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Schwarzbuch Kapitalismus

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Das Schwarzbuch Kapitalismus ist ein 1999 erschienenes Buch von Robert Kurz.

Die kapitalistischen Staaten der Gegenwart und der Vergangenheit werden als ein „System der totalitären Weltmarkt-Demokratien“, als „totalitärer Markt“, „sozialökonomischer Totalitarismus“ beschrieben. Die kapitalistischen Diktaturen und Demokratien sind nach Aussage des Autors nicht die Überwindung des Totalitarismus sondern seine Vollendung, der „freie Markt“ totalitärer als der totalitäre Staat, welcher nur williger Erfüllungsgehilfe der Marktwirtschaft sei. Der Kapitalismus zerstöre sich selbst, da er alles der „entfremdeten Arbeit, dem Geldeinkommen und Warenkonsum unterordnet“ und da er zur „Entzivilisierung der Welt“ führe.

Am Ende des Buch fordert der Autor auf, aufzustehen „gegen die kapitalistische Krisenverwaltung jeglicher Couleur mit ihrer trostlosen Perspektive von demokratischer Zwangsarbeit und Billiglohn-Sklaverei“.

Inhalt

Er zählt die Opfer des Kapitalismus auf - die Opfer der Kriege, von Hunger, Armutskrankheiten und Umweltzerstörung. Die soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit sei „nur die Vollendung des Faschismus mit anderen, gemeineren Mitteln". Auch die Staatswirtschaft der sozialistischen Staaten bezeichnet er als Kapitalismus, da sich die dortigen Bürokraten in Wahrheit nach den Richtlinien und Dogmen des kapitalistischen Weltsystems verhielten und nach dessen Kriterien den westlichen Kapitalismus überflügeln wollten - durch höhere Arbeitsproduktivität, mittels Zinswirtschaft und höherer Effizienz.

Den Ideologen der Marktwirtschaft, des Neoliberalismus und Kapitalismus (unter anderem auch den Autoren des „Schwarzbuch des Kommunismus") wirft er vor, einseitig die russischen, chinesischen und antikapitalistischen Revolutionäre wegen Gewaltanwendung zu verurteilen, nicht jedoch ihre Gegner, den Zarismus und die kapitalistischen Tyranneien - und nicht die prokapitalistischen bürgerlichen Revolutionen in England (1648), in Frankreich (1789) und den USA (1777), wo es sich um blutige Gemetzel gehandelt hat, wie in der Analyse des Autors die Geschichte der Durchsetzung und der Herrschaft des Kapitalismus überhaupt mit Hunderten Millionen Todesopfern, mit Folter, Elend, hoher Kindersterblichkeit, Armutkrankheiten, Massenmorden, Terror, Zwang, Unfreiheit, Kriegen, Menschenhandel, Zwangsarbeit, Zwangs- und Kinderprostitution, Obdachlosigkeit, Massenenteignung und Hungersnöten begleitet ist. Er wirft auch dem gegenwärtigen Kapitalismus - der „freien Welt" und der Marktwirtschaft - vor, durchaus gleiche bzw. weitaus höhere Opferzahlen als der Kommunismus zu produzieren, z.B. innerhalb der „Dritten Welt" pro Tag über 100.000 Hungertote, jährlich 7 Millionen verhungerte Kinder, in beiden Weltkriegen etwa 75 Millionen Kriegstote. Dagegen und gegen die Säulen, Verteidiger und Repräsentanten des Kapitalismus gewaltsam vorgegangen zu sein, kann nach Meinung des Autors kein Vorwurf sein.

Robert Kurz schlägt vor, die Reichtümer der Erde, die Bodenschätze, die Landwirtschaft und die Maschinen so einzusetzen, „dass allen Menschen ein gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger gewährleistet ist". Als ersten Schritt rät er, „sich der Gehirnwäsche durch den Kapitalismus/Wirtschaftsliberalismus zu entziehen".


Darstellung der einzelnen Kapitel

Prolog

Der Ausgangspunkt des Buches bildet die Feststellung Kurz', dass das kapitalistische Gesellschaftssystem sich so absolut gesetzt habe „wie noch kein Gesellschaftssystem in der menschlichen Geschichte“ (4) vor ihm. Dies drücke sich nicht nur durch eine Verfälschung, sondern durch den Versuch einer vollkommenen Auslöschung seiner Geschichte aus. Es wolle so einen „homo oeconomicus“ schaffen, der quasi „im Zeithorizont eines kleinen Kindes; nämlich in einer ewigen Gegenwart von Markthandlungen“ lebe. Um in diesem Kontext eine neue Alternative wieder denken zu können, müsse zuerst der scheinbar „ahistorisch gewordene Kapitalismus“ historisiert werden (5). Erst dann sei eine „Überwindung der Marktwirtschaft“ und der Beginn einer „anderen Geschichte“ möglich (6). Diese Historisierung durchzuführen ist Kurz’ Anliegen auf den folgenden knapp 800 Seiten des Buches.

Kapitel 1: Modernisierung und Massenarmut

Im ersten Kapitel versucht Kurz anhand verschiedener empirischer Beispiele eine seiner Grundthesen zu belegen, dass der Kapitalismus bezüglich der Wohlfahrtssteigerung eine „verheerende“ Gesamtbilanz aufweise (7). Kurz konzidiert zwar, dass durch den Kapitalismus „die Entwicklung der Produktivkräfte verwissenschaftlicht und ihre Entwicklung ungeheuer beschleunigt“ wurde (7). Eine „Steigerung der Wohlfahrt war damit jedoch merkwürdigerweise immer nur zeitweilig verbunden, begrenzt auf bestimmte soziale Segmente und Weltregionen“ (7). Der Kapitalismus sei niemals imstande gewesen, „die von ihm hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des Lebens aller Menschen anzuwenden, die er unter sein Gesetz gezwungen hat. Dieses Defizit ist bis heute nicht kleiner, sondern im Gegenteil hinsichtlich der gesamten Weltbevölkerung immer größer geworden. Deshalb kann es sich dabei um keinen bloß zufälligen, äußerlichen Zusammenhang handeln, sondern es muß zum Wesen der Marktwirtschaft gehören, daß sie mit ihren eigenen Potenzen nichts Besseres anzufangen weiß“ (10).

Eine der empirischen Kernthesen von Kurz ist die Behauptung, es sei „der großen Mehrzahl der Menschheit [...] sowohl in der kapitalistischen Frühgeschichte seit dem 16. Jahrhundert als auch in dem Vierteljahrtausend von 1750 bis heute in nahezu jeder Hinsicht schlechter gegangen als im 14. und 15. Jahrhundert“. Kurz vergleicht das frühkapitalistische Europa mit einer „Danteschen Hölle der Verelendung [..], die in ihrer Dichte und Ausdehnung historisch beispiellos war und nur mit den Zuständen im heutigen Afrika (ebenfalls einem Schreckensprodukt des Kapitalismus) vergleichbar ist“ (8). Die fremdbestimmte Arbeitszeit der Massen sei während der Modernisierungsgeschichte im Vergleich zu allen vorkapitalistischen Gesellschaften exorbitant erhöht worden. Der Lebensstandard im industrialisierten 19. Jahrhundert hatte gerade einmal wieder „das Niveau des hohen Mittelalters [erreicht], ohne auch nur im entferntesten an den spätmittelalterlichen Standard des 15. Jahrhunderts heranzukommen“ (9). Die gesamte Geschichte des Frühkapitalismus sei durch einen steilen Absturz des Lebensniveaus gekennzeichnet. Selbst heute noch würde das Lebensniveau in vielen Ländern der Dritten Welt weit unter dem ihrer vorkolonialen und vorkapitalistischen Geschichte liegen.

Kurz betrachtet den Kapitalismus bzw. Liberalismus als ein Produkt „aus dem Geist des Absolutismus“ (13). Beide „gehören derselben historischen Entfesselungsbewegung des Geldes und der ‚abstrakten Arbeit‘ an“ (18). Der Liberalismus enthalte wie der Absolutismus ein totalitäres Moment, einen „Totalitarismus des Marktes“, dem sich die Menschen bedingungslos unterwerfen sollen. Die spätere Wendung des Liberalismus gegen die autoritäre staatsabsolutistische Doktrin - wie z.B. in der Französischen Revolution - sei „wie so oft in der Geschichte - bloß ein Vatermord innerhalb derselben historisch-gesellschaftlichen Konstellation“ gewesen (19).

Kapitel 2: Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz

Mit dem Beginn des 17. Jhd. sicherte sich nach Kurz das aufstrebende marktwirtschaftliche Unternehmertum „eine starke gesellschaftliche Stellung, war jedoch gleichzeitig nicht mehr an die traditionelle Struktur der autoritären Hierarchie gebunden“. Zur Legitimierung seiner spezifischen Interessen sah es sich daher genötigt, seine eigene Herrschaftsideologie hervor zu bringen. Es folgte einer „Formulierung einer Welterklärung und eines umfassendes Bild des Menschen, wie es seither für das gesamte westliche Denken der Moderne bis zum heutigen Tag hegemonial werden sollte und gegenwärtig dominierender ist als jemals zuvor“ (18). Kurz' Anliegen ist es nun, anhand zentraler Gestalten der europäischen Geistesgeschichte „die historischen Wurzeln dieser marktwirtschaftlichen Ideologie des sogenannten Liberalismus freizulegen“ (18). Dieser Abschnitt hat eine Schlüsselbedeutung im weiteren Gedankengang des Buches.

Thomas Hobbes

Der „große Stammvater des Liberalismus“ ist für Kurz Thomas Hobbes. Der Mensch sei für Hobbes ein prinzipiell egoistisches Wesen, das „von Natur aus“ einsamer als ein Tier ist und das um seine individuelle Selbsterhaltung kämpft. Der Naturzustand des Menschengeschlechts sei der „Krieg aller gegen alle“ („bellum omnium contra omnes“), der in Reinkultur überall dort vorzufinden ist, wo es noch keine institutionelle Zähmung gibt. „Freiheit“ bestehe für Hobbes darin, „zu kaufen und zu verkaufen und miteinander Handel zu treiben“, nicht etwa darin, sich nach eigenen Bedürfnissen und Vereinbarungen kooperativ zu verhalten (19). Die menschliche Gesellschaft werde von ihm als „eine Gesellschaft von Ungeheuern“ betrachtet, weswegen es einer übergeordneten Macht, des Staates, bedürfe, der den „menschlichen Raubaffen zur negativen Gesellschaftlichkeit zähmen sollte“ (21). Dieser Rechtfertigungsgedanke des „absoluten Staates“ aufgrund der missratenen „menschlichen Natur“ findet sich laut Kurz bis heute, z.B. in Texten von Ralf Dahrendorf, Vaclav Havel und Antje Vollmer.

Bernard Mandeville

Die Wendung des Konkurrenzstrebens zu einer positiven Eigenschaft - was Kurz als „Umwertung aller Werte“ bezeichnet (25) - wurde durch Bernard Mandeville vorgenommen. Der Mensch werde von ihm im Prinzip als faul, egoistisch und geldgierig betrachtet; durch die gegenseitige Konkurrenz könnten aber diese unschönen Eigenschaften eine Gesellschaft im Endresultat zu einer „blühenden Gemeinschaft“ machen. (25). Bei ihm werde erstmals eine Mentalität deutlich, dass sich die „Vertreter bürgerlicher Ehrbarkeit“ bis heute als zu etwas Besserem und zu Höherem berufen fühlten, „während es eine minderbemittelte Masse von Menschenmaterial geben muss, das zur ‚Arbeit’ schicksalhaft ausersehen, jedoch auf eine uneinsichtige und geradezu ‚unmoralische’ Weise störrisch und von Natur aus faul ist und einer starken Hand bedarf“ (26). Im Umgang mit den Armen und Schwachen werde das „Mit-Fühlen und Mit-Leiden bei Unglück und Elend anderer“ zu einem Gefühl der „schwächlichsten Gemüter“, vor allem der Frauen und Kinder erklärt, dem die Männer des Marktes nicht nachgeben dürften. Nach Mandeville gälte es, „selbst noch die Alten, Kranken und Schwachen, die Blinden und Lahmen in die Verwertungsmaschine des Kapitals einzuspannen und das Letzte an Reserven aus ihnen herauszuholen“; dies sei eine „Quelle, aus der ein Ronald Reagan und eineMargaret Thatcher, ein Newt Gingrich oder ein Graf Lambsdorff heute immer noch schöpfen“ (27).

