Sigmund Freud
Sigmund Freud (* 6. Mai 1856 in Freiberg (Mähren); † 23. September 1939 in London; ursprünglich Sigismund Schlomo Freud) war ein Neurologe und Tiefenpsychologe, der als Begründer der Psychoanalyse und als Religionskritiker Bekanntheit erlangte. Seine Theorien werden heute kontrovers diskutiert, und die Methode der Psychoanalyse wird von ihren Gegnern als ineffektiv oder zumindest ineffizient im Vergleich zu anderen Therapiemethoden betrachtet. Dennoch gilt Freud nach wie vor als einflussreicher Denker des 20. Jahrhunderts.
Leben
Kindheit und Jugend
Freud wird am 6. Mai 1856 als Sohn jüdischer Eltern in Freiberg geboren, wohin die Familie im 14./15. Jahrhundert aus Köln infolge von Judenverfolgungen gekommen war. Obwohl Freud später Atheist wurde, hat er stets die Bedeutung seines Judentums für sich betont.
Sein Vater Kallamon Jacob Freud (1815 - 1896), ein verarmter Wollhändler, ist bei Sigmunds Geburt schon fast vierzig Jahre alt und zum dritten Mal verheiratet. Freud hat zwei ältere Halbbrüder aus den früheren Ehen seines Vaters sowie sieben jüngere leibliche Geschwister. 1859 zieht die Familie aus wirtschaftlichen Gründen zunächst nach Leipzig und kurze Zeit später nach Wien. Dort wird Freud 1865 ins Leopoldstädter Communal-Realgymnasium aufgenommen, wo er 1873 die Matura mit Auszeichnung besteht.
Nach anfänglichen Plänen, Jura zu studieren, immatrikuliert er sich 1873 an der medizinischen Fakultät der Universität Wien. 1876 befasst er sich während eines Forschungsstipendiums an der Zoologischen Versuchsstation in Triest u.a. mit Aalhoden. Im selben Jahr wechselt er in Wien an das Physiologische Institut unter Ernst Wilhelm Brücke.
1879 tritt er seinen einjährigen Militärdienst an und promoviert 1881 mit dem Thema "Über das Rückenmark niederer Fischarten" zum Doktor der Medizin.
Wirken als Arzt
1882 tritt Freud eine Stelle im Wiener Allgemeinen Krankenhaus unter Theodor Meynert an, die er bis 1885 innehat. 1884-87 befasst er sich mit Forschungen zum Kokain. Die Studie "Über Coca" erscheint nach Selbstexperimenten. Der Versuch, einen morphiumsüchtigen Freund mit Kokain zu heilen, misslingt.
Während einer Studienreise nach Paris 1885 besucht er u.a. die psychiatrische Klinik am Hôpital Salpêtrière, wo Jean-Martin Charcot wirkt, ein als "Napoleon der Hysteriker" bekannter Professor für Pathologische Anatomie, der ihm Anschauungsunterricht über hysterische Fälle und die Auswirkung von Hypnose und Suggestion vermittelt. Schon einige Jahre zuvor hatte der junge Freud auch den Arzt Josef Breuer kennengelernt. Der Fall der "Anna O." (Bertha Pappenheim), die bei Breuer seit 1880 in Behandlung ist, führt zur gemeinsamen Erarbeitung der so genannten "Sprechtherapie", einer Art Vorstufe der Psychoanalyse.
Nach seiner Habilitation 1885 erhält Freud im September eine Privatdozentur für Neuropathologie an der Universität Wien.
Am 25. April 1886 lässt er sich als Arzt nieder und leitet die neurologische Abteilung im Ersten Öffentlichen Kinder-Krankeninstitut von Max Kassowitz bis 1897. Sein im Oktober 1886 gehaltener Vortrag "Über männliche Hysterie" stößt beim Publikum, der "Gesellschaft der Ärzte", auf Ablehnung.
1889 besucht Freud in Nancy (Frankreich) Hippolyte Bernheim, der Versuche mit der so genannten posthypnotischen Suggestion betreibt. Aus diesen Versuchen schließt Freud, dass es ein Unbewusstes geben müsse, welches verantwortlich für einen Großteil menschlicher Handlungen ist.
