollten auf die Rede vom „Messias Israels“ verzichten, da diese Grundaussage ihres Glaubens nur als gegen die Existenz des Judentums gerichtet zu verstehen sei.

Die Mehrheit der christlichen Historiker und Theologen widerspricht dieser Ansicht jedoch und hebt hervor, dass gerade der urchristliche Glaube eine fundamentale Bejahung des Judentums beinhalte und fordere. Nur von daher sei eine gründliche Revision der europäischen Kirchengeschichte und eine Erneuerung des Verhältnisses zu Israel möglich. Die Kirchen sind dieser Linie in den letzten Jahrzehnten gefolgt und haben ihr Verhältnis zum Judentum dogmatisch wie ethisch, liturgisch wie praktisch einer gründlichen Prüfung unterzogen.

Der anthropologische Ansatz René Girards

Der katholische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René Girard hat in vielen seiner Bücher die alt- und neutestamentlichen Texte als Objekt seiner anthropologischen Forschung gemacht. In seiner Arbeit hat Girard die Aspekte der biblischen Offenbarung thematisiert, die von der modernen Forschung entweder nicht betrachtet oder explizit verworfen werden: die Figur des Satans, den kollektive und einträchtige Mord, die kollektive Schuld an dem Mord. Nach Girard hat sich eine traditionelle Lesart der entsprechenden Texte eingebürgert, die dem Antijudaismus ausgeliefert ist, weil sie das eigentliche anthropologische Objekt der biblischen Lehre ausblendet. Natürlich könne man die neutestamentlichen Schuldzuweisungen des Antijudaismus verdächtigen, aber nicht weniger als die alttestamentlichen und nur solange man sie voneinander getrennt liest und die Offenlegung des Sündenbockmechanismus als Leitfaden aller dieser Texten nicht wahrnimmt. Wenn man aber diese wahrnimmt, so erkennt man die unvermeidbar universelle Tragweite aller biblischen Mordanschuldigung: Die biblische und die christliche Offenbarung hätten nicht den Wert, den man ihr anerkennen muss, wäre sie gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen ausgerichtet gewesen. Doch dabei handle es sich um einen verhängnisvollen Teufelskreis:

Wenn die wahre Bedeutung dieser Texte noch immer verkannt wird, so liegt das gerade and der antijüdische Deutung, die man ihnen unterstellt. ...
Die Evangelien sind nicht judenfeindlich, doch solange man die Bedeutung des Grundlegendes Mordes in den Testen, aus denen sich der christliche Antisemitismus nährt, nicht allgemein anerkannt ist, werden sich viele Christen auch weiterhin genötigt fühlen, zwischen einem antisemitischen Evangelium und dem Evangelium überhaupt zu wählen. Man darf nicht den Evangelien die verengte antijüdische Lektüre vorwerfen, der man sie unterzieht. Die Ankläger der Evangelien halten es für zweifelsfrei, daß die traditionelle Lesart die richtige und einzig mögliche ist. Ihr negativer Konservativismus wäscht die Christen völlig von ihrem eigenen Antisemitismus rein, der wohlgemerkt höchst real ist...[19]