Donatien de Sade

Übertroffen werde dieser Zynismus nur noch von de Sade, der die Ideologie vom „Recht des Stärkeren“ in einer radikalisierten Gestalt bis hin zum Mord vertrete (31). Im Umgang mit den Armen und Schwachen steigere sich de Sade geradezu in eine Art „existentiellen Hass“ hinein, indem er selbst noch gegen die kümmerlichste Staatsfürsorge der Armenhäuser hetze. Für Kurz formuliert de Sade bereits die Gedanken voraus, „die erst der Sozialdarwinismus an der Schwelle des 20. Jahrhunderts systematisieren und schließlich auf deutschem Boden in die gesellschaftliche Mordtat umsetzen sollte“ (30). Jegliches soziale Mitleid werde von ihm als eine negative „Natureigenschaft“ der Frau gebrandmarkt. Die Frau werde von de Sade „als Hündin des Mannes“ und als Sexmaschine herabgewürdigt, wobei die Sexualität auf einen puren physiologischen Akt reduziert werde, um sie von allen gefährlichen emotionalen Elementen zu reinigen und sie „gewissermaßen in einen (analog zum kapitalistischen Produktionsprozess) maschinellen Vollzug zu verwandeln“ (34).

Immanuel Kant und Adam Smith

Bei Immanuel Kant schließlich werde die Konkurrenz egoistischer Einzelner als Entwicklungsgesetz der Menschheit schlechthin genommen und auf ein geradezu göttliches Gesetz zurückgeführt (37). Kant betrachte den Mechanismus des weltumspannenden Kapitals „als ein Werk der ‚Hand Gottes‘“, als „Resultat eines von göttlicher Vorsehung bestimmten Gesamtzusammenhangs, einer ‚höheren Natur‘ des Systems“ (38).

Der Gedanke des „weisen Schöpfers“ bei Kant führe zu dem der „unsichtbaren Hand“ in der Theorie von Adam Smith. Noch wichtiger als deren „angeblich wohltätige Wirkungen“ sei für Smith „die Anbetung dieses säkularisierten Gottes, der keinen anderen neben sich duldet“. Das Bild von der „unsichtbaren Hand“ zeige, „wie das Weltbild der modernen Ökonomie systematisch auf dem der mechanischen Physik aufbaut“. Smith beteuere, dass „durch den besessenen Aktivismus der kapitalistischen ‚Macher‘ die größtmögliche Verbesserung und die bestmögliche Verteilung (die dennoch ganz selbstverständlich die Existenz von Bettlern einschließt!) erzielt werde, so dass sich jede Kritik erübrige“. Die Bedeutung der Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse werde herabgesetzt, „um die unabhängige und für sich seiende ‚Schönheit der Ordnung‘ und den Glanz der ökonomischen ‚Maschine‘, ‚der regelmäßigen und harmonischen Bewegung des Systems‘ zu verherrlichen“ (39). Smith habe das Weltbild der modernen Ökonomie entwickelt, das letztlich auf dem der mechanischen Physik aufbaue. Dies sei die Geburtsstunde der Nationalökonomie, das „ein historisches Wahnsystem der Menschheit mit dem Anspruch der Naturwissenschaft erforscht und gleichzeitig dessen Existenznotwendigkeit stets aufs neue ‚beweist‘“ (40).

Jeremy Bentham

Als letzten „Stammideologen“ des Liberalismus sieht Kurz Jeremy Bentham. Bentham propagiere das ethische Prinzip des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl“. Dieses Prinzip interpretiere den Kapitalismus als eine Gesellschaft, „die jedem Menschen das Recht gibt bzw. geben sollte, ‚sein Glück zu machen‘“ (42) wie es auch in der Formel des „pursuit of happiness“ (Streben nach Glück) der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika Eingang gefunden habe. Maßstab, wie dieser Nutzen objektiv gemessen werden könne, sei bei Bentham letztlich das Geld. Das Prinzip der allgemeinen Glücksmaximierung dürfe bei Bentham aber nicht dazu führen, dass das Eigentumsrecht in irgendeiner Weise angetastet werde; die Umverteilung nach unten sei von Übel und gehe an die Substanz des Reichtums (43). Die Akkumulationsbewegung des Kapitals dürfe auf keinen Fall gestört werden und „selbst ein bescheidenes Wohlstandsverlangen des kapitalistischen Menschenmaterials [könnte] als verderbliche ‚Gleichmacherei’ erscheinen“ (43).

Kapitel 3: Die Geschichte der Ersten industriellen Revolution

Die Durchsetzung des betriebswirtschaftlichen Kalküls

Robert Kurz betrachtet den Durchbruch des Liberalismus’ in der Ersten industriellen Revolution als einen „Vatermord“ am Absolutismus. Nach seiner Etablierung habe es die „kapitalistische Aufklärungsvernunft eilig gehabt, „mit der großen Gesellschaftstheorie zum Schluss zu kommen, um die erreichten Grundlagen nicht mehr zu gefährden“. (57). Hegel erklärte den Weltgeist in seiner Person und dem konstitutionellen preußischen Staat als für „zu sich gekommen“. Die Gedanken neuer Umwälzungen wurden aufgegeben und man machte sich daran, das warenproduzierende System „auszubauen, zu versittlichen und die Einsicht in ihre Notwendigkeit zu verallgemeinern“ (57). Die „kapitalistische Selbstzweck-Maschine“ wurde „als selbstverständlich vorausgesetzt“ und das bürgerliche Denken „verlegte seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und Naturwissenschaft“ (57). Die „Mängel und Fehler“ in der „besten aller möglichen Welten“ (Leibniz) sollten „durch technokratische Intelligenz“ behoben werden.

Mit der größer werdenden Anzahl kapitalistischer Unternehmen „machte sich die Konkurrenz als ‚stummer Zwang’ (Marx) geltend“ (58). „Die Marktteilnehmer wurden zu einer permanenten ‚Produktivkraftentwicklung’ genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten. In demselben Maße, wie der Motor der Konkurrenz ansprang, wurde der Durchbruch der Ersten industriellen Revolution unvermeidlich“ (58). Mit dem Konkurrenzprinzip begann nach Kurz bereits zu Anfang der Industrialisierung ein Kampf um die Preise und eine Art „Standortdebatte“ um die günstigsten Arbeitslöhne. „Die durchaus realen Zwänge der beginnenden internationalen Konkurrenz wurden als Mittel der sozialen Erpressung benutzt, um die Textilarbeiter auf ein noch tieferes Armutsniveau zu setzen. Nicht die Unhaltbarkeit der kapitalistischen Produktionsweise war die Schlußfolgerung, sondern die Hoffnung auf eine naturwissenschaftlich-technische Erlösung, die doch irgendwann einmal aus den Maschinenkräften selber kommen sollte“ (59). Der noch kaum als solcher identifizierte Kapitalismus wurde als „gesellschaftliches Naturereignis“ betrachtet. Er stand nach Ansicht Kurz’ vor dem Paradoxon, dass er einerseits eine „bis dahin niemals für möglich gehaltene Arbeitsersparnis durch das Maschinenwesen“ erreichte, diese aber andererseits „nicht als Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt und als Lösung der sozialen Probleme in Erscheinung treten“ konnte (59). Der Produktivitätsgewinn wurde „restlos für die Konkurrenz verausgabt, „um zusätzliche Marktanteile zu gewinnen bzw. bestehende zu halten“(61). Kurz führt dies auf die „Vernunft“ der Betriebswirtschaft zurück, die nur auf den Konkurrenzvorteil bedacht sei. Dies bewirke, „dass die einen gänzlich ‚arbeitslos’ und von allen Subsistenzmitteln abgeschnitten werden, während für die anderen, vermeintlich Glücklicheren, die ihre ‚Arbeitsplätze’ behalten, sich umgekehrt die Arbeitszeit sogar verlängern und die Arbeitsintensität erhöhen kann“ (61). Kurz bezeichnet diese Logik als „gesellschaftlichen Irrsinn“. Die kapitalistische Produktionsweise gerate dadurch in einen „unlösbaren logischen Selbstwiderspruch“, da sie einerseits die „abstrakte Arbeit“ in ökonomische Werte verwandeln wolle, andererseits menschliche Arbeit fortlaufend „durch technisch-wissenschaftliche Agenzien“ ersetze und so die Substanz der „Wertschöpfung“ selbst aushöhle (62). Kurz sieht diese „innere Krisenpotenz des Kapitalismus“ als „Quittung dafür, dass die menschliche Kommunikation in gesellschaftlichen Institutionen durch eine paradoxe Kommunikation der Waren und ihrer Preise untereinander auf dem anonymen Markt ersetzt worden ist“ (62). Produzenten und Konsumenten seien bis auf die Ebene des Individuums hinab nicht mehr identisch und verträten gegensätzliche Interessen. Der daraus entstehende Systemprozess führe „mit logischer Konsequenz immer wieder in dasselbe Dilemma, weil er immer nur dasselbe eingebaute Programm abspulen kann. Wie eine Maschine eben“. Die Konsequenz daraus sei, dass die Steigerung der technisch-wissenschaftlichen Potenzen „auf diese Weise im allgemeinen Verdrängungskampf der Konkurrenzen verschleudert“ werde, „während die Menschen durch die blinde Gesamtresultante ihres eigenen beschränkten, ökonomisch ungesellschaftlichen Ego-Kalküls sich gegenseitig in eine groteske Selbstschädigung treiben“ (62).

Die Opfer

Kurz schildert im weiteren Verlauf des Kapitels die Auswirkungen dieses betriebswirtschaftlichen Kalküls während der Ersten industriellen Revolution. Bereits zu Beginn kam es „zu einer ersten technologisch forcierten, strukturellen Massenarbeitslosigkeit“, die vor allem „die untergehenden handwerklichen Produzenten“ betraf. „Sowohl in England selbst als auch in ganz Europa wurde das gesamte Textilhandwerk durch die billige englische Fabrikware ruiniert“. „Das gesamte Verlagswesen und damit die abhängige Heimindustrie schmolzen dahin und wurden durch Fabriken mit großen, immer häufiger dampfgetriebenen Maschinenaggregaten ersetzt. Aus der von den Verlegern ausgepressten „arbeitenden Armut“ nach dem Muster der schlesischen und böhmischen Webersiedlungen wurde die vollständige Arbeitslosigkeit und die soziale Verödung ganzer Landstriche“ (63). Nur ein Teil der arbeitslosen ehemaligen Textilproduzenten fand im entstehenden Fabriksystem eine neue Existenz. „Die völlig entwurzelten Menschen mußten sich um jeden Preis verkaufen und wurden Arbeitsformen unterworfen, die jeder Beschreibung spotten“. Es entstand eine neue Kategorie von „arbeitenden Armen“: das Fabrikproletariat. Die „Arbeitsplätze“ der Ersten industriellen Revolution waren „wahre Höllenlöcher“. Das betriebswirtschaftliche Kalkül „erzwang gerade durch die arbeitssparenden Maschinen ein drakonisches Arbeitsregime, das bis zur totalen physischen Auspowerung der Arbeitenden ging“. In vielen Fällen wurden erwachsene Männer arbeitslos, während Kinder und Frauen zu Niedriglöhnen in den industriellen Fabriken beschäftigt wurden (65).

Revolten

Diese „Opfer der Ersten industriellen Revolution“ wurden aber nicht widerstandslos hingenommen. Kurz geht ausführlich auf die Revolten ein, deren Spuren „in den Geschichtsbüchern und Epochenbegriffen sorgfältigst gelöscht“ wurden (70). Den Kern der sozialen Revolten bildete die seit der Ersten industriellen Revolution von England ausgehende neue Bewegung der „Maschinenstürmer“ oder „Ludditen“ – v.a. in den Hauptzentren Nottingham und Yorkshire. Ihre Mittel waren Streiks, Demonstrationen, Brandstiftungen, Plünderungen, Drohbriefe und die Zerstörung von Maschinen und Fabrikeinrichtungen. Die Ludditen waren nach Ansicht Kurz’ zwar einerseits rückwärtsgewandt, da sie die alte handwerkliche Lebenswelt und damit teilweise auch deren soziale Beschränktheit wiederherstellen wollten. Auf der anderen Seite klagten sie „elementare und universelle Bedingungen menschlicher Freiheit ein, die durch das kapitalistische Markt- und Fabriksystem von Grund auf zerstört wurden“: „überlieferte Dorfrechte“, „rechtliche Gleichheitsvorstellungen“, ein kulturelles Muster, „das einen ‚Rhythmus von Arbeit und Muße’ ebenso einschloß wie die Vorstellung eines ‚gerechten Preises’ und eines „angemessenen Lohnes“, was „völlig unvereinbar war mit den blind-mechanistischen Gesetzen eines sogenannten Arbeitsmarktes.“(75). Die Ludditen seien dabei „nur die Speerspitze einer in ganz Europa verbreiteten fundamentalen Oppositionshaltung der Produzenten“ gewesen.