Private Wege
1886 heiratet Freud Martha Bernays (1861-1951). Aus der Ehe werden die Kinder Mathilde (1887-1978), Jean Martin (1889-1967), Oliver (1891-1969), Ernst August (1892-1970), Sophie (1893-1920) und Anna (1895-1982) hervorgehen. 1891 zieht Freud innerhalb Wiens in die Berggasse 19 um, wo er die nächsten 47 Jahre wohnen wird.
Die Geburt der Psychoanalyse
In einem Brief an Wilhelm Fliess formuliert Freud 1897 nach selbstanalytischen Betrachtungen erstmals die These vom "Ödipus-Komplex", also das Phänomen libidinöser Bindungen zur eigenen Mutter bei einem gleichzeitigen Rivalitätsverhältnis zum Vater.
Im November 1899 veröffentlicht Freud sein auf 1900 vordatiertes Werk „Die Traumdeutung“. Traditionell setzt man den Beginn der Psychoanalyse mit dem Publikationsjahr dieses Buches an.
1902 wird er zum außerordentlichen Professor ernannt und gründet die Psychologische Mittwochsvereinigung, die neben Ferenczi und anderen auch von Alfred Adler besucht wird. Ihren Namen hat sie von dem Wochentag, an dem regelmäßig neueste Forschungsergebnisse diskutiert werden und die neue Kunst der Deutung geübt wird.
1908 beruft er den Ersten internationalen psychoanalytischen Kongress nach Salzburg ein, es folgen weitere Kongresse 1910 in Nürnberg, 1911 in Weimar, 1913 in München, 1918 in Budapest und 1920 in Den Haag und Berlin. 1910 gründet Freud die "Internationale Psychoanalytische Vereinigung" (IPV), es folgen 1911 die "amerikanische psychoanalytische Vereinigung" sowie 1919 die "britische psychoanalytische Vereinigung".
1913 erscheint die Schrift Totem und Tabu, in der sich Freud mit dem kulturgeschichtlichen Phänomen des Inzestverbots auseinandersetzt.
Religionskritiker Freud
Bereits während seiner Arbeiten an der Psychoanalyse begründet Freud eine darauf aufbauende Religionskritik (psychoanalytischer Atheismus). Er bezeichnet sich selbst als einen Feind der Religion "in jeder Form und Verdünnung" und reiht sich somit als Religionskritiker in die Tradition Ludwig Feuerbachs (dessen Thesen er als seine philosophische Grundlage ansieht) und Karl Marx' ein.
Deren philosophischen und gesellschaftlichen Ansätze ergänzt Freud mit einem psychologischen Schwerpunkt, welcher Religion als Zwangsneurose erklärt. Hierbei argumentiert er anthropologisch, ontogenetisch und stammesgeschichtlich:
Das anthropologische Argument definiert die Religion als infantiles (= kindliches) Abwehrverhalten gegen die menschliche Unterlegenheit: der Mensch habe die Naturkräfte personalisiert und zu schützenden Mächten erhoben. Somit helfen sie ihm in seiner Hilflosigkeit. Das zugrundeliegende Verhaltensmuster knüpfe an die frühkindliche Erfahrung der schützenden Eltern, besonders die des Vaters, an.
Auf die frühkindlichen Erfahrungen geht auch Freuds ontogenetischer Ansatz ein: das ambivalente Verhältnis des Kindes gegenüber dem Vater setzt sich im Glauben des Erwachsenen fort. Er erkennt, dass er auch als solcher sich nicht völlig gegen fremde Übermächte wehren kann, weswegen er seinen Schutz im Gottesglauben sucht. Die Götter fürchtet er, trotzdem überträgt er ihnen seinen Schutz.
