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Novemberpogrome 1938

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Die Novemberpogrome 1938 (bezogen auf den 9. November häufig Reichskristallnacht genannt) waren ein staatlich gelenkter Ausbruch von Gewalt gegen Juden und ihre Einrichtungen im ganzen damaligen Deutschen Reich. Dabei wurden vom 7. bis 13. November fast alle Synagogen in Deutschland und Österreich zerstört, schätzungsweise um 500 Juden ermordet und etwa 30.000 in Konzentrationslagern inhaftiert. Damit steigerte das nationalsozialistische Regime die mit dem Judenboykott und den Nürnberger Gesetzen begonnene Ausgrenzung der deutschen Juden zu systematischer Verfolgung, die ihre Enteignung, Vertreibung, Deportation und Vernichtung im Holocaust vorbereitete.

Verlauf

Vorbereitungen

Die Pogrome waren entgegen der Propaganda der Nationalsozialisten nicht von „spontanem Volkszorn“ aus der Mitte der Bevölkerung verursacht und getragen. Sie wurden vielmehr wahrscheinlich schon Monate zuvor von den Staatsbehörden geplant. Dafür sprechen eine Reihe von Indizien:

Am 17. August 1935 hatte die Gestapo die Einrichtung einer reichsweiten „Judenkartei" verordnet, um die deutschen Juden regional und lokal zu erfassen und zu überwachen. Entlassene jüdische Staatsbeamte, die noch Kontakte zu ehemaligen Kollegen pflegten, erfuhren seit Juni 1938, dass bald eine größere Zahl Juden in die KZs eingewiesen werden sollten. Zeugen berichteten von Personenlisten, die das Reichssicherheitshauptamt unter Reinhard Heydrich dazu von den verschiedenen Polizeidienststellen anforderte (siehe Weblinks). Dies ermöglichte die schnelle Verhaftung und eine flächendeckende Deportation vieler männlicher Juden.

Bis Oktober wurden die drei bisher größten deutschen Konzentrationslager - Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen - stark ausgebaut, so dass sie nunmehr zehntausende Gefangene aufnehmen konnten. Obwohl in Dachau bislang keine Juden inhaftiert waren, erhielt die dortige Lagerleitung am 25. Oktober Befehl, 5.000 Judensterne auf Häftlingskleider zu nähen. Zusätzliche Matratzen und Stroh wurden angeliefert.

Vorwände

Nach dem „Anschluss“ Österreichs im Frühjahr 1938 hatte die Judenverfolgung im nun erweiterten gesamtdeutschen Reich zugenommen. Eine Flüchtlingswelle von deutschen Juden in Nachbarstaaten setzte ein. Daraufhin fand im Juli 1938 eine internationale Konferenz in Evian (Frankreich) statt, bei der sich keiner von 32 teilnehmenden Staaten zur Aufnahme der bedrohten Juden bereit erklärte. Vielmehr erließ Polen ein Gesetz, das die Pässe der etwa 12.500 länger als fünf Jahre in Deutschland lebenden polnischen Juden ab dem 30. Oktober 1938 ungültig machen sollte, um sie auszubürgern. Insgesamt lebten etwa 50.000 Juden polnischer Herkunft mit ungeklärtem Rechtsstatus in Deutschland.

Während der darüber laufenden Verhandlungen mit Polen erhielten die Städte und Gemeinden am 27. Oktober den Regierungsbefehl, sofort und in großem Umfang gegen Juden polnischer Staatsangehörigkeit Aufenthaltsverbote für das Reichsgebiet zu erlassen. Am Tag darauf ließ die Gestapo alle volljährigen aus Polen stammenden Juden festnehmen, um sie noch vor Inkrafttreten der polnischen Verordnung nach Polen abzuschieben. In Zügen und Lastwagen transportierte man sie in der Nacht auf den 29. Oktober zur deutsch-polnischen Grenze und jagte sie hinüber.

Da die polnischen Grenzbeamten den Abgeschobenen die Einreise, die Deutschen die Rückkehr mit Waffengewalt verweigerten, irrten sie tagelang ohne Wasser und Nahrung im Niemandsland umher. Schließlich öffnete die polnische Regierung das Flüchtlingslager Zbaszyn (Alt-Bentschen) in der Woiwodschaft Posen und internierte sie dort monatelang, bis eine Vereinbarung mit der deutschen Regierung ihnen im Januar 1939 eine kurze Rückkehr in ihre Heimatorte zur Abwicklung von Geschäften, Haushaltsauflösungen und Auswanderung erlaubte.

Am 3. November erfuhr der in Paris lebende siebzehnjährige polnische Jude Herschel Grynszpan, dass auch seine ganze Familie nach Zsbaszyn verschleppt worden war. Er besorgte sich eine Waffe und schoss damit am 7. November 1938 im örtlichen Gebäude der Deutschen Botschaft auf den der NSDAP angehörenden „Legationssekretär" Ernst Eduard vom Rath. Dieser erlag am 9. November seinen schweren Verletzungen.

Grynszpans genaues Motiv ist unbekannt. Er selbst gab im Verhör „Rache“ für das Leiden seiner Eltern bei deren gewaltsamer Abschiebung an. Er wollte eigentlich den Botschafter erschießen, traf dann aber vom Rath. Ob dieser Mord Zufall war oder mit Kontakten zwischen Täter und Opfer in der Pariser Homosexuellenszene zu tun hatte, ist ungeklärt. Grynszpan wurde zunächst in Untersuchungshaft genommen und kam über verschiedene Gefängnisse nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 in das KZ Sachsenhausen, wo sich seine Spur 1945 verlor. Ein gegen ihn vorgesehener Schauprozess war zuvor aus unbekannten Gründen von Hitler abgesagt worden.

Erste Übergriffe

Die Nachricht vom Attentat auf den wenig bekannten Diplomaten vom Rath, mit denen die Pogrome gerechtfertigt wurden, erreichte die deutsche Öffentlichkeit erst am 8. November 1938 durch die Tagespresse. Bereits am Spätnachmittag des 7. November begannen jedoch die ersten Zerstörungsaktionen. So erfolgten an mehreren Orten in den Gauen Kurhessen und Magdeburg-Anhalt Übergriffe gegen Juden, ihre Wohnungen und Synagogen. Die Täter waren Angehörige von SA und SS, die jedoch in Zivilkleidung auftraten, um als „Bürger“ zu wirken und die Bevölkerung als „Reaktion“ auf das Attentat in Paris zum „Volkszorn“ aufzuhetzen. Am Abend des 7. November wurden auch die Synagoge und andere jüdische Einrichtungen in Kassel verwüstet. Noch in der gleichen Nacht kam es in der Umgebung, in Zierenberg, Bebra und Sontra, zu weiteren Zerstörungen von Gebäuden. Als treibende Kraft in Kurhessen wird der Kasseler Gaupropagandaleiter Gernand genannt.

Am Morgen des 8. November erschien im „Völkischen Beobachter“, dem Presseorgan der NSDAP, ein Leitartikel, in dem es hieß:

Es ist klar, daß das deutsche Volk aus dieser neuen Tat seine Folgerungen ziehen wird. Es ist ein unmöglicher Zustand, daß in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als 'ausländische' Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen. [...] Die Schüsse in der deutschen Botschaft in Paris werden nicht nur den Beginn einer neuen deutschen Haltung in der Judenfrage bedeuten, sondern hoffentlich auch ein Signal für diejenigen Ausländer sein, die bisher nicht erkannten, dass zwischen der Verständigung der Völker letztlich nur der internationale Jude steht.