Bezüglich der Stellung der Frauen hält Kurz es für „eine grobe Irreführung, den Aufstieg der Marktwirtschaft als Bedingung der weiblichen Emanzipation darzustellen“. Wenn auch die bäuerlich-handwerkliche Produktionsweise im Kern patriarchalisch gewesen sei, bedeutete dies „jedoch keineswegs eine Recht- und vor allem auch keine Machtlosigkeit der Frauen, denn aufgrund ihres eigenen Platzes in der Produktion konnten sie durchaus mitreden. Wie eine selbstbestimmte Produktivkraftentwicklung nicht grundsätzlich ausgeschlossen war, so war auch eine Beteiligung und Mitbestimmung der Frauen daran im Prinzip denkbar.“ Erst der Kapitalismus habe den Frauen einen eigenständigen Platz in der „offiziellen“ Gesellschaft abgesprochen, „um sie auf ein Hausfrauendasein zu verpflichten, das sie einerseits zur Mutterschaft und andererseits zur ‚Sexmaschine’ im Sinne von de Sade degradierte“ (76). Kurz hält es für möglich, dass „die Frauen der Unterschichten in jener Umbruchphase, als der Kapitalismus noch auf den Massenwiderstand sozialer Revolten stieß, einer Emanzipation viel näher [standen] als in den späteren Domestizierungs- und Anpassungsprozessen der ‚Modernisierung’“, was sich schon daran zeige, dass „in der ganzen Frühgeschichte der Industrialisierung [..] Frauen als Anstifterinnen von Unruhen“ aufgetreten seien. (76)

Auf dem Kontinent waren die sozialen Revolten hauptsächlich durch die sog. „Brotunruhen“ gekennzeichnet, die durch Handwerker, Fabrik- und Manufakturarbeiter und Teile der Landbevölkerung getragen wurden. Beispiel hierfür ist der sogenannte „Kartoffelaufstand“ in Berlin vom April 1847. Diese Epoche wurde später in Deutschland „Biedermeier“ genannt, ein Begriff, der für Kurz die soziale Ignoranz der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland ausdrückt: er stelle eine „Krisenverdrängung“ und „Vernebelung der wirklichen Geschichte“ dar, „in der die Realexistenz des sozialen Kriegs- und Belagerungszustands zum Randphänomen der ‚notwendigen’ Modernisierungsopfer degradiert“ wurde (78). An dieser „Mentalität des deutschen Mittelstands“, „noch auf jede Krise seiner marktwirtschaftlichen Religion und ihrer Heiligtümer einerseits mit beinharter Besitzstandswahrung, andererseits mit sentimentaler Verniedlichung und Verdrängung“ zu reagieren, habe sich bis heute nichts geändert.

Das Bevölkerungsgesetz von Malthus

Die anschwellenden Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit wurde als permanente Bedrohung und Anklage gegen die Marktwirtschaft empfunden. Die „Endlösung“ des Problems kam aus England, in Gestalt des wirtschaftsliberalen Pfarrers Thomas Robert Malthus (1766-1834). Malthus erfand das sogenannte Bevölkerungsgesetz, um „der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Welt eine neue furchtbare Rechtfertigung zu liefern“ (80). „Und wieder einmal musste dabei die Natur bzw. ‚Natürlichkeit’ der kapitalistischen Verhältnisse als wissenschaftliche Begründung herhalten“ – ein Rechtfertigungsmuster, das sich für Kurz während der gesamten Geschichte des Kapitalismus’ durchhält. Malthus machte „den ersten großen Schritt zur Biologisierung der gesellschaftlichen Krise, darin die Phantasien des Marquise de Sade fortführend“. Malthus habe aus der biologischen Natur „willkürlich die ‚dauernde Neigung aller Lebewesen, sich weit über das Maß der für sie bereitgestellten Nahrungsmittel zu vermehren’“ entnommen und diese auf den Menschen übertragen (80). Wenn diese Neigung nicht gehemmt werde, „verdoppele sich die Bevölkerung alle 25 Jahre und nehme somit in geometrischer Progression zu, während die Lebensmittel bestenfalls in arithmetischer Reihe vermehrt werden könnten“ (80). Er habe damit nach dem Urteil Kurz’ „die kapitalistisch erzeugte künstliche Armut, ja sogar „Überflüssigkeit“ von Menschen auf die Ebene von Karnickeln oder Bibern zu bringen [versucht], die sich unter bestimmten Bedingungen ‚zu stark vermehren’“(80). Malthus habe zwar zugegeben, „dass sein Konstrukt nur unter kapitalistischen Bedingungen gilt“, diese jedoch als „natürlich“ und „unabänderlich“ betrachtet. Trotzdem habe Malthus „jede Form der Sexualität ohne Kinderwunsch als ‚im hohen Grade unnatürlich, unsittlich’ und als ‚verabscheuungswürdig’“ gebrandmarkt und „stattdessen den ‚überflüssigen’ Massen allen Ernstes ein Leben in ‚sittlicher Enthaltsamkeit’“ vorgeschlagen (81).

Der Begriff der Nation

Der im 19.Jhd. entstehende Nationalismus in Deutschland hatte Kurz zufolge seine Ursache darin, dass der Liberalismus „eine identitätsstiftende Konstruktion“ suchte, eine „vermeintlich zugrundeliegende historische Substanz oder Entität“. Er „fand die sogenannte Nation“, ein Begriff für einen „nirgends eindeutig definierbaren Zusammenhang, der bestimmte geografische Einheiten und kulturelle Gemeinsamkeiten wie die Sprache in einer vorher nicht bekannten Art und Weise als primäres Aktionsfeld und äußere Begrenzung für die ‚schöne Maschine’ und ihren staatlichen Moderator absteckte“ (87). Kurz interpretiert die Revolution von 1848 als „Zweifrontenkrieg“ des liberalen Bürgertums „sowohl gegen den scheinbar ungebrochenen Absolutismus der fürstlichen Kleinstaaterei als auch gegen die flackernde Sozialrevolte von unten“. Die Zielrichtung der Studentenschaft ging seiner Ansicht nach „auf Mitbeteiligung und Mitsprache an der Politik, auf Freiheitsrechte und Ausbau der Verfassung - soziale Verantwortung verspürten sie nicht“ (89). Kurz trifft an dieser Stelle die generelle Aussage, dass „die deutsche Linke immer wieder in den liberal-aufklärerischen Heimatstall zurückgetrottet ist, bevor sie die Frage der sozialen Emanzipation ernsthaft auch nur zu denken bereit war“. Sie ist für ihn letztlich „immer nur der ‚linke Flügel’ des Liberalismus [gewesen] und deshalb in der antikapitalistischen Konsequenz gelähmt“ (90).

Sozialdemokratie und Sozialismus

Die „historische Niederlage des Liberalismus gegen den deutschen Absolutismus“ in der „März-Revolution“ war für Kurz der maßgeblich Grund, der dazu beitrug, „die entstehende Linke (bzw. den späteren Sozialismus) für immer an die Probleme des Liberalismus zu fesseln und in eine lange historische Sackgasse hineinlaufen zu lassen“ (94). Der moderne Sozialismus entstand „aus den kreuzbraven Reformgruppen der unterbürgerlichen Schichten, organisiert in sogenannten Arbeitervereinen“, die Kurz als „eine Art sozialpolitische Sonntagsschule der bürgerlichen Philanthropie“ bezeichnet (95). Sie wurden meist „von freisinnigen Bürgern guten Willens geführt“ und verfolgten letztlich den Zweck, „auf die unterbürgerlichen Schichten [...] Einfluss zu nehmen, sie auch außerhalb der Fabriken zu ‚erziehen’, ihnen [...] Grundbegriffe der ‚Volkswirtschaftslehre’ beizubringen, die Sozialrevolte zu verhindern oder zu dämpfen und die Widersprüche und Restriktionen des Kapitalismus einseitig auf den absolutistischen Konservatismus zurückzuführen“. Einige dieser „liberalen Intellektuellen“ wurden allerdings „durch ihre Erfahrungen ‚umgedreht’“ - allen voran Karl Marx und Friedrich Engels. Die historische Alternative, die sich aus der Verbindung dieser neuen revolutionären Intellektuellen mit den „gefährlichen Klassen“ ergeben konnte, wurde verpasst. Marx habe sich zwar „stets mit Sympathie für soziale Aufstände geäußert, aber sein negatives Urteil über das Bewußtsein der „Maschinenstürmer“ zeige doch, „dass er deren Impuls im wesentlichen als eine Verirrung gegen ‚die Produktivkräfte’ betrachtete“. Kurz wirft an dieser Stelle dem Marxismus die Übernahme des „positivistischen, technisch-naturwissenschaftlich verkürzten Fortschrittsbegriff des Liberalismus“ vor. Dies habe letztlich zur Folge gehabt, dass „auch der abstrakte Arbeitsbegriff des Liberalismus weitgehend übernommen“ wurde. Kurz resümiert, dass eine radikale Kritik an der Modernisierungsgeschichte und ihres gewandelten Arbeitsbegriffs bis heute ausgeblieben sei. Mit dem „Standpunkt der „Arbeiterklasse […] wurde in Wahrheit ein Standpunkt innerhalb der bürgerlichen, kapitalistischen Welt und ihrer permanenten, bewusstlosen Modernisierung eingenommen“ (97). Nach Ansicht Kurz' war die Sozialdemokratie „überhaupt nicht mehr in der Lage, ihren positiven Arbeitsbegriff von dem des Liberalismus abzugrenzen“. Er bezeichnet sie bzw. den Sozialismus als den „linken Flügel des Liberalismus“, der „auf die formale, nationalstaatsbürgerliche ‚Befreiung’ gegen den Absolutismus fixiert“ gewesen sei (98). Sie sei „in eine auf sich selbst rückgekoppelte [...] historische Zeitschleife“ eingeschlossen, in der „endlos ‚die Moderne’ als ‚ein unvollendetes Projekt’ (Habermas)“ wiederholt werde, „ohne doch je zum Ziel eines herrschaftsfreien ‚kommunikativen Handelns’ zu gelangen, das a priori vereitelt wird durch die fetischistischen Formen des Kapitals und der ‚abstrakten Arbeit’“ (98).

Kapitel 4: Das System der nationalen Imperien

Gegen Ende des 19. Jahrhundert hatte die Geschichte der Ersten industriellen Revolution – nach einem „langen Anlauf der marktwirtschaftlichen Objektivierung durch die absolutistischen Regimes, das Aufkommen des Liberalismus und die Kampagnen der Disziplinierung“ - „eine neue kapitalistische ‚Weltordnung’ heraufgeführt: das System der nationalstaatlichen Imperien. An die „Stelle der dynastischen Bürokratien“ waren „bürgerliche Nationalstaaten auf der Grundlage eines weitverzweigten industriellen Privatkapitalismus getreten“ (112).

Kurz attestiert einen „eigenartigen Prozess der Homogenisierung“ in den bürgerlichen Nationalstaaten, den „Bezug aller sozialen Gruppen auf ein gemeinsames System abstrakter ökonomischer ‚Interessen’, die bereits die kapitalistischen Kategorien als gesellschaftliche Naturgrundlage voraussetzten und nun durch das ebenso abstrakte übergeordnete Bezugssystem der Nation und des Nationalstaats jenseits der alten dynastischen Strukturen komplettiert wurden“. Eine Entwicklung, die den „zunehmend verblassten und ohnehin niemals unversöhnlichen Gegensatz von liberalem Unternehmertum und ehemals absolutistischen Staatsapparaten […] vollends verschwinden“ ließ (112). Der Industriekapitalismus „war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts überall gleichermaßen zur führenden und dynamischen Kraft, zum Leitsektor der Gesellschaft geworden, der die weitere Entwicklung bestimmen sollte“ (113).