Das Motiv der Vatersehnsucht setzt sich bei der stammesgeschichtlichen Erklärung fort. Freud setzt bei der Urhorde nach Charles Darwin an, deren Stammesvater als absoluter Despot von den Söhnen sowohl verehrt als auch gehasst wurde, insbesondere aufgrund seines Anspruches, alle Frauen der Horde zu besitzen. Aus Eifersucht hätten sie ihr Oberhaupt gemeinsam umgebracht (Ödipuskomplex). Eine Nachfolge sei aufgrund der gegenseitigen Blockade ihres Feindes und gleichzeitigen Ideals nicht möglich gewesen. Als Gemeinschaft sollen sie sich auf eine Satzung verständigt haben, die ähnliche Taten ausschließen sollte und den Besitz der Frauen aufgeschlossen habe, sodass lediglich Frauen fremder Stämme und Sippen geheiratet wurden (Exogamie). Anschließende Mahlzeiten sollen an den vorangegangenen Mord erinnern. Das Schuldbewusstsein der gesamten Menschheit ("Erbsünde") sei somit der kulturbewahrende Anfang sozialer Organisation, Religion sowie sittlicher Beschränkung.
Freud und Jung
1906 beginnt Freud einen Briefwechsel mit seinem Fachkollegen Carl Gustav Jung. Bei einem Treffen 1907 redet man 13 Stunden lang ohne eine einzige Unterbrechung. Jung wird von Freud als "Kronprinz" angesehen. 1909 reisen die beiden Psychoanalytiker mit Ferenczi in die USA.
Freuds 1914 veröffentlichte Streitschrift "Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" aber führt gemeinsam mit vorangegangenen Differenzen zum Bruch mit C. G. Jung, der aus der von Freud gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung austritt.
Auf dem Höhepunkt des Schaffens
In den zwanziger Jahren erscheinen zahlreiche von Freuds zentralen Werken, die seinen internationalen Ruhm als Psychoanalytiker begründen. Zu nennen sind insbesondere:
- "Jenseits des Lustprinzips" (1920), in dem die Begriffe "Wiederholungszwang" und "Todestrieb" eingeführt werden
- "Massenpsychologie und Ich-Analyse" aus dem Jahr 1921
- "Das Ich und das Es" von 1923
- "Die Zukunft einer Illusion" von 1927, das Freuds kulturtheoretisch-religionspsychologischen Werke einleitet
- Das Unbehagen in der Kultur von 1930
1930 verleiht die Stadt Frankfurt Freud gegen den Protest antisemitischer Kreise den Goethepreis, 1935 wird er Ehrenmitglied der British Royal Society of Medicine. Zu Freuds 80. Geburtstag hält Thomas Mann 1936 den Festvortrag "Freud und die Zukunft".
Schicksalsschläge
1920 stirbt Freuds Tochter Sophie in Hamburg an der Grippe. Zwei Jahre später erkrankt Freud selbst an Gaumenkrebs, der sich trotz zweier 1923 durchgeführter Operationen mit Entfernung von Teilen von Kiefer und Gaumen bis zu seinem Tod beständig verschlimmert. 1930 stirbt Freuds Mutter.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten fallen auch Freuds Werke der Bücherverbrennung vom Mai 1933 anheim. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich am 12. März 1938 und dem Verhör seiner Tochter Anna durch die Gestapo emigriert Freud am 4. Juni 1938 nach London, wo er ein Haus im Stadtteil Hampstead kauft (20 Maresfield Gardens).
Am 23. September 1939 um 3 Uhr morgens stellt Dr. Schur, Freuds Hausarzt, nach einer von Freud gewünschten tödlichen Dosis Morphium, dessen Tod fest.
Erbe
Freuds Arbeit wurde u.a. von seiner Tochter, der Volksschullehrerin und Kinderanalytikerin Anna Freud, weitergeführt. Er gilt als Begründer der modernen Psychoanalyse und hat Einfluss auf nahezu alle VertreterInnen dieses Fachs ausgeübt. Die heutige Psychoanalyse zeichnet sich durch eine Pluralität der Konzepte und Konstrukte aus. In psychoanalytischen Diskussionen und Veröffentlichungen ist es Usus sich auch bei abweichenden Vorstellungen auf das Werk Freuds als gemeinsame Referenz zu beziehen. Auf diese Weise haben Freuds Schriften trotz zahlreicher Korrekturen, Modifikationen und Weiterentwicklungen auch heute noch eine hohe Bedeutung.