Quellen

  1. Jules Isaac, Jesus et Israel, Paris, 1948
  2. [...Quellenangabe ...]
  3. [...Quellenangabe ...]
  4. M. Horkheimer, T.W. Adorno, Elemente des Antisemitismus, 1944.
  5. [...Quellenangabe ...]
  6. Paul Winter, On the trial of Jesus 1961; Haim Cohn, The Trial and death of Jesus 1967; David Flusser, Die letzten Tage Jesu in Jerusalem 1982; Pinchas Lapide, Wer war Schuld an Jesu Tod? 1987
  7. Joseph Blinzler, Der Prozess Jesu 1969; Gerhard Lohfink, Der letzte Tag Jesu. Die Ereignisse der Passion 1981; August Strobel, Die Stunde der Wahrheit. Untersuchungen zum Strafverfahren gegen Jesus 1980; Otto Betz, Probleme des Prozesses Jesu 1982; Rudolf Pesch, Der Prozess Jesu geht weiter 1980; Peter Stuhlmacher, Warum musste Jesus sterben? 1988.
  8. Siehe u.a. 1.Kön 19,10; Jer 2,30; Neh 9,26; Esr 9,11.
  9. Denn, Brüder, ihr seid Nachahmer der Gemeinden Gottes geworden, die in Judäa sind in Christus Jesus, weil auch ihr dasselbe von den eigenen Landsleuten erlitten habt, wie auch sie von den Juden, die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns verfolgt haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen feindlich sind, indem sie - um ihr Sünden[maß] stets voll zu machen - uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit die errettet werden; aber der Zorn ist endgültig über sie gekommen. -- 1. Thess 2,15-16.
  10. René Girard hat im Bezug auf auf die Frage Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? hervorgehoben, dass in Mt 21,41 nicht Jesus sonder das Volk die Antwort Er wird jene Übeltäter übel umbringen, und den Weinberg wird er an andere Weingärtner verpachten ... gibt. R.Girard, Das Ende der Gewalt, Freiburg, 1983
  11. [...Quellenangabe ...]
  12. Livre III in Des choses cachée depuis la fondation du monde, Paris 1978 (Buch III fehlt in der deutschen Übersetzung).
  13. Siehe u.a. 1. Kön 22; 2. Kön 1 und 9; Est 7, 10; 9, 6-14.
  14. Von Rabbi Gamaliel überliefert der Talmud dieselbe Kritik an der Heuchelei, die die Evangelien Jesus in dem Mund legen: Lasst keine Schülerin und keinen Schüler (Jünger), die innerlich nicht das sind, was sie äußerlich sind, in das Lehrhaus eintreten. -- (Berakot 28a).
  15. Siehe u.a. Jes 1, 11-16, Jer 6, 20, Hos 5, 6; 6, 6; 9, 11-13, Am 5, 21-25.
  16. René Girard, Das Ende der Gewalt; Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, München, 2002; Die Frage des Antisemitismus in den Evangelien in: Die verkannte Stimme des Realen, München, 2005
  17. René Girard, Das Ende der Gewalt.
  18. Siehe dazu Der Teufel in der religiösen Reflexion der Gegenwart; R. Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz; Celui par qui le scandale arrive, Paris, 2001
  19. R. Girard, Die verkannte Stimme des Realen, S. 127-128


Siehe auch


Literatur

  • Schalom Ben-Chorin: Antijüdische Elemente im Neuen Testament. In: Evangelische Theologie (Zeitschrift) Band 40, 1980, S. 203-214
  • René Girard, Das Ende der Gewalt, Herder, Freiburg 1983
  • René Girard, Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz, Hanser, München 2002
  • René Girard, 'Die verkannte Stimme des Realen,Hanser, München 2005
  • Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge. Neukirchener Verlag 2002, ISBN 3788718366
  • Dagmar Henze, Claudia Janssen, Stefanie Müller, Beate Wehn: Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten. Christian Kaiser Verlag, TB 149, Gütersloh 1997, ISBN 3579051490
  • Rainer Kampling: Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversos-Judaeos-Literatur. In: H. Frohnhofen (Hrsg.): Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Hamburg 1990, S. 121-138
  • Rainer Kampling: Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel. Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2002, ISBN 3460004711
  • Rosemary Radford Ruether: Brudermord und Nächstenliebe. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus. Christian Kaiser, München 1987, ISBN 3459011319
  • Carsten Peter Thiede, Urs Stingelin: Die Wurzeln des Antisemitismus. Judenfeindschaft in der Antike, im frühen Christentum und im Koran. Brunnen-Verlag, Gießen 2002, ISBN 3765512648