Analog zur Verselbständigung der „Struktur der Geldverwertung als gesellschaftliche ‚Maschine’“ sieht Kurz im 19. Jhd. nun die Verselbständigung einer „komplementären Struktur der staatlichen Regulation“ im Gange. Es begann ein Konkurrenzkampf „der staatlich zusammengefaßten Nationen“ untereinander. Der Staat und seine Apparate gewannen „gerade dadurch eine neue Bedeutung, dass die industrialisierte kapitalistische Marktwirtschaft sich derart dynamisch ausgedehnt hatte“. Die ökonomischen Probleme der industriellen Expansion selbst, ihre Bedingungen und Folgeprozesse, „machten sogar den Liberalismus mehr und mehr geneigt, dem Staat über seine Schreckensfunktion als Leviathan hinaus auch wieder soziale und ökonomische Eingriffe zuzugestehen“. Liberalismus und Konservatismus verschmolzen ineinander, was zu einer „Verflachung“ der „strengen Doktrin der freien Märkte“ führte. „Das Zeitalter der industriellen nationalen Imperien wurde für ein volles Jahrhundert auch zur Epoche eines neuen, auf die industrielle Konkurrenz bezogenen Staatsinterventionismus, der in mehreren Wellen ansteigen sollte“ (114).

Die Rolle des Staates

Kurz konstatiert für die zweite Hälfte des 19. Jhd. eine vorübergehend konsolidierte gesellschaftliche Situation. Der „ökonomische Zusammenbruch [war] durch die Entfesselung des industriellen Schneeballsystems“ vorest abgewendet, die „arbeitenden Armen“ hatte man „endlich disziplinarisch im Griff der ‚abstrakten Arbeit’“. So „konnten sich die kapitalistischen Eliten neue Gedanken über die ‚soziale Frage’ machen“. Der Liberalkonservatismus nach 1850 wollte bei möglichen zukünftigen Krisen nicht wieder in eine ähnliche Lage wie zu Beginn des Jahrhunderts mit seinen sozialen Revolten geraten und war „geneigt, dem Staat eine gewisse soziale Verantwortung zu übertragen - selbstverständlich in seiner Eigenschaft als Leviathan, also untrennbar vermengt und verbunden mit seiner Repressionsfunktion“ (114). Kurz bezeichnet dies als „Wiederverheiratung des Liberalismus mit dem industriekapitalistisch geläuterten ehemals absolutistischen Apparat und seinen konservativen Repräsentanten“. Diese „Verschmelzung“ fand zwar „in allen wichtigen Ländern Europas“ stat, „am meisten aber in Deutschland, wo die verspätete Konstitution des bürgerlichen Nationalstaats ja ‚von oben’, also formell durch die alte dynastische Macht selbst vollzogen worden war. Das Wilhelminische deutsche Kaiserreich mauserte sich daher zur Avantgarde in der neuen kapitalistischen Sicht des Staates. Der Leviathan sollte künftig Krisen verhindern und die Heloten des Kapitals einigermaßen sozial befrieden“ (114). Die „blanke Naturgesetzlichkeit des Marktes“, der man „insgeheim nicht mehr völlig vertrauen mochte“, sollte durch „staatlich gemanagtes Sozialwesen“ ergänzt werden. In der Sprache Bismarcks sah man sich genötigt, „dem Staate ein paar Tropfen socialen Oeles im Rezepte beizusetzen“ (115). Kurz zufolge entstand so ein neuer „Paternalismus“, der nicht mehr die Rolle eines Leviathans spielte, sondern „nun als ‚Vater Staat’zu firmieren“ begann (115). Bismarck fuhr „eine klassische Doppelstrategie: Parallel zum Verbotsdruck nach alter leviathanischer Manier machte seine Regierung in einer ‚klassisch’ gewordenen Weise mit den paternalistischen sozialstaatlichen Überlegungen des Liberalkonservatismus ernst und brachte eine Art ‚weiße Revolution’von oben in der Sozialgesetzgebung hervor, die zum Prototyp des modernen Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhundert werden sollte“ (117). Bismarck wurde bei seiner Sozialgesetzgebung nach Ansicht Kurz’ „selbstverständlich weniger von philanthropischen Erwägungen als vielmehr von machtpolitischem Kalkül geleitet. Schon 1880 hatte er festgestellt, seine geplante Sozialgesetzgebung solle ‚in der großen Masse der Besitzlosen die konservative Gesinnung erzeugen, welche das Gefühl der Pensionsberechtigung mit sich bringt’“. Dabei löste aber „die Bismarcksche Sozialgesetzgebung alle Ansätze einer selbstbestimmten und emanzipatorisch selbstverwalteten ‚gegenseitigen Hilfe’ der Lohnarbeiter ab“ (117). „Waren die konservativen Anfänge des industriekapitalistischen Sozialstaats eine allgemeine Erscheinung in den wichtigsten europäischen Ländern, so setzte sich diese Entwicklung doch am wirkungsvollsten und nachhaltigsten im deutschen Kaiserreich durch. Hier drangen die sozialstaatlichen und staatsinterventionistischen Ideen auch stärker als in Westeuropa bis in die akademische Nationalökonomie vor“ (119). Kurz bezweifelt die Wirksamkeit der Anfänge des modernen Sozialstaats, „zumindest wenn man Maßstäbe einer ernsthaften Besserstellung der ‘arbeitenden Armen’anlegt“. Es sei „lediglich der Schritt vom beispiellosen Massenelend zu einer ‚normalisierten’ Massenarmut […] ‚gelungen’“ (121).

Gründerschwindel und Große Depression

Die „staatsinterventionistische Wende der kapitalistischen Eliten nach 1870“ hatte für Kurz eine wesentliche Ursache in ihrer „tiefsitzenden Furcht vor Verelendung und Aufstand einer Bevölkerung, die blinden Wachstums- und Krisenzyklen ausgeliefert wurde“. Nach 1850 hatte v.a. im Deutschen Reich ein Aktienboom eingesetzt. Dieser erreichte in der sog. Gründerzeit (1871 - 73) seinen Höhepunkt. „Die immer hektischer und unseriöser werdenden Aktiengesellschaften schossen wie die Pilze aus dem Boden“. Die Eisenbahn- und Immobilienspekulation nahm absurde Dimensionen an. „Als Folge stieg die Wohnungsnot in Städten wie Berlin dramatisch an; die Kluft zwischen obszönem Spekulationsreichtum und wieder zunehmender Massenarmut wurde immer größer. Das Zentrum der preußischen Macht rückte plötzlich wieder in die Nähe des sozialen Notstands und des Aufruhrs“ (126). Die „spekulative Mentalität [ging] quer durch alle Schichten, auch wenn sie insgesamt nur jenen kleinen Teil der Bevölkerung erfassen konnte, der überhaupt über liquide Mittel verfügte“. Die „kleinen Leute“ trugen „ihr Erspartes zu den überall aufkommenden Börsen“. „Es kam, was kommen mußte, nämlich der große ‚Gründerkrach’ von 1873, eingeleitet durch den Zusammenbruch der Wiener Kreditanstalt“. „Zahlreiche Familien wurden vollständig ruiniert, darunter auch solche der alteingesessenen ‚guten Gesellschaft’“. Rund „ein Drittel des deutschen Nationalvermögens [war] verlorengegangen. In Berlin standen Zehntausende Wohnungen leer, und unzählige Hausbesitzer konnten ihre Bankkredite nicht mehr zurückzahlen“. Zahlreiche Banken gingen pleite. Der Zusammenbruch war breiter als in allen früheren Finanzkrisen, aber er schnitt noch nicht so tief in das gesellschaftliche Leben ein, „weil Deutschland und Österreich als Zentren des europaweiten Bebens ja noch immer zu großen Teilen agrarisch strukturiert waren und der Industriekapitalismus erst einen Teil des gesellschaftlichen Territoriums besetzt hatte“. In ganz Europa ging die stürmische Industrialisierung „für nahezu zwei Jahrzehnte bis Anfang der 90er Jahre in eine schleichende Stagnation über, die später als ‚Große Depression’ […] bezeichnet wurde“ (127f.).

Das Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit

Der „Gründerkrach“ veranlasste nach Meinung von Kurz „immer mehr kapitalistische Wirtschaftssubjekte nach dem Staat zu rufen“. Es folgte eine Rückkehr zum Schutzzoll-System und zu einer zunehmenden Staatstätigkeit. Diese ergab sich „nicht bloß aus dem wachsenden Rechts-, Verwaltungs- und Exekutivbedarf“. Vielmehr fordert für Kurz der industrielle Kapitalismus generell „logistische Strukturen, die nicht selbst wieder kapitalistisch nach den Gesetzen rein betriebswirtschaftlicher Rationalität betrieben werden können, weil sie sonst ihre Aufgabe als gesamtgesellschaftliche Voraussetzung der Produktionsweise als solcher nicht mehr erfüllen würden“ (130). Die Infrastruktur der Marktwirtschaft sei „etwas anderes als die Marktwirtschaft selbst, weil sie weder partikular als isoliertes Unternehmen darstellbar ist noch den konjunkturellen Schwankungen und Kapitalbewegungen unterworfen werden darf, sondern flächendeckend, permanent und ohne Fluktuationen zur Verfügung stehen muss“ (130). Da der Staat „im liberalkonservativen Verständnis selber kein gewinnproduzierender ‚Unternehmer‘ mehr sein konnte, sondern diese Funktion der ‚schönen Maschine’ den Privaten überlassen hatte, entstand logischerweise ein ‚Finanzierungsproblem’ seiner wachsenden Aufgaben in der industriellen Marktwirtschaft“. Unter den Bedingungen der Industrialisierung wuchs der Geldbedarf des Staates, wobei als einzige Möglichkeit die Besteuerung von „Markteinkommen“ blieb, „um Investitionen und Konsum als Motoren des Wachstums nicht zu ruinieren“. So blieb „dem neu entstandenen industriekapitalistischen Regulationsstaat nichts anderes übrig, als sich über seine regulären Einnahmen hinaus zu verschulden“ (132). Diese Tatsache formulierte der zeitgenössische Ökonom Adolph Wagner als das Gesetz der zunehmenden Staatstätigkeit.

Sozialistischer Absolutismus

In dieser Situation der „Entfesselung des industriellen Schneeballsystems“ „wuchs die Sozialdemokratie in der Epoche der nationalen Imperien zur gesellschaftlichen Kraft an“. Sie entfaltete für Kurz den ihr eigenen inneren Widerspruch: „nämlich einerseits abstrakt die soziale Emanzipation gegen die ‚Ungerechtigkeiten’ des Kapitalismus zu propagieren und andererseits diese Emanzipation in den blind übernommenen kapitalistischen Kategorien selbst vollziehen zu wollen“ (133). Ein wichtiger Grund ist für Kurz die Herkunft der Sozialdemokratie aus dem Liberalismus. Von großer Bedeutung sei aber auch der „qualitative Wandel in der Massenbewegung“ gewesen. Die liberalen Arbeitervereine, aus denen die Sozialdemokratie entstammt, hätten sich nicht mehr „gegen die kapitalistischen Zumutungen als solche gerichtet“, wie dies noch in den Massenrevolten in den Anfängen der Industrialisierung gewesen sei. Kurz bezeichnet die Arbeitervereine daher „als Hilfstruppen der bürgerlichen Modernisierer gegen den Absolutismus“ (133). Als die Sozialdemokratie in der Zeit von 1850 bis zum l. Weltkrieg allmählich eine Massenbasis gewann, konnten „die Arbeiterpopulationen, die nun bereits in zweiter oder dritter Generation im Fabriksystem arbeiteten, keine kollektive Erinnerung an relativ bessere vorkapitalistische bzw. vorindustrielle Zustände mehr imaginativ besetzen“. Sie hatten „sich weitgehend an die Fabrikdisziplin gewöhnt“, was sich selbst „bis in die Organisation der ‚Freizeit’ hinein“ ausgewirkt habe. Kurz bezeichnet die Arbeiterschaft daher als „vom Kapitalismus ‚verhausschweinte’ Arbeiterklasse“. Der „als Fernziel angestrebte sozialistische Staat“, der ein „vermeintlich ganz anderer“ sein sollte, rückte dabei in „eine ferne und unwirkliche Zukunft“ (137f.).