1964 wurde in Frankfurt ein Sigmund-Freud-Institut gegründet. Ein Sigmund-Freud-Museum wurde 1971 in Freuds alter Wohnung in der Berggasse 19 in Wien eröffnet. Im Londoner Freud-Museum, welches nach seinem Tod von seiner Tochter Anna eröffnet wurde, befindet sich die Mehrzahl von Freuds Büchern, Sammlungsstücken und Möbeln (einschließlich der berühmten Couch).
Auch wurde in den 1990er Jahren der 1874 errichtete Feldhof in Graz in "Landesnervenklinik Sigmund Freud" umbenannt; dabei handelt es sich um eine Einrichtung für Menschen mit psychischen, neurologischen und psychosomatischen Erkrankungen.
Werk
Freud erforschte zunächst die Hypnose und deren Wirkung, um psychisch kranken Personen zu helfen. Später wandte er sich von dieser Technik ab und entwickelte eine Behandlungsform, die u.a. auf freien Assoziationen und Traumdeutung beruhte, um die seelische Struktur des Menschen zu verstehen und zu behandeln (Psychoanalyse). Nach ihm ist der „freudsche Versprecher“ als offensichtlichstes Beispiel einer Fehlleistung benannt.

Um zu erklären, wie die menschliche Psyche funktioniert, entwickelte Freud eine damals ungewöhnliche Technik, bei der er seine Patienten und deren freie Assoziationen analysierte und hermeneutisch (textauslegend) deutete. Aus diesen Beobachtungen und Deutungen entwickelte er seine Idee der dreiteiligen psychischen Struktur. Seinem Vorschlag zufolge setzt sich die Struktur der Psyche eines Menschen aus drei Teilen (Instanzen) zusammen, dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Er vertrat die Ansicht, dass ca. 90 % der menschlichen Entscheidungen unbewusst motiviert sind und nur ein geringer Teil „sichtbar“ ist.
Sein "Drei-Instanzen-Modell" der Psyche entwickelte Freud in zwei Schritten. So veröffentlichte er im Laufe seiner Forschungen verschiedene topische Modelle über die Struktur und die Dynamik des psychischen Apparates.
Ich, Es und Über-Ich
In der ersten Topik unterschied er das "Bewusste" vom größeren und einflussreicheren "Unbewussten" und legte dar, wie das Unbewusste das Bewusstsein beeinflusst. In der zweiten Topik, die er vor allem in seiner Schrift Das Ich und das Es (1923) entwickelte, beschrieb Freud erstmals seine Theorie über das Es, das Ich und das Über-Ich.
- Dabei tritt das Es an die Stelle des Unbewussten. Es bildet das triebhafte Element der Psyche und kennt weder Negation noch Zeit oder Widerspruch. Damit bezeichnet Freud jene psychische Struktur, in der die Triebe (z.B. Essen, Sexualtrieb), Bedürfnisse und Affekte (Neid, Hass, Vertrauen, Liebe) gründen. Die Triebe, Bedürfnisse und Affekte sind auch Muster (psychische „Organe“), mittels denen wir weitgehend unwillentlich bzw. unbewusst wahrnehmen und unser Handeln leiten.
- Das Ich: Randgebiet des "Es"; bezeichnet jene psychische Strukturinstanz, die mittels des selbstkritischen Denkens und mittels kritisch-rational gesicherter Normen, Werte und Weltbild-Elementen realitätsgerecht vermittelt "zwischen den Ansprüchen des Es, des Über-Ich und der sozialen Umwelt mit dem Ziel, psychische und soziale Konflikte konstruktiv aufzulösen (= zum Verschwinden zu bringen)." (Rupert Lay, Vom Sinn des Lebens, 212)
- Denken, Erinnern, Fühlen, Ausführen von Willkürbewegungen;
- Vermittler zwischen impulsiven Wünschen des Es und dem Über-Ich;
- sucht nach rationalen Lösungen
- ist zum größten Teil bewusst
- Das Über-Ich bezeichnet jene psychische Struktur, in der die aus der erzieherischen Umwelt verinnerlichten Handlungsnormen, Ichideale, Rollen und Weltbilder gründen.
