Ritualmordlegende
Ein Ritualmord ist die Tötung eines Menschen als Ritual aus religiösen Motiven. Der Begriff bezieht sich auf die in vielen Religionen und Kulturen bekannte Tradition des Menschenopfers und wertet dieses als Mord. Er setzt also Verhältnisse voraus, in denen Menschenopfer als religiöse Praxis überwiegend abgelehnt werden.
Eine Ritualmord-Legende diente oft als Verleumdung und Propaganda zur Unterdrückung anderer Gruppen und ihrer Religionen. Sie wurde in Europa seit dem 12. Jahrhundert zum festen Bestandteil der Verfolgung Andersgläubiger durch Vertreter des Christentums, besonders im Kontext des Antijudaismus, aber auch der Ketzer- und Hexenverfolgungen. Sie löste häufig Pogrome oder Hinrichtungen von Menschen aus, die diesen Gruppen zugeordnet wurden.
Jüdisch-christliche Tabuisierung des rituellen Menschenopfers
Die Ablehnung und Tabuisierung von Menschenopfern wurde in Europa durch das Judentum eingeleitet und durch rechtsstaatliche Ansätze im römischen Reich und die spätere Christianisierung verbreitet. Sie fußt auf den strengen Menschenopferverboten im Tanach, der Hebräischen Bibel. Dort schärfen Gebote übereinstimmend ein, dass alle erstgeborenen männlichen Nachkommen von Mensch und Tier Gott gehören, aber beim Menschen unbedingt durch ein Tieropfer ersetzt („ausgelöst") werden müssen (Ex 13,2.12f; 22,28f; 34,19f; Num 3,1ff; 18,15; Dtn 15,19). Von einem Menschenopfer nach einem Gelübde berichtet Ri 11,31. Doch in der Tora gilt dies als Götzendienst, Lästerung des Gottesnamens (Lev 18,21) und für die die Religion der Nachbarvölker typischer „Greuel" (Dtn 12,31; Jer 7,31; Ez 20,25; 2 Kön 3,27; 16,3 u.a.). Daher wurde es mit Todesstrafe bedroht (Lev 20,2-5).
Die Ablösung des Menschenopfers durch ein Tieropfer steht auch hinter der Geschichte von der Beinahe-Opferung Isaaks (Gen 22). Auch Tieropfer reglementiert die Tora streng und verbietet Juden u.a. den Blutgenuss, da im Blut das Leben sei und dieses ausschließlich Gott gehöre (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26f; 17,10-14). Damit wurde ein Hauptgrund für Opfer - das Hingeben und Einverleiben fremder Lebenskraft - entkräftet. Die Beschneidung jüdischer Söhne trat als Opfer pars pro toto, eines Teils für das Ganze, an ihre Stelle.
Die Christen lehnen aufgrund der für sie im Kreuzestod Jesu Christi geschehenen Versöhnung Gottes mit der Welt alle Opfer ab. Sie feiern das Gedächtnis seines stellvertretenden Selbstopfers als Sakrament im Abendmahl (Eucharistie).
Herkunft und Kontext der antijudaistischen Ritualmordanklage
Als das Christentum sich um 200 immer stärker im Römischen Reich verbreitete, griffen gebildete Römer ihre Eucharistiefeier als eine Art von Kannibalismus an, bei dem Christen angeblich Kinder ermordeten und ihr Blut tränken. Sie denunzierten sie zudem als Brunnenvergifter und Schadenszauberer, die alles mögliche Unheil verursachten. Mit Zirkusspielen zur Volksbelustigung und öffentlichen Hinrichtungen etablierten sie wiederum neue Menschenopfer.
Nachdem die Kirche in ihrer orthodoxen, später katholischen Form Staatsreligion des Römischen Reiches geworden war, beanspruchte sie die Alleingeltung des christlichen Glaubens. Dieser Absolutheitsanspruch wurde durch die kleine, aber allen Bekehrungsversuchen gegenüber resistente Minderheit der Juden in Frage gestellt und seit 711, als Araber das Westgotenreich in Andalusien eroberten, zunehmend auch durch den Islam bedroht.