Panzerkreuzer und Raubnationalismus

Das neue Verhältnis von Staatsapparat und Ökonomie konnte für Kurz „nicht auf die inneren Verhältnisse der entstandenen Nationalökonomien beschränkt bleiben“. Es entstand ein „ökonomischer Konkurrenzkampf der Nationen“, der „die staatliche Außenpolitik zu einem ökonomischen Parameter“ machte (141).

Der Staat wurde „zum politisch-ökonomischen Großsubjekt der Konkurrenz nach außen“ - in der Sprache von Marx zu einem „ideellen Gesamtkapitalisten“. In ihm fielen „die Momente der politischen Souveränität und der ökonomischen Konkurrenz“ nahezu zusammen. Er fungierte als „Hilfs-, Garantie- und Durchsetzungsmacht“ „seiner Unternehmen“. Die zwischenstaatlichen und außenwirtschaftlichen Verhältnisse wurden „zur ‚freien Wildbahn’ der leviathanischen Raubmonster“, der Krieg zur „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Carl von Clausewitz).

„Die imperiale Rivalität der europäischen Großmächte forderte zu einem neuen Rüstungswettlauf heraus, der alle früheren militärischen Anstrengungen bei weitem übertreffen sollte“. Die „forcierte Rüstung fand nun auf der technologischen Höhe des Industriekapitalismus statt, der neue oder ‚verbesserte’ Vernichtungstechniken und Waffensysteme hervorbrachte“. Kurz erwähnt die Erfindung des Dynamits durch den schwedischen Chemiker Alfred Nobel. Die „zutiefst symbolische Tatsache, dass der renommierteste internationale Wissenschafts- und sogar der ‚Friedenspreis’, der auf der ganzen Welt mit Ehrfurcht betrachtet wird, vom größten Sprengstoffkonzern gestiftet und nach einem Rüstungsindustriellen benannt ist“, ist für Kurz ein Beispiel für den „Zynismus der kapitalistischen Modernisierungszivilisation“ (142). Kurz ist der Ansicht, dass der „im wahrsten Sinne des Wortes ‚irre’ Aufwand“ für die Aufrüstung und Kolonialisierung sich nicht „gelohnt“ habe – ein Faktum, das „gerade die marxistische Imperialismustheorie niemals wahrhaben“ wollte. Die „koloniale Expansion ebenso wie die maritime Rüstungspolitik“ seien nur als irrationale Fortsetzung der „wahnhaften“ Struktur der „abstrakten Arbeit“ auf dem Gebiet der Außenpolitik zu begreifen.

Das Faktum, dass „am Ende nicht einmal ein gesamtkapitalistisch profitables Resultat herauskam“, erscheine dadurch, „dass im Namen der räuberischen kolonialen Eroberungspolitik Millionen von Menschen umgebracht, verstümmelt und erniedrigt, ganze Länder verwüstet und durch Raubbau ruiniert wurden“ , „nur in einem um so grelleren Licht“. Kurz bezeichnet den Versuch, Kolonialismus und Imperialismus „als bloßen ‚historischen Irrtum’, als eine dem Kapitalismus äußerliche und eigentlich fremde Erscheinung und womöglich als fatales Residuum absolutistischer und vordemokratischer Denkweisen“ zu begreifen, als „verharmlosend“ und „apologetisch“. Dies zeige sich empirirsch schon daran, dass „die postkoloniale formal gleichberechtigte Teilnahme der späteren ‚Dritte Welt’-Regimes am Weltmarkt den Prozess der Verelendung und Erniedrigung für die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern nicht etwa gestoppt, sondern quantitativ und strukturell sogar noch forciert“ habe (145).

Für Kurz ist der „irrationale Raubnationalismus“ eng mit der „inneren Logik des Kapitals“ verknüpft. Der Austausch auf dem Markt unterscheide sich zwar seiner Natur nach vom gewaltsamen Raub, da er ein „Rechtsverhältnis und die Äquivalenz der getauschten Güter“ voraussetze. Der „Zweck der Veranstaltung“ sei aber - im Unterschied zu vormodernen Märkten – „eben nicht der Austausch von beiderseits benötigten Gütern“, sondern „der irrationale Selbstzweck der ‚schönen Maschine’, unaufhörlich Geld (ökonomischen Wert, Quanten ‚abstrakter Arbeit’) aufzuhäufen“. Die Marktwirtschaft sei „nur eine sekundäre Funktionssphäre der kapitalistischen Selbstzweck-Produktion“. Dieser Selbstzweck sei zwar nicht identisch mit einfachem Raub, seine Gewaltätigkeit zeige sich aber in dem „mit äußerster Brutalität durchgesetzten ‚stummen Zwang der Verhältnisse’ (Marx)“ und in den „Apparaten der bürokratischen Menschenverwaltung und der offenen Repression“, die „bereitstehen, um sofort jeden Versuch des Menschenmaterials im Keim zu ersticken, sich den ‚Mühlen des Teufels’ zu entziehen“. Auch „direkt mit Gewalt erzwungene Sklavenarbeit für den Weltmarkt“ gehöre „zur Aufstiegsgeschichte des Kapitalismus“ und „sogar der vermeintlich freie Austausch auf dem Markt kann mit vorgehaltener Waffe erzwungen werden, wenn sich die ‚Tauschpartner’ nicht zu kapitalistischen Formen des Austauschs und zu den Konditionen der westlichen Länder bequemen wollen“ (146).

Der Hintergrund „dieses räuberischen und gewaltsames Element“ sei dass der „Standpunkt des Gesamtkapitals“ „von keiner Instanz praktisch eingenommen wird; auf dieser Ebene findet auch keine praktisch relevante Kostenrechnung statt, denn diese ist auf die partikulare betriebswirtschaftliche Ebene beschränkt, und die Rechnungsführung des Staates kann ebenfalls keine gesamtkapitalistische sein, sondern beschränkt sich auf seine eigenen Einnahmen und Ausgaben“ (146).

Die Rolle der Arbeiterbewegung

Kurz wirft auch der Arbeiterbewegung vor, dass sie „in kapitalistischen Erwerbskategorien“ gedacht habe und auf die „bürgerlichen Formen der Nation und der Demokratie fixiert“ gewesen sei, „womit sie schon den Keim des Sozialimperialismus in sich“ getragen habe. Die deutsche Sozialdemokratie habe zwar im Reichstag regelmäßig gegen das Budget für den Flottenbau gestimmt, doch rührte dies hauptsächlich daher, dass „die sozialistischen und gewerkschaftlichen Apparate von den imperialistischen Eliten weiterhin aus der staatlichen Mitverwaltung ausgegrenzt wurden, und weniger aus einer wirklich prinzipiellen Gegnerschaft“. Die Arbeiterbewegung habe den „Hurra-Nationalismus“ „sozusagen mit der linksliberalen Muttermilch aufgesogen“. Im Deutsch- Französischen Krieg von 1870/71 sei „schon nahezu ein halbes Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg deutlich geworden, wo die Sozialisten beiderseits des Rheins wirklich standen, nämlich auf der Seite ihres jeweiligen kapitalistischen ‚Vaterlandes’- bereit zum Brudermord“.

Kurz bezeichnet es als „Urformel aller linken ‚Realpolitiker’ bis heute, dass zu den an sich und eigentlich ‚verdammenswerten’ Scheußlichkeiten des Kapitalismus keine ‚rein verneinende Haltung’ eingenommen werden könne, und so müsse man leider das genaue Gegenteil von dem praktisch tun, was man theoretisch (angeblich) für richtig halte“. Die „offiziell ‚antimilitaristische’ Sozialdemokratie“ sei in allen kapitalistischen Ländern hinter den Kulissen schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg integraler Bestandteil eines von der Basis getragenenen „‚volkstümlichen’ Militarismus“ gewesen. „Die preußische Tüchtigkeitsideologie mit ihrer Verherrlichung der sogenannten Sekundärtugenden wie Disziplin, Pünktlichkeit usw. als moralische Werte ‚an sich’ war nicht nur in den Massen der Lohnarbeiter nach einer langen Epoche der Eintrichterung und Gehirnwäsche durch Fabriksystem und ‚Volkspädagogik’ tief verwurzelt, sondern schloß auch wie selbstverständlich die Armee als ‚Schule der Nation’ein“ (150).

Auch hinsichtlich des Kolonialismus sei „das leviathanische Erbe des Liberalismus“ immer stärker zum Durchbruch gekommen. Die offizielle sozialistische Ablehnungspolitik habe sich „mehr aus dem Frust über die Ausgrenzung aus der Herrschaft und ihrer Verwaltung als aus einer prinzipiellen Gegnerschaft“ gespeist. „Hinter der Fassade des offiziellen Antikolonialismus kamen daher in allen wichtigen sozialistischen Parteien Europas immer stärkere Signale einer Annäherung des Interesses an die imperialistische Expansion, die von einer stärker werdenden Minderheit bei den internationalen Sozialistenkongressen offen befürwortet wurde“. „Große Teile der Sozialdemokratie betrachteten den Kolonialismus nicht als grundsätzlich verdammenswert, sondern eher im Gegenteil als Moment jener ‚zivilisatorischen Mission’ des Kapitalismus, von der Marx in ganz anderem Zusammenhang gesprochen hatte“ (151).

Kapitel 5: Die Biologisierung der Weltgesellschaft

Eine zentrale Entwicklung im 19. Jhd. ist für Kurz der Darwinismus und die daraus folgende „Biologisierung der Weltgesellschaft“. Dabei sei Charles Darwin „biologistische Welterklärung“ den typischen Charakter der Leistungen der modernen Naturwissenschaft: „Eine wirkliche große Entdeckung verschmolz vollständig mit einem irrationalen ideologischen Impuls und unreflektierten Interessen des kapitalistischen Fetisch-Systems, um sich schließlich mit einer enormen Zerstörungskraft aufzuladen“ (154).

Der Kampf ums Dasein

Kurz sieht Darwin in der Tradition der Aufklärung und ihrem Programm der „Vernaturwissenschaftlichung“ und „Entzauberung“ der Welt. Dieses war für Kurz „in Wahrheit alles andere als befreiend“, weil sie längst an die Stelle des christlichen Gottes die Selbstzweckhaftigkeit des Kapitals gesetzt habe, was er als „Vergöttlichung der schönen Maschine“ bezeichnet, die in einem „säkularisierten quasi-religiösen Bewußtsein“ verehrt wurde.

In diesem Prozess der Entzauberung bestand nach Meinung von Kurz ein „Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Freigeisterei und konservativ-klerikaler Gesinnung“, der aber bloß ein „Familienzwist innerhalb des Liberalismus und seiner herrschenden Eliten“ gewesen sei. Die Freigeister hatten keine echte Aufklärung im Sinne gehabt. Sie „wollten entweder die naturwissenschaftliche Scheinaufhebung der Religion für die Eliten reservieren, während ‚das Volk‘ aus disziplinarischen Gründen weiterhin mit christlicher Glaubensdemut gefüttert werden sollte“. Oder die Ersetzung der Religion durch die Naturwissenschaft sollte „die rohe Form einer äußerlichen Gängelung der Massen durch die raffiniertere Form einer massenhaften Selbst-Disziplinierung ablösen, nunmehr nach angeblich ‚naturwissenschaftlichen’ und sogar biologischen Gesetzmäßigkeiten“ (156).

In letzterem Sinne sei auch die Lehre Darwinis zu verstehen. Darwin glaubte, den Mechanismus für die Evolution der Arten darin gefunden zu haben, „dass die jeweils ‚zu große’ Anzahl der Lebewesen einer Art einen ‚Kampf ums Dasein’ führt, aus dem nur die Lebenstüchtigsten als Sieger hervorgehen und somit durch ‚Auslese’ (Selektion) eine allmähliche Veränderung und Höherentwicklung bewirken“. Der Schritt, diese Lehre „auf die Gesellschaft zurückzuprojizieren und darin eine wunderbare ‚naturwissenschaftliche’ Rechtfertigung für die kapitalistische Konkurrenz und ihre existenz- und lebensvernichtende Wirkung zu erkennen“ (157) habe keiner großen theoretischen Anstrengung“ mehr bedurft. Dieser – bereits bei Darwin grundgelegte - „Sozialdarwinismus“ entwickelte sich dann sehr bald zu einem Instrument, das von „imperialistischen Ideologen wie Friedrich Naumann, Walter Rathenau oder Max Weber“ benutzt wurde, um „die deutschen Weltmachtansprüche“ zu formulieren.