Der Artikel zeigt, dass die Parteiführung das Attentat als Auftakt zur völligen Verdrängung und Enteignung der Juden aus dem deutschen Wirtschafts- und Kulturleben instrumentalisieren wollte. Dazu wurde die Fiktion einer jüdischen Weltverschwörung bemüht und eine Völkerverständigung auf Kosten der Juden angemahnt. Da das Ausland dazu wohl kaum bereit war, konnte man so die eigene laufende Kriegsvorbereitung als notwendige Selbstverteidigung bemänteln und rechtfertigen.

Am selben Abend brannte in Bad Hersfeld die erste jüdische Synagoge. Auch im Landkreis Fulda und im Landkreis Melsungen wurden Synagogen und Wohngebäude verwüstet. Im Laufe des Abends und der Nacht wurden zahlreiche Juden misshandelt. In Felsberg gab es dabei das erste jüdische Todesopfer in Kurhessen.

Am Nachmittag des 9. November wurden ab 15 Uhr Ortszeit die Synagoge und das jüdische Gemeindehaus in Dessau angezündet. Ab 19 Uhr begannen die Ausschreitungen in Chemnitz. Die Brandstiftungen betrafen allesamt nur Synagogen und jüdische Geschäfte, deren Brände die Nachbarhäuser nicht gefährden konnten. Nichtjüdische Häuser und Wohnungen blieben überall verschont.

Historiker halten es deshalb für sicher, dass diese Pogrome vor dem 9. November zumindest auf Gau-Ebene zentral gelenkt waren. Man vermutet, dass sie über die zuständigen Gaupropagandaämter organisiert wurden. Unklar ist, inwieweit die Gauleiter auf eigene Faust handelten oder auf Weisung des Propagandaministeriums in Berlin. Letzteres wird für wahrscheinlicher gehalten, da die Übergriffe alle nach demselben Schema verliefen: Eine NS-Ortsversammlung wurde schnell einberufen, dort hielten Gauleiter oder SA-Sturmbannführer Hetzreden gegen die Juden. Im Anschluss marschierten die Teilnehmer direkt zu jüdischen Geschäften, Privatwohnungen, öffentlichen Einrichtungen der jüdischen Gemeinden und zuletzt zur örtlichen Synagoge, um diese zu zerstören.

Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938

Adolf Hitler hatte vom Rath sofort nach dem Attentat um drei Klassen zum Botschaftssekretär I. Klasse befördert. Bei der jährlichen Gedenkfeier des Hitler-Ludendorff-Putsches vom 9. November 1923 im Alten Rathaus in München erfuhr er gegen 21:00 Uhr vom Tod des Diplomaten. Unmittelbar danach besprach er sich mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Gegen 22:00 Uhr verließ er die Versammlung und hielt sich in den folgenden Tagen nach außen hin zurück.

Nach dem Gespräch mit Hitler hielt Goebbels vor den versammelten SA-Führern eine antisemitische Hetzrede, in der er „die Juden“ für den Tod vom Raths verantwortlich machte. Er lobte die angeblich „spontanen“ judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich, bei denen auch Synagogen in Brand gesetzt worden seien, und verwies dazu auf die bereits geschehenen Pogrome in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt. Er machte deutlich, dass die Partei nicht als Organisator antijüdischer Aktionen in Erscheinung treten wolle, aber diese dort, wo sie entstünden, auch nicht behindern werde.

Die anwesenden Gauleiter und SA-Führer verstanden dies als indirekte, aber unmissverständliche Aufforderung zum Handeln gegen jüdische Häuser, Läden und Synagogen. Nach Goebbels' Rede telefonierten sie gegen 22:30 Uhr mit ihren örtlichen Dienststellen. Danach versammelten sie sich im Hotel „Rheinischer Hof“, um auch von dort aus weitere Anweisungen für Aktionen durchzugeben. Auch Goebbels selbst ließ nach Abschluss der Gedenkfeier nachts Telegramme von seinem Ministerium aus an untergeordnete Behörden, Gauleiter und Gestapostellen im Reich aussenden. Diese wiederum gaben entsprechende Befehle an die Mannschaften weiter, in denen es etwa hieß (SA-Stelle Nordsee):

Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. [...] Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. [...] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: 'Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.' Dies kann auch erweitert werden auf die Freimaurerei.“

Daraufhin setzten sich Mitglieder der SA in Marsch, um diese Befehle auszuführen. Die Leitung der Zerstörungen oblag den örtlichen Propagandaämtern der NSDAP. - Hitler persönlich wies Reinhard Heydrich gegen 23:55 Uhr an, der SD solle sich heraushalten. Die Staatspolizei solle aber für den „Schutz“ des jüdischen Eigentums vor Plünderern sorgen. Diesen Befehl sandte Heydrich als Blitzfernschreiben gegen 1:20 Uhr an alle Staatspolizei-Leitstellen im Reich. Ergänzend hieß es - wahrscheinlich ebenfalls von Hitler befohlen - darin:

Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zulässt, sind in allen Bezirken so viele Juden - insbesondere wohlhabende - festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.

Die Ereignisse der Folgetage

Die Pogrome setzten sich am 10. November fort. In Österreich begannen sie erst an diesem Tag, verliefen dafür aber umso heftiger. Sie dauerten im ganzen Reich besonders in ländlichen Gebieten bis in den Nachmittag hinein. Die befohlene Trennung von SA-Maßnahmen und SD-„Begleitschutz“ wurde nicht immer eingehalten. Als eins von zahlreich dokumentierten Beispielen sei ein Augenzeugenbericht aus Düsseldorf zitiert:

Ehe die SS die Synagoge in Brand steckte, zwang sie die Männer der jüdischen Gemeinde, sich dort zu versammeln. Entgegen dem jüdischen Brauch mussten sie ihre Hüte abnehmen. Das Gemeindeglied Herr Dreyfus wurde gezwungen, von der Kanzel herab aus dem nationalsozialistischen Hetzblatt 'Der Stürmer' vorzulesen. Die Gemeinde hatte im Chor zu antworten: 'Wir sind ein dreckiges, filziges Volk.' Die SS zwang die Männer, im Gotteshaus Nazilieder zu singen und Turnübungen vorzuführen.

In den frühen Morgenstunden des 10. November verbreitete der Rundfunk in halbstündigen Intervallen die Aufforderung, „von weiteren Demonstrationen und Vergeltungsaktionen sofort abzusehen.“ Dennoch kam es in kleineren Orten bis zum 11., vereinzelt sogar bis zum 12. und 13. November noch zu Ausschreitungen; sei es aus einer Eigendynamik heraus, sei es, weil die Radionachricht nicht empfangen worden war.

Parallel dazu begann im Tagesverlauf des 10. November die befohlene Inhaftierung von über 30.000 männlichen, meist jüngeren Juden. Sie wurden in den Tagen darauf von Gestapo und SS in die drei deutschen Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. Laut Bericht eines Berliner Juden ließen die Wachmannschaften beim „Hofappell“, dem nächtelangen Strammstehen bei Eiseskälte auf dem Lagerplatz, nicht den geringsten Zweifel daran, dass sie die Vernichtung der Gefangenen in Kauf nahmen und anstrebten:

Ihr seid nicht in einem Sanatorium, sondern in einem Krematorium. [...] Die SS hat das Recht, auf Euch zu schießen, wann sie will.