Während der Kreuzzüge ab dem 11. Jahrhundert kam es unterwegs zu Pogromen an vielen jüdischen Gemeinden und grausamen Massakern an der jüdischen und muslimischen Bevölkerung Palästinas und Jerusalems. In dieser Zeit tauchte der Vorwurf des Ritualmords gegen Juden auf: Nach der christlichen Legende hätten sie zum Pessachfest christliche Kinder entführt und geschächtet, weil sie das Kinderblut für ihre Mazzen bräuchten.
Diese Legenden waren eine reine Erfindung, die das biblische Verbot des Blutgenusses für Juden ignorierten. Sie dienten dazu, örtliche oder regionale Verfolgungen gegen jüdische Gemeinden einzuleiten und zu legitimieren. Sie wurden dazu benutzt, den Juden ungelöste Morde, Unglücksfälle oder vermisste Kinder anzulasten und soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren.
Seit der Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre durch das 4. Laterankonzil im Jahre 1215 konnte sich der Ritualmord-Vorwurf mit dem Vorwurf der Hostienschändung verbinden: Weil sich Wein und Brot bei der Eucharistie in den realen Blut und den Leib Christi verwandeln sollten, schrieb man der Hostie magische Kräfte zu. Ihr Missbrauch konnte im Aberglauben der Bevölkerung - vergleichbar mit Vorgängen des Voodoo-Zaubers - weitreichende Folgen haben.
Beide Motive, Ritualmord und Hostienfrevel, gehen letztlich auf die These vom „Gottes-" bzw. „Christusmord" zurück, die einen kollektiven Fluch über das Judentum nach sich gezogen habe. Dies war schon im Neuen Testament angelegt (Mt 25,27) und wurde von christlichen Theologen seit dem 2. Jahrhundertdann immer wieder vertreten.
Bekannte Beispiele
Die erste bekannte Ritualmord-Anklage stammt aus dem Jahr 1144. Der vermisste Knabe William aus Norwich sollte von Juden ermordet worden sein. Diese Vorwürfe lösten ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung aus. Es folgten ähnliche Vorwürfe in Gloucester 1168 und Blois in Frankreich 1171. Dort fand erstmals aufgrund einer gefälschten Ritualmordanklage ein Prozess gegen 40 Juden statt. Man bot den Angeklagten an, straffrei auszugehen, falls sie sich taufen ließen. Doch sie weigerten sich, da nach ihrer Überzeugung ein Religionsübertritt das Unrecht an ihnen nicht ungeschehen machen würde. Obwohl kein Beweis für die Anklage gefunden wurde, verbrannte man sie auf dem Scheiterhaufen.
Auch Werner von Oberwesel (1271-1287) sollte angeblich von Juden ermordet worden sein. Die Legende entstand um 1288 und diente als Vorwand für blutige Verfolgungen der Juden im Rheingebiet. In Bacharach wurden deswegen 26 Juden ermordet. Heinrich Heine bezog sich in seiner fragmentarischen Erzählung "Der Rabbi von Bacharach" auf dieses Ereignis. Um die Leiche des Jungen entstand ein Kult: Man schrieb ihr besondere Leuchtkraft zu und weigerte sich zunächst, sie zu beerdigen. Um 1370 berichtete eine lateinische Chronik, Juden hätten ihn an den Füßen aufgehängt, um eine Hostie, die er gerade verschlucken wollte, zu erlangen. Daraufhin wurde Werner als Märtyrer mit einem Fest jedes Jahr am 19., später am 18. April verehrt. Dieser Kult wurde im Bistum Trier erst 1963 eingestellt. Ein weiteres kindliches Mordopfer war Rudolf von Bern, für dessen Tod am 17. April 1294 die Berner Juden verantwortlich gemacht wurden, und der später als Märtyrer verehrt wurde.
Der kleine Anderl von Rinn sollte am 12. Juli 1462 zum "Märtyrlein" gemacht worden sein. Man erinnerte sich aber erst 1475 daran, als es in Trient zu Judenpogromen kam, und ließ seine Leiche ausgraben, um dies zu "beweisen". Anderl wurde selig gesprochen, seine "Schlachtung" auf dem "Judenstein" wurde bis 1961 in der Ortskapelle figürlich dargestellt. Sie ist als Decken- und Wandgemälde dort bis heute zu sehen.