- "Gewissen"
- moralische Instanz, Wertvorstellungen
- Gebote und Verbote der Eltern und subjektiv empfundenen Autoritäten dienen als Vorbild
- Vorstellungen von Gut und Böse
- der Gegenpart zum Es
Das Ich und das Über-Ich entstehen aus dem Es. Die verdrängenden Vorstellungen werden dem Über-Ich zugeschrieben. Es ist ein Teil des Ich und beurteilt die Gedanken, Gefühle und Handlungen des Ich. Das Über-Ich entsteht nach Freud mit der Auflösung des Ödipus-Komplexes (ca. im 5. Lebensjahr). Nach Freud entsteht ein Großteil der Motivation menschlichen Verhaltens aus dem unbewussten Konflikt zwischen den triebhaften Impulsen des Es und dem strengen bewertenden Über-Ich (vgl. die Konzepte zur Abwehr & Sublimierung). Nach Freud unterliegen auch manche Aspekte der Gesellschaft einer solchen Triebdynamik.
Entwicklungsmodell der Psyche
Nach den ersten Lebensmonaten erfährt ein Neugeborenes immer deutlicher, dass es von Dingen und anderen Menschen unterschieden ist. Es entwickelt ein erstes Bewusstsein von den eigenen Körpergrenzen und Selbstgefühlen. "In den folgenden vier Lebensjahren lernt ein Kind (vorsprachlich und deshalb auch unbewusst) die Fragen zu beantworten: 'Wer bin ich?' - 'Was kann ich?' und somit sein Selbstbewusstsein auch inhaltlich zu füllen." (Rupert Lay, Ethik für Wirtschaft und Politik, 68) Um das Es herum wird also eine Zone aufgebaut, die man als frühes Ich bezeichnen kann. Das frühe Ich, das sich wie eine Hülle um das Es legt, wird somit von den frühen Körperrepräsentanzen und den frühen Selbstrepräsentanzen gebildet. Die frühen Körperrepräsentanzen sind die kindlich grundgelegten Bewusstseins- und Gefühlsinhalte über Körperbereiche. Zu den frühen Selbstrepräsentanzen zählen die kindlich grundgelegten Bewusstseins- und Gefühlsinhalte bezüglich der eigenen Person. Sie bestimmen den Sozialcharakter und all unsere später erworbenen Selbstvorstellungen (wer wir sind, was wir fürchten und erhoffen, was wir uns zutrauen...) auf unterschiedliche Weise mit. Leider wurde er im 21. Jahrhundert durch die kognitiven Neurowissenschaften widerlegt.
Gesellschaftliche Wertung und Kritik
Es ist Sigmund Freuds großer Verdienst, die Bedeutung der Subjektivität (Persönlichkeit, Gefühle, Konflikte) und des Unbewussten erkannt zu haben. Die Psychoanalyse wird von vielen Anhängern als eine umfassende Theorie betrachtet, die das komplexe menschliche Erleben und Handeln erschöpfend beschreiben und erklären kann.
Die Freudschen Theorien sind nichtsdestoweniger auch zahlreichen Kritikpunkten ausgesetzt. Vorausgeschickt werden sollte hierbei aber, dass die Psychoanalyse in ihrer modernen Form in vielfältige Richtungen weiterentwickelt wurde und nicht mehr in allen Punkten mit den Freudschen Auffassungen übereinstimmt. Zu erwähnen sind die psychoanalytische Theorie Jacques Lacans, die durch Melanie Klein v.a. in Großbritannien verbreitete Objektbeziehungstheorie, die Selbstpsychologie von Heinz Kohut und die in den USA vorherrschende Ich-Psychologie. Fakt ist aber auch, dass zahlreiche und vor allem zentrale Annahmen der Psychoanalyse empirisch nicht bestätigt werden konnten, so beispielsweise auch der Ödipuskomplex als zentrales Modell der Entwicklungskrise der Kindheit. Beim Ödipuskomplex handelt es sich nicht um eine universelle Entwicklungsphase, sondern bestenfalls um eines von vielen kindlichen Entwicklungsmustern. Dieses Sammelsurium an Irrtümern und Fehlinterpretationen zieht sich durch die gesamte Geschichte der Psychoanalyse.