Auswirkungen

für die Betroffenen

Für den 9. bis 10. November 1938 dokumentierte ein interner Parteibericht der NSDAP mindestens 91 Morde. Tatsächlich lag die Zahl der Opfer weit höher und wird heute auf 400 bis 500 Tote geschätzt; darin sind auch etliche Selbstmorde im Zusammenhang mit dem Pogrom mitgezählt. Hinzu kamen Vergewaltigungen jüdischer Frauen und schwere Körperverletzungen.

Nachweislich 26.000, wahrscheinlich aber annähernd 30.000 überwiegend jüngere, männliche und vermögende Juden wurden in wenigen Tagen ab dem 10. November verhaftet. Davon kamen mehr als 11.000 - einschließlich von etwa 4.600 Wiener Juden - ins KZ Dachau, 9.845 ins KZ Buchenwald und rund 6.000 ins KZ Sachsenhausen. Diese Verhaftungswelle kostete weit mehr Menschenleben als die eigentliche Pogromnacht. Mehrere Hundert Deportierte starben in der folgenden Lagerhaft: In Buchenwald fanden 207 Juden, in Dachau 176 den Tod, die Opferzahl von Sachsenhausen ist unbekannt. Bereits bei der Ankunft in den KZs wurden manche Juden erschossen, viele starben bei Fluchtversuchen oder an den Strapazen der Zwangsarbeit in den Lagern. - Die meisten der Inhaftierten kamen erst frei, nachdem sie sich zur „Auswanderung“ bereit erklärt hatten. Die Zahl der Ausreiseanträge von Juden stieg danach sprunghaft an.

Im Rahmen der reichsweiten Pogrome in Deutschland und Österreich wurden nach einem Brief Heydrichs an Göring vom 11. November 1938 191 Synagogen niedergebrannt, zusätzlich 76 vollständig verwüstet. Avraham Barkai wies 1988 darauf hin, dass Historiker diese Zahl weithin unkritisch übernahmen und es in Wahrheit fast alle Synagogen im gesamtdeutschen Reich getroffen habe. Neuere Forschungsarbeiten des Synagogue Memorial haben dies bestätigt und eine Gesamtzahl von 1.406 vollständig zerstörten Synagogen und Betstuben ermittelt. Von Wiens einst 93 Synagogen etwa überstand nur der Stadttempel in der Wiener Innenstadt die Pogrome unbeschadet. Zerstört wurden ferner etwa 7.500 jüdische Geschäfte, Tausende jüdischer Wohnungen, Dutzende Gemeindehäuser und Friedhofskapellen.

Das Reichsjustizministerium wies die Staatsanwälte an, keine Ermittlungen in Sachen der Judenaktion vorzunehmen. Damit war das Justizwesen außer Kraft gesetzt; den Betroffenen war jeder Rechtsweg versperrt.

für das NS-Regime

Das Echo im Ausland auf die Ereignisse war verheerend: So zogen die USA ihren Botschafter „zur Berichterstattung“ ab. In Großbritannien wurden die Novemberpogrome als Scheitern der Appeasement-Politik Neville Chamberlains gewertet und stärkten die Bereitschaft zum Krieg gegen Hitler.

Schon am Vormittag des 10. November kam es in der Berliner NSDAP-Spitze zu einer Auseinandersetzung: Hermann Göring warf Goebbels vor, seine Aktion habe aus ökonomischer Ignoranz die „volkswirtschaftlich unsinnige Zerstörung von Sachwerten“ herbeigeführt. Er wollte den Juden mehr von ihrem Eigentum rauben und ihre Einrichtungen ausplündern, als es dann erfolgte. Daraufhin beschlossen Hitler, Göring und Goebbels, den Juden des Reiches eine „Buße“ für die entstandenen Sachschäden aufzuerlegen und damit ihre Enteignung fortzusetzen.

Görings Kritik an der SA war auch ein Grund dafür, dass die „Kristallnacht“ ein einmaliges Ereignis blieb und etwa am Jahrestag 1939 nicht wiederholt wurde. Stattdessen wählte die NS-Führung einen anderen Weg: Die Diskriminierung, Drangsalierung und Deportation der deutschen Juden mit staatlichen Gesetzen und Verordnungen blieb öffentlich sichtbar, aber ihre Misshandlung und Ermordung fand nur noch abgeschirmt in Lagern, die sich großenteils außerhalb des deutschen Reichsgebiets befanden, statt.

Die Gewaltexzesse der Sturmabteilungen gingen selbst einigen „Parteigenossen“ zu weit. Zahlreiche Plünderungen zum eigenen Vorteil ihrer Mitglieder stellten die NSDAP vor Probleme. Ein Parteigericht sollte Disziplinlosigkeiten untersuchen und diejenigen bestrafen, die sich entgegen den Befehlen an Plünderungen, Totschlag und Mord beteiligt hatten. Es verhängte gegen einige Totschläger Parteiausschlüsse oder befristete Funktionsverbote; aber selbst diese geringfügigen Strafen wurden auf Vorschlag des Obersten Parteigerichts der NSDAP 1939 aufgehoben. Nur drei Täter wurden der ordentlichen Justiz überstellt: Sie hatten in der Pogromnacht Jüdinnen vergewaltigt, sollten aber nicht etwa deswegen, sondern wegen „Rassenschande“ angeklagt werden.

Das Parteigericht entlastete die ausführenden Täter weitgehend, indem es bestätigte, dass die Telefonanrufe der versammelten SA-Führer am Abend des 9. November als Befehle zu verstehen waren. Wegen der faschistisch-totalitären Gleichsetzung von Volk, Staat und Partei wurden Morde an Staatsbürgern als unvermeidbare Begleiterscheinung des „Volkszorns“ gewertet. Staatsanwälte und Justizministerium unterließen jede unabhängige Untersuchung und Strafverfolgung auf Weisung derselben Parteiführer, die die Pogromnacht angeordnet hatten. Im Ergebnis blieben deshalb fast alle SA- und SS-Männer, die an den Ausschreitungen beteiligt waren, im Dritten Reich unbestraft.

Die Pogrome wurden zum einen wegen der befehlswidrigen Plünderungen, zum anderen wegen der zögerlichen Beteiligung der Bevölkerung innerparteilich als „Fehlschlag“ bewertet. Deshalb distanzierten sich viele beteiligte hohe Funktionäre bereits am 10. November von ihrer Planung und Durchführung und schoben dem Goebbels die Rolle des alleinigen „Sündenbocks“ zu. Laut Henry Picker schimpfte auch Hitler an jenem Morgen:

Goebbels und Himmler hätten ihm seine vorsichtige Außenpolitik in puncto Judentum kaputtgemacht; sie seien vorgegangen wie Verrückte aus einem Kindergarten, man könne auch sagen, wie Handgranatenwerfer, ohne Sinn und Verstand!

Diese Sichtweise einer angeblich planlosen Terroraktion setzten historische Darstellungen nach 1945 teilweise fort. Sie wurde auch von dem Holocaustleugner David Irving vertreten.

Goebbels selbst triumphierte in seinem Tagebucheintrag vom 13. November 1938 jedoch:

Ich arbeite großartig mit Göring zusammen. Er geht auch scharf ran. Die radikale Meinung hat gesiegt.