Der Fall des Simon von Trient wurde in ganz Deutschland bekannt und folgenreich. 1475 begann der berühmte Prediger Bernhardin von Feltre als neu ernannter Prior des Franziskanerklosters von Trient eine maßlose Hetze gegen die Juden der Stadt. Diese hatten bislang friedlich mit den Christen dort zusammengelebt. Als am Gründonnerstag (23. Mai) der zwei- oder dreijährige Knabe Simon verschwand, gab Feltre öffentlich den Juden die Schuld hierdran. Man durchsuchte alle ihre Häuser. Der jüdische Hofbesitzer Samuel fand drei Tage darauf in einem Bach vor seinem Haus eine Kinderleiche und meldete den Fund den Behörden.
Diese nahmen ihn und weitere Vertreter der jüdischen Gemeinde fest. Nach einem damaligen Gerücht fing die Leiche des Kindes zu bluten an, als man Samuel und die übrigen Juden vor sie führte. Nach dem späteren offiziellen katholischen Bericht wurden sie jedoch durch Folter zum Geständnis eines Ritualmords gebracht. Papst Sixtus setzte eine Untersuchungskommission ein und übergab einem Freund des Bernhardin da Feltre deren Vorsitz. Dieser stellte die Richtigkeit der Anklage fest, durfte die Juden aber nicht weiter verfolgen. Doch vierzehn von ihnen waren schon hingerichtet worden.
Simon wurde heilig gesprochen. Ein Standbild in Frankfurt am Main zeigte das gemarterte Kind und die Juden mit dem Teufel, um an "der Juden Schelmstück" zu erinnern. Erst 1965 stellte eine päpstliche Kommission einen "Justizirrtum" fest und hob Simons Heiligsprechung auf.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts fanden Hunderte ähnlicher Ritualmord-Anklagen Eingang in reguläre Prozesse in vielen europäischen Ländern. Während des Nationalsozialismus erfuhr die Ritualmordlegende eine Wiederbelebung. Das antisemitische Hetzblatt "Der Stürmer" benutzte sie für seine besonders abstoßenden Karikaturen, um Juden als heimtückische "Blutsauger" darzustellen. Bis heute ist dieses Stereotyp Teil antisemitischer Propaganda, die sich im Westen auf eine Jahrhunderte alte Volksfrömmigkeit und Aberglauben stützt. „Sie [die Juden] werden bezichtigt, nichtjüdische Kinder und nichtjüdische Erwachsene an sich zu locken, sie zu schlachten und ihnen das Blut abzuzapfen. Sie werden bezichtigt, dieses Blut in die Mazzen (ungesäuertes Brot) zu verbacken.“ – „Der Stürmer“, deutsche Zeitung, Sondernummer Mai 1934. „Das jüdische Volk ist verpflichtet, für dieses Fest Menschenblut aufzutreiben, damit ihre Geistlichen dieses Gebäck für die Feiertage vorbereiten können.“ – „Al Riad“, Regierungszeitung in Saudi-Arabien, März 2002
Aktualität
Von einem Ritualmord sprach man bei verschiedenen Ereignissen in letzter Zeit:
- dem Mord des Satanisten-Paares Daniel und Manuela Ruda an einem Freund am 6. Juli 2001,
- dem nicht mehr in der Schule erscheinen von bis zu 300 Jungen afrikanischen Ursprungs in London zwischen Juli und September 2001. Dies wurde erst im Mai 2005 entdeckt, ist aber noch nicht aufgeklärt.
- bei "Ötzi", der 1991 gefundenen Gletschermumie aus der Kupferzeit, bei der man zerbrochene Pfeile und ein wertvolles Kupferbeil als Beigaben fand. Nach einer Hypothese könnte er daher Opfer eines Rituals gewesen sein. Dies wäre der älteste bekannte Ritualmord der Geschichte.
Literatur
- Susanna Buttaroni, Stanislaw Musial: Ritualmord. Böhlau Verlag 2002, ISBN 3205770285
- Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1914) Berlin: Metropol, 2002. ISBN 3932482840
- Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2002. ISBN 3525362676
- Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen: Wallstein Verlag 2002. ISBN 3892446121
Weblinks
- Schulprojekt: Ritualmorde im Mittelalter
- Lexikon Rechtsextremismus: Ritualmordlegende im Antisemitismus
- [1] In der NS-Zeitung Der Stürmer
- [2]Ritualmord-Sondernummer des "Stürmer" (Eindruck im Titel) Mai 1934 mit entspr. Karikatur
- Satanistenmord
- Ritualmord-Drohungen von Islamisten
- Ötzis Tod als Ritualmord