So wurde z.B. die Existenz eines Todestriebs nicht nur von Wissenschaftlern anderer Fachgebiete, sondern auch von den meisten PsychoanalytikerInnen angezweifelt, andererseits von dem Soziologen Franz Borkenau zum Ausgangspunkt einer Theorie der Dynamik der Kulturen ausgebaut. Auch die klassische Triebtheorie, welche von einem Antagonismus zwischen Libido und Aggression ausging, wurde um zusätzliche menschliche Grundbedürfnisse, wie z.B. Bindung, Individuation und Exploration erweitert. Der Pansexualismusvorwurf, welcher in nuce besagt, die Psychoanalyse führe alles auf Sexualität zurück, übersieht zum einen, dass Freud einen sehr viel umfassenderen Begriff von "Sexualität" als wir heute hatte, und zum anderen, dass die Sexualtheorie in manchen Versionen der modernen Psychoanalyse nur eine Randstellung innehat.
- Für positivistisch orientierte Wissenschaftler sind die Aussagen Freuds zu wenig 'wissenschaftlich' fundiert, d.h. empirisch. Dennoch muss man eingestehen, dass zahlreiche Versuche die Annahmen der Psychoanalyse empirisch zu überprüfen gescheitert sind und selbstverständlich können Aussagen der Psychoanalyse falsifiziert werden, also sind sie einer empirischen Überprüfung unterziehbar. Dies wurde von Psychoanalytikern auch gerade im Zusammenhang mit dem Erfolg der Therapie versucht.
- Eine ähnliche Kritik an der Psychoanalyse besagt, dass sie nicht in hinreichendem Maße (natur-)wissenschaftlich formuliert sei, um überhaupt empirisch überprüfbar zu sein.
Freuds Werk zeigt deutliche Prägungen seiner Kindheits- und Jugendzeit im bürgerlichen Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts und seiner humanistischen Bildung. So benennt er viele innerpsychische Komplexe nach Vorbildern der griechischen Mythologie. Manche seiner Beschreibungen über den Zwiespalt zwischen den triebhaften und als bedrohlich erlebten Impulsen des Es auf der einen und den harten moralischen Vorgaben des Über-Ich auf der anderen Seite, werden aus heutiger Sicht als Ausdruck des damals vorherrschenden gesellschaftlichen Anspruchs verstanden.
Seine Theorien und später auch seine Behandlungsmethoden erregten im Laufe der Zeit zunehmend Aufsehen, so dass er im Laufe der Zeit auch andere Ärzte in seiner Psychoanalyse ausbildete. Unter ihnen war auch C.G. Jung, der sich später von seinem Lehrer abwandte und mit der analytischen Psychologie eine veränderte Form der Psychoanalyse entwickelte.
Freuds Aussagen zum Thema sexuellen Missbrauchs, auf das er in seinen Analysen immer wieder durch Erinnerungen, Träume und andere Hinweise seiner Patientinnen gestoßen war, wurden von Anfang an kritisiert. Er ordnete die Aussagen seiner Patientinnen in späteren Veröffentlichungen als 'ödipal gefärbte Wunschphantasien' ein. Seit im Verlauf der 90er Jahre das Thema Kindesmissbrauch und PTSD verstärkt in das öffentliche Interesse rückte wurde diese These leidenschaftlich bekämpft. Aber gerade in diesem Punkt unterscheidet sich die Psychoanalyse von anderen Theorien: unbewussten sexuellen Phantasien, Vorstellungen und Wünschen wird kein geringerer Stellenwert eingräumt als manifesten Erlebnissen.
Eine der meist bezweifelten Theorien Freuds ist die vom so genannten "Penisneid": Dieser stehe in der psychischen Entwicklung von Mädchen symmetrisch der Kastrationsangst der Jungen gegenüber. In Freuds Analysen ergab sich ihm, dass psychisch fehlgeleitete Handlungen von Frauen oft auf die mangelhafte psychische Verarbeitung der Beobachtung zurückgingen, dass ihnen der Penis eines Jungen unerreichbar fehle, woraus ein Gefühl des Neides resultiere. (Dabei verkannte die Kritik nicht selten, dass "Neid" etwas ganz anderes als "Habsucht" beschreibt.)