Diese Aussage widerlegt die These von seiner Alleinverantwortung und zeigt, dass er und Göring sich gleichermaßen als Scharfmacher betätigten. Als wahrscheinlich gilt darum auch, dass Hitler selbst am Abend des 9. November im Zwiegespräch mit Goebbels gegen 22:00 den Anstoß zu der Aktion gab und sich dann bewusst heraushielt.

Wieweit Hitler auch an der Planung beteiligt war, ist bis heute unklar. Der Gedanke einer kollektiven Strafsteuer für Juden taucht erstmals in einer Denkschrift vom August 1936 auf, die er selbst entworfen hatte. Da die Führungskräfte der SS am 9. November ebenfalls in München versammelt waren und Heinrich Himmler den Befehl zum „Schutz“ der SA-Aktionen herausgab, nimmt man allgemein an, dass er, Heydrich, Göring und weitere hohe NSDAP-Führer wohl ab dem 7. November von den zum 9. November geplanten Aktionen wussten und daraufhin überein kamen, diese für die ohnehin geplante Arisierung zu nutzen.

Die Haltung der nichtjüdischen Deutschen

Die nichtjüdischen Deutschen reagierten unterschiedlich auf die von SA und SS eingeleiteten und beaufsichtigten Pogrome. Einige beteiligten sich in den Tagen vor dem 9. November an einigen Orten spontan an Zerstörungen und Plünderungen. Passanten schauten zu und stimmten in Hetzgesänge der SA ein. Diese Reaktion fand aber nicht im von der NSDAP erwünschten Ausmaß statt. Die meisten Deutschen nahmen die über die staatlich gelenkten Medien verbreitete Propagandaversion von der „spontanen Volkserhebung gegen die Juden“ nicht Ernst.

Dies wird in der Forschung verschieden bewertet. Manche Historiker gehen deshalb davon aus, dass die Bevölkerung den öffentlich gezeigten Terror überwiegend ablehnte. Sie bestärkte zumindest diejenigen, die zuvor schon Gegner der NSDAP waren, in ihrer Oppositionshaltung. Für den Kreisauer Kreis unter Graf Helmuth James von Moltke war die Erfahrung der Pogrome ein entscheidender Anstoß für die Attentatspläne auf Hitler.

Dennoch - und hier lag das für die weiteren Staatsmaßnahmen entscheidende Ergebnis - gab es kaum offene Proteste oder gar politischen Widerstand gegen die Pogrome. Diese blieben - auch aus Furcht vor den die Straßen beherrschenden SA-Truppen - seltene Ausnahmen. Das verbreitete Unbehagen und Entsetzen über die Brutalität des Regimes setzte sich nicht in Empörung und eine entschlossene Ablehnung seiner Politik um: Die Angst der Bevölkerung vor abweichendem Verhalten in einem totalitären Polizeistaat und die latente Zustimmung zu der rassistischen Rechtferigung dieser Staatsverbrechen waren offenbar weitaus stärker.

Ein besonders beschämendes Kapitel ist daher umso mehr das weitgehende Schweigen der Kirchen zu den Ereignissen. Sie waren im damaligen Deutschen Reich die einzigen noch nicht völlig gleichgeschalteten Großorganisationen. Doch es gab kein einziges eindeutiges Wort von den Kirchenleitungen, weder auf katholischer noch auf evangelischer Seite, dazu, dass hier der Staat Menschen nur aufgrund ihrer angeblichen „Rasse“ an Leib und Leben bedrohte, ihre Gotteshäuser zerstörte, sie in „Geiselhaft“ nahm und rigoros aus der Gesellschaft ausgrenzte.

Hauptgründe für dieses Versagen waren, dass die meisten Christen den autoritären Führerstaat und seine Innenpolitik grundsätzlich bejaht hatten. Ihr traditioneller Antijudaismus schien sich großenteils mit dem ideologischen Antisemitismus zu decken, den die NSDAP propagierte. In vorauseilendem Gehorsam hatten hochrangige Kirchenführer wie Otto Dibelius die „nationale Revolution" 1933 begeistert begrüßt und alles getan, was den Verdacht einer möglichen kirchlichen Systemopposition bei der Regierung zerstreuen konnte. Schon den Geschäftsboykott des 1. April 1933 hatten sie als „notwendige Selbstverteidigung“ gegen den angeblich übergroßen Einfluss des Judentums verteidigt. Sie mahnten damals eine „humane“ Ausgrenzung der Juden an, schwiegen dann aber zu sämtlichen Gewalttaten und judenfeindlichen Gesetzen der Folgezeit.

1938 saß Hitlers Regime innenpolitisch fest im Sattel; hinzu kamen seine außenpolitischen Erfolge. Seit dem „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes sowie dem Münchner Abkommen war er auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Macht. Nur Einzelne wagten nun noch, auf ihr Gewissen zu hören und öffentlich ihre Stimme gegen die systematische Verletzung der Menschenrechte zu erheben. In Berlin betete der Domprobst Bernhard Lichtenberg am Abend des 9. November öffentlich für Juden und die nichtarischen Christen. Dafür wurde er der „volksfeindlichen Hetze“ angeklagt. Der württembergische Dorfpfarrer Julius von Jan aus Oberlenningen predigte am folgenden Buß- und Bettag (16. November 1938) über den vorgegebenen Bibeltext (Jeremia 22):

Wo ist der Mann, der im Namen Gottes und der Gerechtigkeit ruft, wie Jeremia gerufen hat: Haltet Recht und Gerechtigkeit, errettet den Beraubten von des Frevlers Hand! Schindet nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen, und tut niemand Gewalt, und vergießt nicht unschuldig Blut! - Gott hat uns solche Männer gesandt! Sie sind heute entweder im Konzentrationslager oder mundtot gemacht. Die aber, die in der Fürsten Häuser kommen und dort noch heilige Handlungen vollziehen können, sind Lügenprediger wie die nationalen Schwärmer zu Jeremias Zeiten und können nur 'Heil' und 'Sieg' rufen, aber nicht des Herrn Wort verkündigen. [...] Wir haben die Quittung bekommen auf den großen Abfall von Gott und Christus, auf das organisierte Antichristentum. Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört. Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben [...], wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden - das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt. Und wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss. [...] Gott lässt seiner nicht spotten. Was der Mensch säet, wird er auch ernten!

Günter Brakelmann, S. ...

Wenige Tage nach dieser Predigt wurde Pfarrer von Jan von der SA als „Judenknecht“ festgenommen und vor seinem Haus von einer wartenden Menge fast totgeprügelt. Bürger, die ihm zu Hilfe eilten, wurden ebenfalls geschlagen und getreten. Der für von Jan zuständige Bischof Theophil Wurm leistete ihm in den folgenden Prozessen wegen „staatsfeindlicher Hetze“ Rechtsbeistand. Er gab aber auch ein Gutachten an die Pfarrer heraus, das die Zweideutigkeit seiner Rolle zeigt:

Es ist selbstverständlich, dass die Kirche, auch auf die Gefahr solcher gehässiger Missdeutung, die ihr aufgetragene Predigt im Sinne von Micha 6,8 [...] nicht unterlassen darf. Es ist aber ebenso selbstverständlich, dass der Diener der Kirche bei dieser Predigt alles zu vermeiden hat, was einer unzulässigen Kritik an konkreten politischen Vorgängen gleichkommt...