Menschenzucht und Fortpflanzungshygiene

Für Kurz verbinden sich Darwinismus und Kapitalismus in dem Gedanken der „biologischen Sozialtechnologie“, einer Methode, „der Natur auf die Sprünge zu helfen und die gesellschaftlich-soziale ‚Zuchtwahl’ bewußt zu beschleunigen und gewissermaßen zu vollstrecken“. Sie habe sich vor dem Hintergrund des Imperialismus zu einer „Flut sozialdarwinistischer Ideen und Organisationen zur Utopie der ‚Menschenzüchtung’ für den kapitalistischen ‚Kampf ums Dasein’ und zwecks Überlebensfähigkeit der eigenen Nation gesteigert“. Diese Bewegungen hatten sich unter dem Namen „Eugenik“ als „menschenzüchterische Bewegungen für ‚nationale Erbgesundheit’ vor allem in den angelsächsischen Ländern und in Deutschland“ gebildet und „bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand“ gehabt. In den USA habe es z.B. dazu der Zwischenkriegszeit unter dem Titel „Fitter Families“ sogar Wettbewerbe gegeben; auf Märkten – „wo sonst besonders wohlgeratene Schweine und Kürbisse mit Preisen bedacht wurden“ seien „ Familien mit ausgezeichnetem Erbgut prämiert“ worden. Die „Wissenschaft menschlicher Zuchtwahl [sollte] nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Landwirtschaft“ entwickelt werden.

Sehr rasch haben sich – so Kurz – „auch die entsprechenden Vorstellungen einer negativen Selektion“ gebildet, wozu bereits Darwin in seinem Buch über die „Abstammung des Menschen“ die Stichworte geliefert habe. Grundlage dieser Vorstellung sei die Auffassung einer biologischen Determination sozial-moralischer Eigenschaften gewesen. Diese führte dazu geführt, dass „die Sieger im erbärmlichen Wettkampf der ökonomischen Konkurrenz sich als die auch biologisch höherwertigen Menschen, geradezu als von der Natur selbst determinierte ‚Übermenschen’ definieren konnten; ein Terminus, den nicht zufällig Nietzsche in derselben Zeit erfand“. Gemäß dieser Anschauung waren „die ‚Arbeitsscheuen’ und Delinquenten dann auf eine ebenso biologisch prädestinierte Weise grundsätzlich unverbesserlich und durch moralisierende Pädagogik gar nicht zu erreichen; sie konnten nur irgendwie aus der Geschichte ausgeschaltet werden“.

Der Sozialdarwinismus forderte nun „für die Ausschaltung der ‚biologisch Minderwertigen’ einen bewussten naturwissenschaftlichen Selektionsmechanismus der Gesellschaft ein“. Das betraf zum einen die „Kriminellen“, indem es nun erlaubt war, „die sozialen Wurzeln der Kriminalität wegzulügen“ und sie nicht mehr mit den „kapitalistischen Zumutungen“ in Verbindung zu bringen. Die Kriminalität wurde „jetzt mit naturwissenschaftlicher Weihe bequemerweise als biologische Erbeigenschaft definiert“. So entwickelte sich z.B. die sogenannten „Phrenologie“, wonach physiognomische Besonderheiten „für charakterliche Eigenschaften, vor allem negative, verantwortlich und überhaupt im menschlichen Hirn soziale Verhaltensweisen lokalisierbar und je nach Ausdehnung messbar seien“. Zum anderen betraf das Problem der biologischen Selektion „alle körperlich oder geistig Behinderten, chronisch Kranken, Verkrüppelten usw., mit einem Wort alle im kapitalistischen Sinne Arbeitsunfähigen“.

Der Sozialbiologismus verweist nach Kurz’ Ansicht zum einen „auf den irrationalen Kern der modernen Naturwissenschaften selbst, die eben keineswegs bloß äußerlich vom abstrakten und destruktiven Selbstzweck der kapitalistischen Produktionsweise befallen sind“. Zum anderen stelle er eine „Reaktionsbildung auf die verinnerlichten Anforderungen der kapitalistischen Konkurrenz in allen ihren Erscheinungsformen dar“. Wenn man ihn kritisieren wolle, müsse man letztlich das Konkurrenzprinzip selbst und damit den „zugrundeliegenden fetischistischen Mechanismus der ‚schönen Maschine’“ kritisieren. Seine Ideen seien „nicht irrationaler als der Kapitalismus und seine Marktwirtschaft selbst; sie können sich in ihren mörderischen Konsequenzen stets auf den real mörderischen Charakter des kapitalistischen ‚Kampfes ums Dasein’ berufen“.

Nach Ansicht Kurz’ bot der Sozialbiologismus in der Vorkriegszeit „die bequemste Legitimationsideologie für die imperialistische Expansionspolitik und die innere kapitalistische Krisenverwaltung“. Er stellte gleichzeitig eine auf den „selbstzerstörerischen ‚Kampf’ ausgerichtete negative Integrationsleistung in Gestalt einer monströsen Kompensationsideologie für die gedemütigten […] Massen“ dar, „die ihre bedingungslose Selbstunterwerfung unter den Verwertungsprozess damit aggressiv maskieren durften“.

Die „Eugenik“ lief „zunächst auf eine biologistische Bevölkerungspolitik hinaus, die sich als ‚Fortpflanzungshygiene’ definierte. Während die ‚Minderwertigen’ und ‚Entarteten’ notfalls gesetzlich und mit Polizeigewalt daran gehindert werden sollten, sich fortzupflanzen, galt es andererseits als gesellschaftspolitisches Ziel, ‚erbgesundes’ Menschenmaterial nach landwirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammenzuführen“. Im Zusammenhang mit dem Eugenik-Programm „erfand der Sozialdarwinismus in einem Aufwasch gleich den ‚physiologischen Schwachsinn des Weibes’, so der Titel einer im Jahr 1900 erschienenen […] Abhandlung des berüchtigten wilhelminischen Neurologen Paul Julius Möbius“. Der Hintergrund dessen war, dass der Kapitalismus - „von Haus aus eine Männerveranstaltung“ – immer schon „die Idee einer gewissen Unzuverlässigkeit und gleichzeitigen Inferiorität des weiblichen Menschenmaterials gehegt [habe], das wegen seiner Bereitstellung für die ‚abgespaltenen’, von der Kapitallogik nicht voll zu erfassenden Bereiche eben auch weniger in den Kriterien der kapitalistischen Weltmaschine aufgehen konnte“. Es war verbreitete Auffassung, dass die Frau auf die Stufe des Tieres und „gewissermaßen ‚physiologisch’ in einer Linie mit den ‚Entarteten’“ zu stellen sei.

Rassenkampf und Weltverschwörung

Mit dem Darwinismus verband sich außerdem der moderne Rassenwahn. Dieser war „bis dahin noch eher kulturtheoretisch motiviert“ und erhielt nun nach Kurz „mit dem Kriterium der Hautfarbe bereits ein biologistisches Merkmal“. Schon „die großen Aufklärungsphilosophen mit Kant an der Spitze“ waren Anhänger einer Rassenideologie. So mussten bei Kant „unter dem Aspekt der Kampagne gegen die ‚Faulheit’ zwecks ‚Verfleißigung’ (Industrialisierung) des Menschenmaterials […] ‚die Neger’ als Negativexempel herhalten“. Es herrschte die Auffassung vor, dass „die Afrikaner aber auch zu gar nichts zu gebrauchen seien und von Natur aus kujoniert werden müßten“. Bei Hegel wurde „die Kultur der ‚Neger’ als die unterste, vorzivilisatorische Phase des entäußerten ‚Weltgeistes’“ abgestempelt. In Frankreich kreierte Auguste Comte eine „einschlägige Stadientheorie der Menschheit, die von der angeblichen Menschenfresserei der ‚Wilden’ bis zu den ‚Auserwählten oder [...] den Vortrab der Menschheit’ reicht, der ‚den größeren Teil der weißen Rasse oder die europäischen Nationen (umfaßt)’“. Daran anschließend erfand der französische Diplomat und Publizist Joseph Arthur Graf de Gobineau den „ Mythos der ‚arischen Edelrasse’“.

Durch die Verschmelzung mit dem Darwinismus nahm laut Kurz „die Rassentheorie einen unmittelbar biologistischen Charakter an, der ihren von Haus aus wahnhaften und destruktiven Charakter gewissermaßen verdoppelte“. Houston Stewart Chamberlain lieferte mit seinem Bestseller „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“ eine Interpretation der „gesamten Geschichte einschließlich der Kunstformen nach ‚rassischen’ Gesichtspunkten“. „Der Kampf um die „Rassenreinheit avancierte so zum ideologischen Zielkorridor für das beginnende 20. Jahrhundert, mit mehr oder weniger tiefgreifendem Einfluß in ausnahmslos allen kapitalistischen Ländern und Modernisierungsgesellschaften.“

Aus der Verbindung von Darwinismus, und Rassenwahn bildete sich nach Kurz „eine dualistische Rangordnung des imperial-kapitalistischen Systems auf allen Ebenen heraus: biologisch elitäre Herrenmenschen, ‚weiße Rasse’, ‚erbgesunde’ Normalos, kampfkräftige Männer auf der einen Seite; zu beherrschendes und biologisch inferiores Menschenmaterial, ‚Entartete’ und Kranke, geborene Verbrecher, Frauen, ‚farbige Rassen’ auf der anderen Seite“.

Die Verkörperung des Bösen

Für Kurz entwickelte sich eine Gesellschaft des „darwinistischen und rassistischen Wahns“, die „sich ihrer selbst nicht bewusst“ war und „sich in pseudo-naturgesetzlichen, selbstzweckhaften Denk- und Handlungsformen“ bewegte. Sie benötigte daher „die Idee eines als fremd und äußerlich gedachten ‚Bösen’, um die verdrängten, nicht ins Bewußtsein integrierten Momente des eigenen Selbst zu bannen“. Nach Ansicht Kurz’ konnte diese Funktion nicht durch die „inferioren Menschenkategorien“, also die „ Entarteten“, „Frauen“, „Farbigen“ oder als „Untermenschen“ betrachteten Gruppen eingenommen werden, da diese dafür „nicht satisfaktionsfähig genug“ waren. Für die „Verkörperung seiner eigenen Negativität“ benötigte das „reif werdende kapitalistische System“ vielmehr „eine ‚böse Gegenrasse’ von ‚negativen Übermenschen’ - und diese fand sich in Gestalt der Juden“. Kurz verweist an der Stelle auf die „lange Tradition“ einer solchen Interpretation des Bösen bis ins Mittelalter, wo „die jüdischen Gemeinden als ‚Christusmörder’ aberwitzigen Phantasien (z. B. dem Verdacht kannibalistischer Ritualmorde an Christenkindern) und periodischen Verfolgungen ausgesetzt gewesen“ waren. Dieser „religiöse Affekt des Mittelalters wandelte sich zum modernen Antisemitismus, der diesen Affekt auf das säkularisierte, quasi-religiöse Bezugssystem der kapitalistischen Weltmaschine übertrug und die Negativität der Verwertung des Werts als ‚jüdisches Wesen’ definierte: Was schlecht ist an der Herrschaft des Geldes, das muß ‚jüdisch‘ sein“. In der Verschmelzung des Antisemitismus’ mit dem Darwinismus erschien nun „die postulierte Negativität des Jüdischen, seine Definition als Macht des Unheimlichen in der Moderne […] als biologische „Rasseneigenschaft“. Es verbreitete sich die Paranoia einer „phantastischen ‚jüdischen Weltverschwörung’“ - exemplarisch bei Houston Stewart Chamberlain. Dieser habe „das ‚fremde jüdische Wesen’ […] in die unentrinnbare Objektivität der ‚dämonischen Gegenrasse“ verwandelt, „deren Mitglieder nicht subjektiv zu tadeln sind, da sie nur ihrer biologischen Natur gemäß handeln“. Gerade diese „pseudo-naturwissenschaftliche ‚Anerkennung’ des imaginierten ‚Rassengegners’“ lasse „letzten Endes nur noch die Logik der physischen Vernichtung offen, da eine menschliche Verständigung mit den stummen „Gesetzen des (fremden) Blutes“ nicht mehr möglich ist“. Hier bestehe eine „Analogie zu den stummen, nicht verhandelbaren Gesetzen von Markt und Konkurrenz“.