Obwohl Freuds Theorien und Behandlungsmethoden in späteren Jahrzehnten von anderen Ärzten und Psychotherapeuten immer wieder kritisiert worden sind, wird sein Beitrag zum Verständnis des menschlichen Erlebens und Handelns meistens als außergewöhnliche Leistung eingeordnet. Viele der von ihm geprägten Begriffe wie "das Unbewusste" oder der Ödipuskomplex sind im Laufe der Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen worden.
Veröffentlichungen (Auswahl)
- 1887 Studie "Über Coca"
- 1893 "Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene" zusammen mit Breuer.
- 1895 "Entwurf einer Psychologie" (Manuskript; gemeinsam mit Josef Breuer)
- 1895 "Studien über Hysterie".
- 1896 Zur Ätiologie der Hysterie (Aufsatz; erste Verwendung des Begriffes "Psychoanalyse")
- 1900 "Die Traumdeutung"
- 1901 "Zur Psychopathologie des Alltagslebens"
- 1905 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
- 1908 "Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität"
- 1913 "Totem und Tabu"
- 1914 "Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung"
- 1915 "Zeitgemäßes über Krieg und Tod"
- 1916 "Trauer und Melancholie"
- 1917 "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse"
- 1920 "Jenseits des Lustprinzips"
- 1921 "Massenpsychologie und Ich-Analyse"
- 1923 "Das Ich und das Es"
- 1925 "Selbstdarstellung"
- 1927 "Die Zukunft einer Illusion"
- 1930 "Das Unbehagen in der Kultur"
- 1933 "Warum Krieg? (Briefwechsel mit Albert Einstein)"
- 1933 "Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse"
- 1937 "Die endliche und die unendliche Analyse"
- 1939 "Der Mann Moses und die monotheistische Religion"
Freuds Patienten
Dies ist eine unvollständige Liste von Patienten, deren Behandlungsverlauf von Freud veröffentlicht wurde. Die richtigen Namen wurden durch die angegebenen Pseudonyme ersetzt.
- Cäcilie M. = Anna von Lieben
- Dora = Ida Bauer (1882-1945)
- Frau Emmy von N. = Fanny Moser
- Fräulein Elizabeth von R.
- Fräulein Katharina = Aurelia Kronich
- Fräulein Lucy R.
- Kleiner Hans = Herbert Graf (1903-1973)
- Rattenmann = Ernst Lanzer (1878-1914)
- Wolfsmann = Sergius Pankejeff (1887-1979)
Veröffentlichte psychoanalytische Beobachtungen an Leuten, die keine Patienten Freuds waren:
- Anna O. = Bertha Pappenheim (1859 - 1936)
- Daniel Paul Schreber (1842-1911)
Weitere Patienten:
- H.D. (1886-1961)
- Emma Eckstein
- Gustav Mahler (1860-1911)
Literatur
Originalia:
- Gesammelte Werke. Fischer Verlag, Frankfurt. 1999. Alles in 19 Bänden. 8759 Seiten. ISBN 3596503000 .
- Das Ich und das Es. Fischer Verlag, Frankfurt. 1992. 354 S. ISBN 3596104432 .
- Die Traumdeutung. Fischer Verlag, Frankfurt. 1991. 662 S. Original erschienen 1899. ISBN 359610436X .
- Abriß der Psychoanalyse. Einführende Darstellungen. ISBN 3596104343 .
- Hemmung, Symptom und Angst. ISBN 3596104432 .
- Schriften über Liebe und Sexualität. ISBN 3596104416 .
- Neue Folgen der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Fischer Verlag, Frankfurt. 1991. 205 S. ISBN . Freud über Freud(s Werk).
- Das Lesebuch. Fischer Verlag, Frankfurt März. 2006; 350 S. ISBN . Kommentierte Sammlung der kürzeren Schriften,
- Sigmund Freud, Anna Freud: Briefwechsel. Fischer Verlag, Frankfurt April. 2006; 750 S. ISBN . Vater und Tochter.
Zur Biografie:
- Peter Gay: Freud. Fischer Verlag, Frankfurt. 2001. 904 S., ISBN 3596129133 .