Wurm schrieb auch an den Reichsjustizminister und erklärte:

Ich bestreite mit keinem Wort das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen. [...] Weil wir unserem Volk ersparen möchten, dass es später dieselben Leiden und Demütigungen über sich ergehen lassen muss, denen jetzt andere preisgegeben sind, erheben wir [...] warnend unsere Hände, auch wenn wir wissen, dass man uns deshalb Judenknechte schilt und mit ähnlichem Vorgehen bedroht, wie es gegen die Juden angewandt worden ist.

Wurm hat nach Kriegsende Reue darüber bekundet, dass er dieses Vorgehen legitimierte, statt es wie von Jan Unrecht zu nennen. Er trat nicht für die Juden selber ein, sondern warnte nur vor den Folgen für die Deutschen und die Christen.

Auch Helmut Gollwitzer ergriff als Prediger in Berlin-Dahlem klar Partei für die Wehrlosen und erreichte, dass seine Gemeinde die Familienangehörigen von inhaftierten Juden materiell unterstützte. Er vertrat dabei den bereits im KZ sitzenden Martin Niemöller. Einige kamen für ihre Solidarität selbst in das KZ: so Pfarrer Albert Schmidt, der für seinen Kollegen jüdischer Herkunft Hans Ehrenberg öffentlich gebetet hatte. Dieser war am 10. November nach Sachsenhausen deportiert worden, die Wohnung seiner Familie wurde zerstört.

In Freiburg im Breisgau bildete sich aufgrund der Pogrome um Gerhard Ritter, Adolf Lampe, Constantin von Dietze, Walter Eucken, Franz Böhm u.a. ein „Theologischer Arbeitskreis“, der die im christlichen Glaubensbekenntnis gesetzten Grenzen staatlicher Gewaltausübung klar benannte:

Wenn bedingungsloser Gehorsam gegen Menschengebot gefordert wird, ohne Vorbehalt des göttlichen Gebots, und schrankenlose, religionsartige Verehrung Menschenwesen entgegengebracht wird, so heißt das Gottes Ehre und Herrschaftsanspruch, wie ihn das erste Gebot verkündet, gröblich verletzen.

Daraus leitete dieser Freiburger Kreis ein Widerstandsrecht ab. Er arbeitete seit 1943 eng mit politischen Widerständlern zusammen und konzipierte Strukturen eines demokratischen Nachkriegsdeutschlands.

Weitere Schritte zum Holocaust

Die Novemberpogrome 1938 waren nicht der Beginn der Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie folgten dem Aufruf zum Judenboykott am 1. April 1933, den Nürnberger Rassengesetzen 1935 sowie zahlreichen Berufsverboten, Ausbildungsbeschränkungen und sonstigen Gesetzesverschärfungen für Juden. Die Synagogenzerstörung bildete den Auftakt der systematischen Arisierung und machte die völlige Entrechtung des Judentums national wie international unübersehbar. Die Nationalsozialisten wollten damit auch dessen jahrhundertelange Kultur und Religionsausübung in Deutschland und Österreich zerstören und jede Erinnerung daran auslöschen. Diese Aktion stellt im Rückblick das entscheidende Bindeglied zwischen der anfangs auf Verdrängung und Vertreibung, dann Enteignung und Vernichtung ausgerichteten Judenpolitik des NS-Regimes dar.

Auftakt zur Arisierung

Auf die eher „improvisierten“ Judenpogrome vor dem 9. November 1938 folgten weitere, koordinierte Aktionen der Regierung mit dem Ziel, Deutschland „judenfrei“ zu machen. Bereits am 26. August 1938 war dazu in Wien die „Jüdische Zentralstelle für Auswanderung“ unter Adolf Eichmann eingerichtet worden.

Am 12. November 1938 fand im Reichsluftfahrtministerium unter Vorsitz von Göring eine Konferenz mit über 100 Teilnehmern statt, bei der das weitere staatliche Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung beraten und beschlossen wurde. Die folgenden Maßnahmen sollten konsequent alle Juden aus dem deutschen Wirtschafts- und Kulturleben entfernen, sie zur Auswanderung zwingen und aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verbannen.

Göring ordnete noch am selben Tag als „harte Sühne“ für die Juden an:

  • die Zahlung von einer Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich,
  • das Verbot von Einzelläden, Gewerbe- und Handwerksbetrieben, Versandgeschäften, Bestellkontoren,
  • das Verbot von Märkten, Messen, Ausstellungen, Werbung, Bestellannahmen,
  • das Verbot, Mitglied einer Berufsgenossenschaft zu sein.

Die Staatspolizei ordnete zudem am selben Tag an, dass

  • Juden die vom 8. bis 10. November entstandenen Schäden im Straßenbild auf eigene Kosten sofort zu beseitigen hätten;
  • ihre Versicherungsansprüche beschlagnahmte der Staat.

Die Sühneleistung, auch „Judenbuße“ genannt, sollte innerhalb eines Jahres in vier Quartalsraten aufgebracht werden. Die erste Rate wurde am 15. Dezember 1938, die letzte am 15. August 1939 fällig. Jeder jüdische Bürger, der mehr als 5.000 Reichsmark Vermögen besaß, musste davon 20 Prozent an den Staat abgeben. Eine zweite Durchführungsverordnung legte eine fünfte Zahlung zum 15. Dezember 1939 fest, so dass insgesamt 25% des Vermögens abgegeben werden mussten. Der Hintergrund dieser Maßnahme war ein Haushaltsdefizit des Staates von zwei Milliarden Reichsmark. Schon Ende 1937 stieß die Schuldenaufnahme an ihre Grenzen. Die Mefo-Wechsel zur Aufrüstung wären 1939 fällig gewesen. Walther Bayrhoffer vom Reichsfinanzministerium befürchtete Anfang 1938 „die Möglichkeit, dass das Reich zahlungsunfähig“ würde. Das hätte die Kriegsvorbereitungen gefährdet.

Wohl um dies abzuwenden, plante das NS-Regime im Frühjahr 1938 einen Zwangsumtausch aller Wertpapiere und Aktien in jüdischem Besitz in deutsche Staatsanleihen. Diese konnte man dann im Ausland verkaufen, um Devisen zu erwirtschaften. Am 26. April 1938 wurde angeordnet, dass alle Juden bis zum 31. Juli 1938 ihr gesamtes Vermögen - Immobilien, Aktien, Ersparnisse, Gold, Schmuck, Juwelen - detailliert beim Finanzamt offenlegen mussten, sofern der Wert 5000 Reichsmark überschritt. Dies betraf zwischen 10 und 20 Prozent der jüdischen Deutschen. Der liquide Bestandteil, der nicht an Hausbesitz und Betriebsvermögen gebunden war, wurde auf 4,8 Milliarden Reichsmark veranschlagt.

Am 12. November 1938 wurde den Juden dann verboten, Staatsanleihen zu verkaufen. Sie mussten die Sühneleistung also durch Verkauf von Immobilien, Schmuck, Kunstgegenständen oder Sparguthaben aufbringen. Damit sollte das Staatsdefizit kurzfristig zur Hälfte gedeckt werden. Die Summe von insgesamt 1.126.612.495,00 Reichsmark erhöhte das damalige Steueraufkommen des Reiches von 16 auf über 17 Milliarden um gut 6 Prozent.