Kurz erwähnt in diesem Zusammenhang das „Motiv des jüdischen Selbsthasses’“. Dieser äußerte sich darin, dass „sich jüdische Bürger in fast allen kapitalistischen Ländern selber Elemente dieser Wahnideen zu eigen machten und entsprechende Äußerungen in bestimmter Weise mittrugen“. So wurde z.B. „in den Synagogen von Paris sogar für die Gesundheit Alexanders III., des offen antisemitischen ‚Zaren der Pogrome’, gebetet [..], weil er ein Verbündeter Frankreichs war“. Ähnliche Verhaltensweisen und Äußerungen lassen „sich bei vielen bekannten jüdischen Literaten und Theoretikern bis in die Zeit des Hitler-Regimes hinein feststellen“. Dies sei ein bis heute weitgehend verdrängter Tatbestand, was sich darauf zurückführen lasse, dass auch die „linke und demokratische Intelligenzia“ „vor den Konsequenzen der Kritik zurückscheut“: die Einsicht, dass sich die rassistischen und antisemitischen Motive letztlich „bis auf die großen Geister der Aufklärung wie Voltaire, Rousseau, Kant usw. zurückverfolgen“ lassen.

Sozialismus der höheren Wirbeltiere

Kurz untersucht in diesem Kapitel „die Frage nach dem Beitrag des Sozialismus und der Arbeiterbewegung an der Biologisierung von Gesellschaftstheorie und sozialen Konflikten“. Die entscheidende Schnittmenge von Sozialismus und Rassismus/Antisemitismus war für Kurz „der positiv besetzte Begriff der ‚Arbeit’“. „In dem Maße, wie die sozialistische Arbeiterbewegung das Kategorie der Muße, die für die alten Sozialrevolten noch zentral gewesen sei, durch die „Leistungskategorie der ‚Arbeit’“ ersetzte, die sie vom Liberalismus übernahm, „mußte sie auch anfällig werden für Ressentiments gegen Leistungsschwache, ‚Ungläubige’ in Sachen Religion der ‚Arbeit’ und vermeintliche ‚Nichtarbeiter’“.

Die „Arbeit“ wurde „gegen die vermeintliche ‚Nichtarbeit’ in Szene gesetzt, gegen das ‚arbeitslose Einkommen’ der Kapitalisten, die sich ‚den Mehrwert aneignen’“. Da aber leicht nachzuweisen war, „daß die sogenannten Kapitalisten auch selbst ‚arbeiteten’, wenn auch in anderen Funktionsbezügen, […] konnten eigentlich der wie auch immer ‚mitarbeitende’ Privatkapitalist und der sogar selber nur angestellte Manager nicht so ohne weiteres unter die Kategorie der ‚Nichtarbeit’ subsumiert werden“. Die „abstrakte Arbeit“ konnte so „nicht insgesamt als Bestandteil des Kapitals dechiffriert werden“, weshalb der Begriff der „Nichtarbeit“ verengt wurde „entweder auf den Handel, der ‚nichts herstellt’ und sich angeblich bloß parasitär zwischen Produzenten und Konsumenten schiebt, oder auf die (wie Friedrich Engels sich ausdrückte) ‚Kuponschneider’, die reinen Geldkapitalisten, die anscheinend wirklich ohne jeden eigenen Handschlag in Form des Zinses ‚arbeitsloses Einkommen’ beziehen“.

Die unmittelbare Tätigkeit in der Umformung des Naturstoffs bei der Produktion von Gütern erschien als positive „produktive“ Tätigkeit und als die „gute“, konkrete Seite und die kapitalistische Vermittlungsfunktion von Handel oder Banken als die negative „unproduktive“ Tätigkeit und als die „schlechte“, abstrakte (weil unmittelbar auf das Geld bezogene) Seite.

Diese verkürzte, moralisierende Kapitalismuskritik in den unaufgehobenen kapitalistischen Kategorien selbst passte gemäß Kurz gut auf jene Verhaltensweisen, wie sie den Juden zugeschrieben wurden, als dass sie eine antisemitische Schlagseite hätte vermeiden können.

Der sozialistische Antisemitismus

Diesen sozialistischen Antisemitismus macht Kurz bereits bei den utopischen Frühsozialisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus. So sei Charles Fourier „französischer Nationalist“ gewesen und „von einer dumpfen Fremdenfeindlichkeit“. Er wähnte „die kapitalistische Ausbeutung vor allem durch Handel und Wucher verursacht“. Er sei schon 1808 in seiner Schrift „Theorie des quatre mouvements“ durch die entsprechenden Zuschreibungen in ein kraß antisemitisches Weltbild verfallen und habe sogar „gegen Bürgerrechte für Juden“ geeifert. Pierre-Joseph Proudhon, einer der Begründer des Anarchismus, „reduzierte den Begriff des Kapitalismus auf das zinstragende Kapital der reinen Geldverleiher, dessen „Bedingung der Möglichkeit“ er im Charakter des Geldes als einer privilegierten Ware angelegt sah, die demzufolge ‚deprivilegiert’ werden müsse“. Er „wollte deshalb ein sogenanntes ‚Arbeitsgeld’ einführen, das auf der direkten Verrechnung von Arbeitsquanten beruhen und den ‚arbeitslosen’ Zinsgewinn von Geldkapitalisten unmöglich machen sollte“. Proudhon sei nicht in der Lage gewesen, „die ‚abstrakte Arbeit’ des warenproduzierenden Systems [..] als Kern des Kapitals selber [zu] erkennen“. Seine Theorie kritisierte „den Kapitalismus nur so weit, wie es die antisemitische Umdeutung der inneren Widersprüche dieser Gesellschaftsform erlaubt“ und sei daher auch immer wieder „in die hetzerische Sprache des Wahns vom eingeborenen jüdischen Geldmenschen und Weltverschwörer“ verfallen.

Der ausschließliche Haß gegen die „Zinsknechtschaft“ sei untrennbar verbunden gewesen mit einer antisemitischen Hetze, die „bis tief in die Arbeiterbewegung hinein“ ihre Wirkung gezeigt hätte. Kurz erwähnt an dieser Stelle Rudolf Steiner und Silvio Gesell, die er als Teil einer „antisemitisch-zinskritische Schnittmenge“ bezeichnet, aus der „schließlich der Nationalsozialismus aufschießen sollte“.

Auch bei Marx macht Kurz eine „antisemitische Schieflage“ aus. Er und der marxistische Hauptstrom der Arbeiterbewegung nach 1848 wollte zwar „nicht mehr bloß das zinstragende Leih- und das Handelskapital, sondern den Kapitalismus als Produktionsweise insgesamt kritisieren“. „Aber weil dabei trotzdem der positive Begriff der ‚abstrakten Arbeit’ beibehalten und nur das privatkapitalistische industrielle Regiment durch ein staatsbürokratisches ersetzt werden sollte, blieb die Haltung gegenüber dem antisemitischen Syndrom notwendigerweise ambivalent“. Marx habe zwar - im Unterschied zum Arbeiterbewegungs-Marxismus –„theoretisch ein widersprüchliches und streckenweise kritisches Verhältnis zur Kategorie der ‚Arbeit’“ gehabt und „die Fixierung auf das zinstragende Kapital als Volksvorurteil und Ausdruck des Kapitalfetischs bezeichnet“, doch habe er „immer wieder in Richtung einer Identifikation von ‚Geld überhaupt’ oder ‚Schacher’ und ‚Wucher’ mit dem ‚jüdischen Wesen’“ polemisiert.

Im Unterschied zu Fourier und Proudhon habe Marx allerdings „den Juden“ als bloße „Metapher“ für die Geldherrschaft genommen und diese nicht auf ihn zurückgeführt.

Kurz wirft dem „Großteil der Linken“ vor, dass sie „daraus bis heute nichts gelernt“ habe. Sie halte nach wie vor „an ihren falschen Begriffen fest“ wie „ Affirmation der ‚Arbeit’“ und damit an allen „Grundkategorien des Kapitalismus“ und an der „Vorstellung von der an sich ‚guten’, weil zu irgendeiner historischen Mission eigens vom Weltgeist geschaffenen ‚Arbeiterklasse’“.

Kapitel 6: Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution

Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist für Kurz charakterisiert durch eine „eigentümliche schizophrene Mischung aus Fortschrittsgläubigkeit und Untergangsphantasie, technokratischem Machbarkeitsdenken und biologistischer ‚Veterinärphilosophie’, Staatsräson und Marktkonkurrenz, individuellen Ansprüchen und wahnhafter Kollektivsubjektivität von ‚Nation’ und ‚Rasse’“ . Diese Mischung sollte nun zur „Entladung“ „der unbeherrschbar gewordenen Spannungen in und zwischen den imperialen Mächten drängen“.

Die aus der Agrargesellschaft überkommenen traditionellen Bindekräfte der Gesellschaft lösten sich immer schneller auf, was „Ratlosigkeit und irrationale Unrast“ zurücklies. Die Ideen und Programme der sozialistischen Arbeiterbewegung wurden „hohl und als vermeintliche historische Alternative unglaubwürdig“, da sie von Grund auf „mit den kapitalistischen Denkformen, Handlungsmustern und Interessenkategorien kontaminiert“ waren. Quer durch das politische Spektrum und die sozialen Klassen des Industriekapitalismus flackerten „bizarre Ideen und Bewegungen auf, die auf die Unbegreiflichkeit der Veränderungen, die in weiterhin zunehmendem Tempo mit den Menschen einfach geschahen, in einer geradezu hinterhältig naiven Weise reagierten“.

„Das dumpfe Gefühl, daß ‚etwas’ geschehen müsse, ohne daß anzugeben war, was es denn sein solle, mündete in die falsche Unmittelbarkeit von vielfältigen einzelnen und scheinbar zusammenhanglosen Ideen“. Es entstanden „Bewegungen zur ‚Lebensreform’, Vegetarierclubs und Nudistenvereine“, Jugend- und Wanderbewegungen. „Nicht kritische Reflexion der Gesellschaft war jedoch das Ziel, sondern eine Art Läuterung durch kulturelle Ersatzhandlungen, habituelle Maskerade und eine intellektuell inferiore Lagerfeuer-Romantik, die das vordergründig in seinen Lebensformen angegriffene Spießbürgertum an nationalistischem Fanatismus noch überbot. Es ging dabei weder um Muße noch um Genuß, weder um real lebbare Erotik noch um eine ungezwungenere Lebensweise. Die Zivilisationskritik richtete sich nur gegen die sowieso abblätternde kapitalistische Fassade des 19. Jahrhunderts, nicht aber gegen die destruktive gesellschaftliche Dynamik selbst, deren Ziellosigkeit sich in den Köpfen der Lebensreformler, Jugendbewegler (und entsprechend auch in den ‚Arbeiterkulturbewegungen‘) reproduzierte“. Ein zentraler ideologischer Begriff wurde die „‚Reinheit’“. Diesem Begriff wurde eine „geradezu mystische Bedeutung“ beigemessen und auf den Gesellschaftskörper übertragen. Kurz bezeichnet dies als Traum „von einer sittlichen und kulturellen Waschung [..], mit der die himmelschreienden Widersprüche des Kapitalismus womöglich durch eine Art Kneipp-Kur weggespült werden könnten“. Der „hygienischen Blick“ richtete sich dann auch folgerichtig „nach innen, auf die ‚Reinheit des Blutes’, wie sie in den darwinistisch-sozialbiologischen Ideen verfochten wurde“. „Der wahre, neue und ‚reine’ Mensch sollte eben auch möglichst ein ‚reinrassiger’ sein, was immer darunter jeweils zu verstehen war“. Die österreichischen und große Teile der deutschen Wandervogelbewegung schlossen Juden als Mitglieder aus oder zwangen sie, eigene und getrennte Gruppen zu bilden; für dieses Vorgehen wurde das Wort „judenrein“ geprägt.

Kurz spricht von der „Unruhe einer bevorstehenden Häutung des Kapitalismus, dessen massenindustrielles und massendemokratisches Entwicklungsstadium heraufdämmerte“. Das gleichzeitige „Fehlen jeder ernsthaften emanzipatorischen Initiative gegen das System der abstrakten ‚Arbeit’ ließen im gesellschaftlichen Bewußtsein Momente einer aggressiven und zynischen Katastrophensehnsucht aufflackern“. Diese sollte „alsbald durch die letzte ‚Reinigung’ von Bein und Fleisch im ‚Stahlbad’ des Weltkriegs befriedigt werden“.