- Peter Gay: Freud - eine Biografie. Fischer Verlag, Frankfurt. 2006. 928 S., ISBN 3596171709
- Lisa Fischer, Regina Köpl: Sigmund Freud. Wiener Schauplätze der Psychoanalyse. Böhlau Verlag, Wien. 2005; 221 S. ISBN .
- Birgit Lahann: Als Psyche auf die Couch kam. Das rätselvolle Leben des Sigmund Freud., Aufbau Verlag, Berlin März. 2006; 192 S. ISBN 3351026315
- Max Schur: Sigmund Freud, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1982; 701 S. Schur war Freuds Arzt.
- Eva Weissweiler: Die Freuds. Biografie einer Familie. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 2006; 320 S.
- Christian Moser: Sigmund Freud - Die ganze Wahrheit Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2006
- Hans-Martin Lohmann: Sigmund Freud Neuausgabe Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2006. 159 Seiten. ISBN 3-499-50693-9
- Linde Salber: Der dunkle Kontinent. Freud und die Frauen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2006. ISBN 3-499-62138-x
- Irving Stone: Der Seele dunkle Pfade - Ein Roman um Sigmund Freud, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2001, ISBN 3-499-23004-6, Übersetzung aus dem Amerikanischen von Norbert Wölfl
Zum Werk, zur Bedeutung in der Psychologie und Medizin:
- Micha Brumlik: Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts. Beltz Verlag, Weinheim. 2006, 280 S.
- Samuel Weber: Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken Wien: Passagen Verlag 2002.
- F.-W. Eickhoff: Sigmund Freud. Abriss der Psychoanalyse. Jahr, Verlag? ISBN 3596104343
- Werner Greve und Jeanette Roos: Der Untergang des Ödipuskomplexes - Argumente gegen einen Mythos 1996, Bern.
- Han Israels: Der Fall Freud Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999.
- Thomas Kornbichler: Freud - ein bürgerlicher Revolutionär. Seine Gedankenwelt und ihr Einfluss bis heute. Stuttgart. 2006. ISBN 3-7831-2710-2
- Hans-Martin Lohmann: Sigmund Freud zur Einführung. Hamburg, Junius. 2002, 5. Aufl., ISBN 388506362X .
- Herbert Selg: Sigmund Freud - Genie oder Scharlatan? - Eine kritische Einführung in Leben und Werk 2002, Stuttgart.
- Sieglinde Eva Tömmel: Wer hat Angst vor Sigmund Freud? Wie und warum die Psychoanalyse heilt Frankfurt am Main 2006.
- Eli Zaretsky: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. Von Zsolnay Verlag, München. 2006. 620 S.
- Dieter E. Zimmer: Tiefenschwindel. Rowohlt Verlag, Reinbek 1990, ISBN 3499187752 . Sehr kritisch.
In Zeitschriften:
- Richard Albrecht: Leidverhütung und Leidensschutz. Sozial-psychologische Hinweise zu Sigmund Freuds "Unbehagen in der Kultur" und einigen seiner Konsequenzen in: Kultursoziologie, 6. Jg. 1997, Heft 1, 57-72, ISBN 3-931703-002
Siehe auch
- orale Phase, anale Phase, ödipale Phase, genitale Phase (unter Triebtheorie)
- Sigmund-Freud-Preis
- Wilhelm Fließ
- Viktor Frankl
- Wilhelm Reich
- Geschichte der Medizin
- Liste bedeutender Mediziner und Ärzte
- Pansexualismus
- Scham
- Sublimierung
- Überdeterminierung
- Glück
- Freudscher Versprecher
Weblinks
- Museen
- Themenseite "Der Zeit" anlässlich Freuds 150.Geburtstages
- Die Psychoanalyse Sigmund Freuds, eine Einführung von Arthur Brühlmeier
- Detaillierte Kritik an Freud und eine Zusammenfassung seiner Psychoanalyse
Personendaten | |
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NAME | Freud, Sigmund |
ALTERNATIVNAMEN | Freud, Sigismund Schlomo |
KURZBESCHREIBUNG | Psychoanalytiker |
GEBURTSDATUM | 6. Mai 1856 |
GEBURTSORT | Freiberg (Mähren) |
STERBEDATUM | 23. September 1939 |
STERBEORT | London |