Goebbels verbot den Juden zudem die Teilnahme am Kulturleben, den Besuch von Theatern, Kinos, Tanzvarietes, Kabarett, Zirkus usw. Am 14. November ordnete Reichserziehungsminister Bernhard Rust die sofortige Entlassung jüdischer Schüler aus deutschen Schulen an. Von den Hochschulen waren sie zuvor schon verbannt worden. Am 28. November wurde den Regierungsbezirken erlaubt, Juden den Zutritt bestimmter Ortsbereiche zu bestimmten Zeiten zu verbieten. Sie konnten nun auch optisch für die restliche Bevölkerung „verschwinden“, noch bevor sie deportiert wurden.

Am 3. Dezember entzog eine Anordnung Himmlers allen Juden die Führerscheine und KFZ-Papiere. Zugleich mussten sie alle Gewerbebetriebe, Grundeigentum, Vermögen, sofern noch in jüdischem Besitz, verkaufen und ihre Wertpapiere bei einer Devisenbank hinterlegen. Sie durften keinen Schmuck, Juwelen und Kunstgegenstände mehr veräußern. Damit wurde es auch wohlhabenden Juden nahezu unmöglich gemacht, noch auszuwandern. In den Folgejahren wurden diese Maßnahmen präzisiert und radikalisiert, um Juden jegliche Existenzgrundlage in Deutschland zu nehmen.

Am 24. Januar 1939 wurde die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ unter Leitung von Reinhard Heydrich gegründet.

Beginn des Holocaust

Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges steigerten sich die Repressionen zunehmend: Abgabe des Führerscheins und der Autos; Zwangsumsiedlung in „Judenhäuser“; eingeschränkte Einkaufszeiten; zeitliche Ausgehbeschränkungen; Einziehung von Fahrrädern, Elektrogeräten und Wollkleidung; Verbot der Benutzung von Straßenbahnen und Omnibussen; Verbot des Betretens von Krankenhäusern; Verbot von Telefonen und Fernsprechern; Verbot des Kaufes von Zeitungen, Büchern, Blumen und bestimmten Lebensmitteln; niedrige Lebensmittelzuteilungen und weitere.

Als Brandmarkung in der Öffentlichkeit diente ab dem 1. September 1941 der „Judenstern“. Wiederum am 9. November jenes Jahres erhielten viele deutsche Juden den behördlichen Befehl, ihre Wohnungen zu räumen und sich zur Deportation an den Versammlungsplätzen und Bahnhöfen einzufinden. 1942 wurde den jüdischen Kindern auch der Besuch der verbliebenen eigenen Schulen verboten, auch der Privatunterricht wurde untersagt. Später wurde den Juden auch der Mieterschutz versagt und sie wurden unter Polizeirecht gestellt.

Die Zwangsmaßnahmen mündeten über die systematische Ghettoisierung und Deportierung der europäischen Juden schließlich in den Holocaust.

Aufarbeitung nach 1945

Strafrechtliche Ahndung

Kurz nach Kriegsende hoben die Besatzungsmächte die Verjährungsfristen auf für Delikte wie Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Diebstahl, Brandstiftung, Sachbeschädigung und Nötigung. Zugleich wurden die deutschen Strafverfolgungsbehörden angewiesen, gegen Täter der Pogrome zu ermitteln und Anklage zu erheben.

Die Delikte der Novemberpogrome wurden tatsächlich vergleichsweise umfassend verfolgt. Die strafrechtliche Ahndung zog sich jedoch in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik noch über weitere zehn Jahre bis 1955 hin. Dabei lässt sich an den Gerichtsverfahren eine Entwicklung zu immer milderen Urteilen und wachsenden Schwierigkeiten bei der Tataufklärung ablesen.

In einer ersten Phase bis zum Jahre 1947 war die Gerichtsbarkeit personell unterbesetzt und konnte nur eine Minderheit der Täter aburteilen, doch waren fast alle neu eingesetzten oder im Amt belassenen Richter unbelastet. Die Gerichte verwarfen die Ausrede des „Befehls-Notstandes“ unter Hinweis auf das Deutsche Beamtengesetz von 1937, das die Verweigerung eines verbrecherischen Befehls erlaubt hätte. Meist wurde der Begriff der Rädelsführerschaft vom Gericht weit ausgelegt, so dass dem SA-Führer oder NS-Amtswalter die bloße Anwesenheit am Tatort straferschwerend angerechnet wurde. Oft wurde in solchen Fällen auf schweren Landfriedensbruch erkannt, der Zuchthausstrafen nach sich zog.

Während einer zweiten Phase zwischen 1948 und 1949 machte sich in der Bevölkerung ein Stimmungswandel bemerkbar. Die Entnazifizierung wurde als ungerecht empfunden und war geradezu verhasst; die Aufgabe der Vergangenheitsbewältigung wurde als weniger wichtig eingestuft und eine „Schlusstrich-Mentalität“ war unverkennbar. Diese veränderte Stimmungslage schlug sich in den Aussagen von Zeugen nieder, denen es öfter an Bereitwilligkeit zu objektiver Mitwirkung fehlte. Während in der ersten Phase die Täter von der Anklage überrascht wurden, in Untersuchungshaft keine Möglichkeit zu Absprachen hatten und geständig waren, konnten Täter sich nun vorher absprechen und Zeugen beeinflussen. Die „Verurteilungsquote“ sank deutlich. Meist wurden SA-Führer jetzt nur wegen einfachen Landfriedensbruchs zu Gefängnisstrafen verurteilt. Die durchschnittliche Strafzumessung für schweren Landfriedensbruch sank in dieser Phase von 24 Monaten auf 16 Monate. Auch die Strafen für Körperverletzung oder Sachbeschädigung fielen nun deutlich milder aus.

Die dritte Phase der strafrechtlichen Ahnung der Novemberpogrome begann mit dem „Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit“, das die Bundesregierung am 31. Dezember 1949 gegen die Bedenken des Hochkommissars John Jay McCloy erließ und alle Strafen unterhalb von sechs Monaten amnestierte. Dieses politische Signal wurde von der Richterschaft, die inzwischen wieder belastete ehemalige Nationalsozialisten in ihren Reihen hatte, nicht überhört. Mehrere Verfahren wurden eingestellt, zu einer Anklageerhebung kam es deutlich seltener und lediglich die Fälle von schwerem Landfriedensbruch wurden noch regelmäßig vor Gericht abgeurteilt.

Debatte um die angemessene Bezeichnung

Die Ereignisse wurden bereits 1938 von Tätern, Augenzeugen und Betroffenen sehr verschieden bezeichnet. Nach dem Krieg, vor allem aber seit der Wiedervereinigung Deutschlands hat eine Debatte um die richtige Bezeichnung eingesetzt.

Damalige Bezeichnungen

Die Dienststellen des nationalsozialistischen Regimes und die vom Reichspropagandaministerium gelenkten Medien benutzten damals propagandistisch gefärbte Ausdrücke wie „Judenaktion“, „Novemberaktion“, „Vergeltungsaktion“, „Sonderaktion“ und „(Protest-)Kundgebungen“.