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts

Mit der Entfesselung des Ersten Weltkriegs begann für Kurz die „’Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts’“ (George F. Kennan). „Als die Explosion erfolgte, waren sich die wenigsten darüber im klaren, zu welch einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen diese bis dahin größte Katastrophe der an Krisen und gesellschaftlichen Gesamtunfällen reichen Modernisierungsgeschichte führen würde“. Die erste Reaktion war eine ungeheure Begeisterungswelle. Die Explosion wurde „wie eine Erlösung empfunden - so unerträglich war die Spannung im gesellschaftlichen Bewußtsein unter dem blinden Diktat der kapitalistischen Weltmaschine angestiegen“. Kurz interpretiert dies als „Hoffnung auf grundsätzliche und positive Veränderungen, auf eine Erneuerung und Verjüngung der Welt“, die sich „nicht mehr anders als in der Form einer nationalen Kriegsbegeisterung äußern konnte“; dies zeige „den Grad der Demoralisierung und geistigen Verkommenheit an, den die menschliche Gesellschaft durch ihre Unterwerfung unter die Gesetze der Konkurrenz bereits erreicht hatte“. „Das ganze Wutpotential einer von Grund auf repressiven Gesellschaftsordnung, das die nationalisierten Massen in sich hineingefressen hatten, durfte sich nun entladen - nach außen“.

Umso heftiger musste nach Kurz nun „die ‚innere Einheit“ der ‚nationalen Schicksalsgemeinschaft’ beschworen werden“. So erklärte Wilhelm II. am l. August 1914 : „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“. Für die Liberalen „bedurfte es eines solchen Appells natürlich gar nicht“, da diese „allesamt die imperialistische Konkurrenzpolitik aus tiefstem Herzen selber propagiert und sogar konzeptionell ausgearbeitet“ hatten. Der Aufruf war v.a. an „die jüdischen Staatsbürger und die Sozialdemokratie“ gerichtet. Deren „alte Politik der Anpassung und Selbstverleugnung“ schlug nun um „in den offenen Wahnsinn der Beteiligung an den wechselseitigen Haßtiraden“. Die „Mehrzahl der jüdischen Oberschicht, der Akademiker, Wissenschaftler und Führungskräfte der Wirtschaft [trat] die nationalistische Flucht nach vorn an“. Auch die Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie stimmten „in das schauerliche nationale Kriegs- und Einheitsgeheul ein“ – unter dem der Vorwand eines „‚Verteidigungskrieges’ gegen ‚Aggressoren’“. Es „mußte nun das Zarenregime von Nikolaj II. herhalten, um eine Bedrohung des demokratischen Wahlrechts und der deutschen Arbeiterbewegung ‚von außen’ behaupten und den Schulterschluß mit dem wilhelminischen Kapitalismus legitimieren zu können“. „Die Kriegskredite wurden bewilligt und die wenigen Abweichler des äußersten linken Flügels mit der 1916 ins Gefängnis geworfenen jüdischen Marxistin Rosa Luxemburg an der Spitze verfemt“. Nur eine Handvoll Intellektueller ließ sich „durch den allgemeinen Wahn nicht mitreißen und versuchte von unterschiedlichsten Positionen aus eine Opposition gegen den Krieg literarisch zu formulieren – wie z.B. Karl Kraus, Ricarda Huch, Stefan Zweig und Franz Werfel.

Der Krieg zeigte nach Kurz „die industrielle Veränderung und Maschinisierung der Schlacht“. Er bezeichnet ihn als „negative Produktion von Kapital“, was auch in der Metapher vom „Walzwerk der Front“ in Ernst Jüngers Kriegsbuch „In Stahlgewittern“ immer wiederkehre. Während des Krieges beschleunigte sich die technische Entwicklung v.a. „in der chemischen Industrie (Giftgasproduktion), im Flugzeugbau und in der Automobilproduktion“. „In den Schrecken der Materialschlacht deutete sich eine neue Stufe des Industriekapitalismus an, damit aber auch eine neue Gestalt der abstrakten „Arbeit“, die sich zuerst auf dem Schlachtfeld manifestierte“. Im Gaskrieg „wurde endlich auch die Metapher vom menschlichen Ungeziefer buchstäblich wahr gemacht: Die Kriegshelden auf beiden Seiten verwandelten sich in menschliche Laborratten, in das Testmaterial der chemischen Industrie“. Es entstand „eine neue Qualität der kapitalistischen Zumutungen und eine Verdichtung der ‚Arbeit’, die sich zunächst in der Zuspitzung der quasi ‚betriebswirtschaftlichen’ Disziplinierung in den Schützengräben ankündigte“. Dabei „zahlte sich die sozialdemokratische Verinnerlichung der Fabrik- und Bürodisziplin als ideeller Wert der Arbeiterbewegung für das Funktionieren der Kriegsmaschine aus“.

Der Erste Weltkrieg bewirkte nach Kurz ein Aufblühen des „Sozialdemokratismus“. „Endlich war er bei sich und zu sich gekommen, durfte mitmischen und die ‚Götterdämmerung der bürgerlichen Welt’ (Bebel) als seinen eigenen lang ersehnten demokratischen Eintritt in eben diese Welt mit Blutorgien feiern“. Weil die Sozialdemokratie ihren „Blutzoll treu entrichtet und sich als Fleisch vom Fleische der kapitalistischen Welt bewiesen hatten, wurde ihnen nun der lang ersehnte Eintritt in die Zentren der Macht oder doch wenigstens in deren Vorhallen und Hinterhöfe gewährt; der leviathanische Impetus der Sozialdemokratie fand endlich sein praktisches Betätigungsfeld in der demokratischen Schülermitverwaltung des Menschenschlachthauses. Die bislang ausgegrenzten Sozialistenführer mutierten zu staatsmännischen Juniorpartnern der ‚schönen’ Maschine, die sie bis heute geblieben sind“. In Frankreich und Belgien „traten führende Funktionäre der Arbeiterbewegung als Minister in die Kriegskabinette ein“; in Deutschland war die Mehrheitssozialdemokratie „im informellen Beratungsgremium des ‚Interfraktionellen Ausschusses’ […] gerngesehenes und eifriges Mitglied“. So formte sich „der sozialdemokratische Begriff des Sozialismus weiter aus“. Die Idee des Sozialismus als „Kapitalismus plus sozialistische Teilhabe in leviathanischen Formen“ „vermengte sich mit dem, was in Deutschland allgemein ‚die Ideen von 1914’ genannt wurde“: eine „ebenso vage wie irrationale Kriegsgemeinschafts-Ideologie, die den ‚deutschen Reichsgedanken’ gegen das ‚perfide Albion’ (Großbritannien) und gegen die westeuropäischen ‚Krämerseelen’ propagierte. Darin war ein „starkes antisemitisches Element“ enthalten und „jene spezifische Schizophrenie der deutschen nachholenden Nationsbildung seit dem frühen 19. Jahrhundert“. Dieses „Konstrukt verschmolz nun mit den kriegswirtschaftlichen ‚Notwendigkeiten’, der Beschwörung der ‚inneren Einheit’ und der Akzeptanz oder sogar Verherrlichung der abstrakten ‚Arbeit’ unter den Bedingungen des industriellen Weltkriegs zu jenen ‚Ideen von 1914’, die einen irrationalen und offen oder implizit antisemitischen Staatssozialismus neuen Typs einschlossen“.

Der Krieg brachte „unter kräftiger Mitarbeit von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie auch einen neuen staatssozialistischen Schub […]. Gewerkschaften und SPD beteiligten sich […] auch an den Debatten über die Kriegsziele bis hin zur Forderung nach Annexionen, neuen Kolonien, Deutscher Suprematie in Europa, ja sogar einer Art Weltherrschaft des Deutschen Reiches. Gewerkschaftsgelder wurden in großem Umfang in Kriegsanleihen angelegt. Und die sozialistische Legitimationsideologie für den nationalen Schulterschluß wechselte von der angeblichen Bedrohung der demokratischen Errungenschaften durch den russischen Zaren und seine ‚Horden’ zur Bedrohung der deutschen Weltmarktinteressen durch Großbritannien, dessen kriegspolitischer ‚Hauptzweck’, wie viele Gewerkschaftsfunktionäre meinten, ‚die wirtschaftliche Schädigung Deutschlands’ sei“. Dies sieht Kurz als logische Konsequenz der Übernahme der „abstrakten Arbeit“ als positiven Wert durch den Sozialismus. Nachdem „auf dieser Grundlage die ‚Arbeiterinteressen’ nationalökonomisch und staatssozialistisch definiert worden waren, mußte notwendigerweise auch das nationale Konkurrenzinteresse nach außen […] zur eigenen Sache gemacht werden“. Das Sozialismusverständnis lud sich mit Begriffen auf, die „teils aus dem Arsenal des bislang belächelten Antisemitismus stammten“. Der Sozialdemokrat Paul Lensch „sprach erstmals vom ‚Kriegssozialismus’, ein Begriff, der bald auch von rechtskonservativen und liberalen Kreisen verwendet wurde und später in der russischen Revolution wieder auftauchen sollte. Umgekehrt ging die Idee der ‚Volksgemeinschaft’, seit langem beliebt bei Antisemiten und in der Jugendbewegung, in den sozialistischen Wortschatz ein; in diesem Kontext entstand auch seit 1915 der wohl von Rathenau kreierte Begriff der ‚Gemeinwirtschaft’, der später das System kommunaler und gewerkschaftlicher warenproduzierender Unternehmen bezeichnete“. „Sozialisten, Liberale und Rechtskonservative brüteten gemeinsam die Idee der ‚Volksgenossenschaft’ für einen ‚nationalen Arbeitsstaat’ aus; und so kann es kaum verwundern, daß dabei auch die von Friedrich Naumanns Linksliberalen erstmals verwendete Bezeichnung eines ‚nationalen Sozialismus’ in sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Texten als ‚Nationalsozialismu’ (vulgo ‚Kriegssozialismus’) wieder erschien: Nahezu das gesamte Basis-Vokabular der Nazi-Partei wurde während des Ersten Weltkriegs unter aktiver Mitwirkung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ‚schöpferisch’ in die Welt gesetzt. Und das waren keine bloß zufälligen Namensgleichheiten, sondern es handelte sich um eine enge Verwandtschaft (um nicht zu sagen Identität) der Ideen, getrennt nur durch hauchdünne Scheidewände äußerer Organisationsfeindschaft und unterschiedlicher ideologischer Traditionen“.

Kurz ist der Ansicht, dass „die staatliche Integration der Sozialdemokratie und die Geburt des Nationalsozialismus eine innere Einheit des durch den Weltkrieg ausgelösten Strukturbruchs“ bildeten. Deutschland machte dabei „den Vorreiter, während ähnliche Erscheinungen auch in den anderen kapitalistischen Ländern abgeschwächt zum Vorschein kamen“.

Kapitel 7: Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien

Kapitel 8: Die Geschichte der Dritten industriellen Revolution

Epilog

Das Schlusskapitel des Buches endet in der pessimistischen Prognose, dass „der ‚Bewusstseinssprung‘ nicht mehr vollzogen wird, der für eine neue soziale Emanzipationsbewegung erforderlich wäre“, die zu einer Überwindung des Kapitalismus' führen könnte. Dieser sei aber dennoch nicht überlebensfähig, da der Funktionsmechanismus der „schönen Maschine“ nicht veränderte werden könne (443). Kurz befürchtet als Konsequenz „die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt, wie sie jetzt schon überall sichtbar wird“. Als einzige Handlungsalternative sieht er in einer solchen Situation „eine Kultur der Verweigerung“. Diese bedeute, „jede Mitverantwortung für ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘ zu verweigern, nur noch ‚Dienst nach Vorschrift‘ zu machen und den kapitalistischen Betrieb zu sabotieren, wo immer das möglich ist“ (444).

Anmerkungen

Die Seitenangaben zu den Zitaten beziehen sich auf die elektronische Ausgabe des Buches.

Verwandte Themen

Literatur

  • Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Ullstein, München 2001, ISBN 3-548-36308-3

Siehe auch