Viele Augenzeugen der Pogrome erinnerten sich später an Ausdrücke wie „Glasnacht“, „Gläserner Donnerstag“, „Nacht der langen Messer“, die damals umliefen. In den Konzentrationslagern, in die die ab dem 10. November verhafteten Juden verschleppt wurden, sprach man von der „Rath-Aktion“ (wegen des Anschlags auf Ernst Eduard vom Rath) oder auch von der „Mordwoche“.

Zeitnah schriftlich belegt sind die Bezeichnungen „Grünspan-Affäre“ (Victor Klemperer) und „Bartholomäusnacht“ (Walter Tausk). Die Zeitungen der Exil-SPD und der Untergrund-KPD nannten die Ereignisse unmissverständlich „Judenpogrome“.

Das Wort „Reichskristallnacht“ war keine offizielle Bezeichnung staatlicher Stellen für die von ihnen gelenkte Gewaltaktion. Diese Wortschöpfung wurde wahrscheinlich vom Berliner Volksmund geprägt. Sie wandte sich gegen die damaligen Machthaber, indem sie den im „Dritten Reich" inflationären Gebrauch der Anfangssilbe „Reichs-“ mit satirischem Spott übersteigerte: „Reich“ meinte die organisierten Schlägertrupps des NS-Regimes, „Kristall“ die Trümmer, darunter zerschlagene Fensterscheiben, Brände und leibliche Opfer, „Nacht“ den Beginn eines letztlich unbegrenzten Vorgehens.

Dieser regimekritische Gebrauch des Spottworts lässt sich wegen der Zeitumstände nicht in schriftlichen Dokumenten nachweisen: Denn damals konnte schon ein politischer Witz Menschen in Lebensgefahr und Gestapo-Haft bringen (z.B. Werner Finck, Erich Ohser). Doch Zeitzeugen bestätigen diese Deutung: So sagte Adolf Arndt (SPD), der im November 1938 in Berlin als Rechtsanwalt tätig war, in der Verjährungsdebatte des Deutschen Bundestages vom 10. März 1965 (Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenografische Berichte. 4. Wahlperiode, Band 57. 170. Sitzung Seite 8553):

...den 8./9. November 1938, den man doch nicht, Herr Bundesjustizminister, als „sogenannte Reichskristallnacht“ bezeichnen sollte. Das ist ein blutiger Berliner Witz gewesen, weil man sich damals nicht anders zu helfen wusste.

Der Begriff war also ein Notbehelf, mit dem ohnmächtige Zeitzeugen damals wenigstens heimlich gegenüber Vertrauten ihre innere Empörung in grimmiger, sarkastischer Form äußern konnten.

Nachdem diese bitter-ironische Wendung in der NSDAP bekannt wurde, deuteten Mitglieder sie im Sinne der Partei zynisch um. Der Politologe Harald Schmid (siehe Weblink) zitiert aus einer Rede, die ein Provinzfunktionär im Juni 1939 vor einer NSDAP-Versammlung in Lüneburg hielt:

Die Sache geht als Reichskristallnacht in die Geschichte ein (Beifall, Gelächter).

Diese Vereinnahmung stellte die ironisierende Distanz des Begriffs, die Ausdruck der Ohnmacht gegenüber dem Staatsterror und seiner ideologischen Bemäntelung war, somit schon unmittelbar nach seinem Entstehen in Frage. Als historisch dauerhafte Bezeichnung für die Ereignisse vom Anfang November 1938 war der Begriff daher von vornherein untauglich.

Bezeichnungen nach 1945

In Texten der ersten Nachkriegsjahre finden sich Ausdrücke wie „Tag der (deutschen) Scherbe“, „Reichsscherbenwoche“, „(Reichs-)Kristallwoche“, „Judennacht“, „Pogromnacht“, „Novemberpogrom“, „Synagogensturm“, „Synagogenbrand“, „Reichstrümmertag“, „Reichskristalltag“, „Verfolgungswoche“, „Novembernacht“, „Synagogenstürmernacht“.

In der DDR-Sprachregelung hießen die Ereignisse „faschistische Pogromnacht“. In der Bundesrepublik setzten sich die Bezeichnungen „Kristallnacht“ und „Reichskristallnacht“ durch und wurden bis 1989 sowohl umgangssprachlich als auch lexikalisch verwendet, auch in anderen Ländern und unter Historikern. Da der Ausdruck zeitbedingt widersprüchliche Mitbedeutungen anklingen lässt, zu deren Deutung die Kenntnis der Begriffsentstehung unentbehrlich ist, stieß er bald aber auch auf Kritik und Ablehnung. So befürchtete die „Notgemeinschaft der durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“ 1948 am zehnten Jahrestag der Novemberpogrome:

„Ehe es soweit ist, dass sich dieses falsche Wort im allgemeinen Sprachgebrauch so eingebürgert hat, dass es nicht mehr wegzubringen ist, möchten wir darauf hinweisen, welche Entstellung mit der Benutzung dieses Wortes verbunden ist. Das Wort ‚Kristallnacht’ ist nicht von den früher Verfolgten erdacht und in den Sprachgebrauch gebracht worden.“

Dass diese Bezeichnung dennoch im öffentlichen und fachlichen Sprachgebrauch üblich wurde, lag gerade auch daran, dass sie die Widersprüche anklingen lässt und griffig in drei Komponenten zusammenfasst, die unausgesprochen mitgedacht werden müssen, um den realen Charakter der Ereignisse zu begreifen.

Seit der Deutschen Einheit lebte die Diskussion um die richtige Bezeichnung wieder auf. Nach über 50 Jahren waren Entstehung und regimekritischer Sinn des Ausdrucks „Reichskristallnacht" weithin vergessen. Damit wuchs die öffentliche Kritik an seiner Verwednung: Diese wirkte nun nur noch zynisch gegenüber den menschlichen Opfern und Überlebenden, als seien damals nur einige Fensterscheiben zu Bruch gegangen. So verlangte z.B. Avraham Barkai schon 1988:

’Kristallnacht’! Das funkelt, blitzt und glitzert wie bei einem Fest! Es wäre längst Zeit, daß diese böswillig-verharmlosende Bezeichnung zumindest aus der Geschichtsschreibung verschwände.

in: Walter H. Pehle, Der Judenpogrom 1938 S. 113

Bezeichnungen seit 1990

Politik und Medien verwenden seit einigen Jahren das Wort „Reichspogromnacht“. Doch auch dieser Ausdruck blieb problematisch: Nur den mittleren Wortteil auszuwechseln genügte offenbar nicht, um die satirische in eine sachliche Bezeichnung zu verwandeln. Kritiker wiesen darauf hin, dass die Umbenennung die notwendige Vergangenheitsbewältigung nicht leisten, sondern fälschlich eher als erledigt vortäuschen könne. Zudem fand die Umbenennung nur im deutschen Sprachraum statt; dies kann den Austausch mit anderssprachiger Forschung und ausländischer Literatur erschweren.

Die Bezeichnung als „Pogrom“ im mittleren Wortteil stellt die Aktionen mit örtlich begrenzten Ausschreitungen gegen Juden des Mittelalters und der Neuzeit in eine Reihe und verdeckt so, dass dieser Pogrom von einer Staatsregierung für ein ganzes Staatsgebiet organisiert wurde und den Auftakt des Holocaust bildete, indem er die Bereitschaft der Bevölkerung zum Zuschauen, Wegschauen oder Mitmachen testete. Dies kann dazu beitragen, die Besonderheit des Holocaust zu verharmlosen oder gar zu leugnen.

Auch der dritte Wortteil fördert das historische Fehlurteil, es habe sich um die Ereignisse nur einer Nacht gehandelt. Die neue Bezeichnung vermischt unverträgliche Bedeutungsebenen und verdeckt erst recht, dass die ältere Bezeichnung ursprünglich als Spottwort gegen die Nazi-Propaganda gedacht war.

Neuere historische Untersuchungen verwenden inzwischen öfter den Begriff „Novemberpogrome" (auch im Singular). Damit wird berücksichtigt, dass die Ausschreitungen gegen Juden und ihre Einrichtungen sich im Deutschen Reich inklusive Österreichs im November 1938 über eine Woche hinzogen, die KZ-Inhaftieurngen über Wochen und Monate und beides Teil einer langfristig angelegten Verfolgungs- und Ausgrenzungspolitik der Nationalsozialisten war. Der Begriff vermeidet emotionale Assoziationen und fördert einen sachlichen Rückblick auf das Geschehen.

Hinweis auf das ehemalige Wohnhaus von vier Holocaust-Opfern mit vier „Stolpersteinen“ in Köln

Gleichwohl wird das Wort „Reichskristallnacht“ weiterhin gebraucht. Der Politologe Harald Schmid wies in einem Aufsatz (siehe Weblinks) auf die Dialektik des Begriffs hin: Er sei einerseits als internationales Historiker-Fachwort wissenschaftlich unaufgebbar, andererseits verbiete sich eine distanzlose Übernahme wegen der komplexen Konnotationen. Er folgerte daraus:

Doch das Wort bleibt auch ein nützlicher sprachlicher Stolperstein. Denn die scheinbar bloß etymologische und semantische Kontroverse führt geradewegs zum Gespräch über die ganze NS-Vergangenheit, den kritischen Umgang mit ihr und das Bemühen um moralische Genauigkeit – auch in der heutigen Benennung politischer Verbrechen.

Der Tag der Synagogenzerstörung als nationaler Gedenktag

Im Zusammenhang der Debatten um den Tag der Deutschen Einheit war zeitweise auch der 9. November als Nationalfeiertag im Gespräch. Wegen des Mauerfalls von 1989 sahen viele Ost- und Westdeutsche dieses Datum als entscheidenden Durchbruch zur Wiedervereinigung. Es hätte aber zugleich unvermeidbar die Novemberpogrome des Jahres 1938 und einige ihrer Ursachen, die problematisch verlaufene Novemberrevolution des Jahres 1918 sowie den Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923, ins gesamtdeutsche Gedächtnis gerückt.

Darin sahen die meisten Parlamentarier des Bundestages dann doch ein Hindernis für eine positive gesamtdeutsche Identität, so dass das Datum für den nationalen Gedenktag verworfen wurde. Nur eine Minderheit befürwortete es, um die Erinnerung an den negativen Wendepunkt zum Holocaust als tiefste Schattenseite der deutschen Geschichte bewusst mit der Freude über die Wiedervereinigung zu verbinden und nicht auszublenden.

Nach der Bestimmung des 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit erklärte Bundespräsident Roman Herzog 1996 den 27. Januar, an dem sowjetische Truppen 1945 das Vernichtungslager KZ Auschwitz-Birkenau befreiten, zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Beide Feiertage erfüllen in der Bevölkerung bisher nicht die ihnen zugedachte Rolle als Anstoß zum nationalen Gedenken, der am 9. November eventuell eher gegeben gewesen wäre.

Kommunale Gedenkveranstaltungen

Besonders in jenen deutschen Städten, in denen bis 1938 eine intakte Synagoge stand, wird jährlich am 9. November der Pogrome gedacht, die sich damals vor den Augen der Bevölkerung ereigneten. Seit einigen Jahren wirken Kommunalpolitiker, Vertreter heutiger jüdischer Gemeinden und in manchen Städten Bürgerinitiativen wie die Gruppe Gegen Vergessen - Für Demokratie dabei verstärkt zusammen.

Um an die konkreten Einzelschicksale zu erinnern, werden bei kommunalen Gedenkveranstaltungen oft sämtliche Namen der jeweils vor Ort ermordeten, deportierten, vertriebenen und geschädigten jüdischen Personen verlesen und auch die später im Holocaust Umgekommenen genannt.

In Österreich stellt das Wiener Volkstheater seit 1993 jährlich eine Bühne für Berichte von Zeitzeugen der Novemberpogrome zur Verfügung (siehe Weblinks).

Literatur

zu Hintergründen und Verlauf

  • Hans-Jürgen Döscher: „Reichskristallnacht“. Die Novemberpogrome 1938. Econ Tb. 2000, ISBN 3612267531
  • Thorsten Eitz: Reichskristallnacht. In: Georg Stötzel/Thorsten Eitz: Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hildesheim/Zürich/New York 2003 ISBN 3487117592
  • Max Eschelbacher: Der zehnte November 1938. Klartext-Verlag, Essen 2001, ISBN 388474724X
  • Emanuel Feinermann, Rita Thalmann: Die Kristallnacht. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3434462112
  • Wolf-Arno Kropat: Reichskristallnacht. 1997, ISBN 3921434181
  • Hartmut Metzger: Kristallnacht. Stuttgart 1978*Dieter Obst: „Reichskristallnacht“. Ursachen und Verlauf des antisemistischen Pogroms vom November 1938. Bern 1991, ISBN 3631434812

zur weiteren Enteignung und Holocaustplanung

  • Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich. Droste Verlag, Düsseldorf 1972 ISBN 3-7700-0317-9 (S. 160ff: Hitlers Plan einer Judenstrafsteuer)
  • Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt/M 2005 (zur „Judenbuße“: S. 60-66), ISBN 3100004205
  • Israel Gutman, Eberhard Jäckel, Peter Longerich: Enzyklopädie des Holocaust. Argon Verlag 2002, Band 1-3, ISBN 3870243007
  • Walter H. Pehle (Hrsg.): Der Judenpogrom 1938: Von der „Reichskristallnacht" zum Völkermord. Frankfurt am Main, 1988. (Aufsatzsammlung, u.a. Avraham Barkai: 'Schicksalsjahr 1938': Kontinuität und Verschärfung der wirtschaftlichen Ausplünderung der deutschen Juden. S. 94-117)

zu Reaktionen der Bevölkerung und Kirchen

  • Günter Brakelmann: Evangelische Kirche und Judenverfolgung. Drei Einblicke. Hartmut Spenner Verlag, Waltrop 2001, ISBN 3933688531
  • Eberhard Röhm, Jörg Thierfelder: Juden - Christen - Deutsche. Besonders: 1938-1941: Ausgestoßen. Calwer Verlag 1995, Teilband 3/1: ISBN 3766833936, Teilband 3/2: ISBN 3766833987

zur Aufarbeitung nach 1945

  • Dieter Obst: Die „Reichskristallnacht“ im Spiegel westdeutscher Nachkriegsprozessakten und als Gegenstand der Strafverfolgung. In: Geschichte ín Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), Seite 205-217
  • Harald Schmid: Erinnerung an der "Tag der Schuld". Das Novemberpogrom 1938 in der deutschen Geschichtspolitik. Hamburg 2001
  • Harald Schmid: Antifaschismus und Judenverfolgung. Die "Reichskristallnacht" als politischer Gedenktag in der DDR. Göttingen 2004

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