Niederdeutsche Bewegung

Die Niederdeutsche Bewegung, auch plattdeutsche Bewegung, konturierte sich nach der deutschen Reichsgründung 1871 als Teil einer breiten Such- und Sammelbewegung, deren weltanschauliche Gemeinsamkeit in ihren völkischen und antisemitischen Überzeugungen lag. In dieser Weise wird sie heute als regionaler Wegbereiter des Nationalsozialismus betrachtet. Als regionalistische „Bewegung“ mit Interessen über den Erhalt des „Plattdeutschen“ hinaus existiert sie inzwischen nicht mehr.
Geschichte
Die Niederdeutsche Bewegung, ein sprachlich-kulturell agierendes Netzwerk aus Verbänden, Bühnen und Verlagen sowie Autorenzirkeln, Lehrergruppen und Meinungsführern mit politischem Selbstverständnis, konstituierte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ausgangspunkt und späterer räumlicher Schwerpunkt war naturgemäß der norddeutsche Raum, auch wenn es reichsweit Niederlassungen gab. Identitätsstiftend, nämlich im Sinne einer zurückblickenden regionalen Gegenbewegung zur Moderne wirkte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Entscheidung von Schriftstellern wie Klaus Groth, Fritz Reuter und John Brinkman zur Schriftlichkeit der niederdeutschen Sprache. Groth, auch als Sprachtheoretiker einflussreich, sah in der Sprache mit weitreichenden auch politischen Implikationen den Ausdruck eines "Volksgeistes" und das Verhältnis zur Hoch- und Standardsprache als ein verwandtschaftliches: Sprache und Sprechergemeinschaft wurden mit einem erbbiologischen Modell beschrieben, wie es sich allgemein im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sowohl in der Philologie als auch in der Ethnologie durchzusetzen begann.[1] „Niederdeutsch“ wurde dabei nicht nur als ein Mittel der Kommunikation, sondern als volkhafte "nordische" Existenzweise empfunden und - so von Julius Langbehn, Adolf Bartels und anderen prominenten Vertretern des modernen Antisemitismus - zu einem rassebasierten Konzept entwickelt.[2] Auf dieser weltanschaulichen Grundlage entwickelte sie sich bereits im wilhelminischen Deutschen Reich zu einem "Segment einer breit aufgestellten Such- und Sammelbewegung, deren ideologische Achse ein völkisch-nationaler Antisemitismus bildete."[3]. Die Niederdeutsche Bewegung konzeptionierte den „Mythos der Einheit des ... Niederdeutschen“, während seine lokalen und regionalen Varietäten von „Dialektverfall und Dialektverlust“ geprägt waren.[4]. In der Gegenwart bildet die wichtigste Handlungsachse der Niederdeutschen Bewegung die Umsetzung der sprachenpolitischen Zuschreibung, dass die plattdeutschen Varietäten ihrem Status nach eine identitätsproduktive Regionalsprache sind. Damit setzt sich ein tragendes Element des Wertesystems der Bewegung bis heute hin fort: die Vorstellung, es gäbe einen niederdeutsch geprägten, einheitlichen Kulturraum.
Nach einer Blüte dieser Vorstellungen in den Jahren vor dem und während des Ersten Weltkriegs, "in der das völkisch-nationale Denken zum Allgemeingut wurde, gab die Bewegung sich zunächst "in ihren Vereinigungen einen unpolitischen Anstrich", vertrat aber ein politisches Selbstverständnis in Gegenposition zur neuen Staatsform.[5] Zwar verlor sie in Weimar real an Bedeutung, ideologisierte und politisierte sich aber vermehrt. Dafür steht der "Boom der niederdeutsch-niederländisch-flämischen Annäherung" (Volker Georg) in diesen Jahren.[6] Ein enges Verhältnis unterhielt die Niederdeutsche Bewegunge zur Flämischen Bewegung ("Vlaamse Beweging") in Belgien. Man sah das Niederländische als Sprachvariante des Niederdeutschen. Flamen, Niederländer und Niederdeutsche bildeten einen einheitlichen "Volksstamm". Es gehe nun darum, den gemeinsamen "germanischen Volksgeist" zu wecken und die politisch Getrennten "wiederzuvereinigen", wie der niederländische Aktivist Constant Hansen schon einige Jahrzehnte zuvor proklamiert hatte.[7] Insbesondere seit dem Ersten Weltkrieg unterhielt die Niederdeutsche Bewegung Kontakte zur „dietsche Beweging“, die sie als völkische Schwesternorganisation in Belgien betrachtete.
Heutige Rezeption
Historiker wie Uwe Puschner und Jenni Boie rechnen die Niederdeutsche Bewegung der völkischen Bewegung zu.[8]
Claus Schuppenhauer, von 1974 bis 2003 Geschäftsführer des Instituts für niederdeutsche Sprache in Bremen, sieht in ihr einen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Sie habe „sich vor und nach 1900 in dauernder, oft auch personeller Verbindung zu dem weltanschaulich-politischen Lager entwickelt, das auf eine völkisch-konservative Revolution in Deutschland hinarbeitete, mit der Heimatkunstbewegung, der Heimatschutz- bzw. Heimatbewegung, den antimodernistischen Kulturkritikern und Literaten, die auf einen ‚Aufstand der Provinz‘ gegen Berlin hinauswollten usw.“ So habe sie „zu den historischen Strömungen beigetragen, auf denen später die Nationalsozialisten fußten.“[9]
Ulf-Thomas Lesle, ebenfalls langjähriger Geschäftsführer des Instituts für niederdeutsche Sprache in Bremen,[10] wendet sich der Rolle des Bildungsbürgertums als sozialem Träger der Niederdeutschen Bewegung zu. Der niederdeutsche Dialekt sei in Norddeutschland „vom mittelständischen Bildungsbürgertum just zu dem Zeitpunkt ‚entdeckt‘“ worden, „als es sich anschickte, mit 'völkischen' Konzepten einer angeblichen Bedrohung durch das Proletariat entgegenzutreten, zugleich aber auch danach trachtete, sich selbst in der sehnlichst erwünschten Weltmachtstellung des Deutschen Reiches den eigenen Status zu sichern.“ In dieser ideologischen Gemengelage enthülle sich die vorgeblich unpolitische bildungsbürgerliche Begeisterung für die „Volkssprache“ als gezielter Versuch, „einen Beitrag zur ‚völkischen‘ Sinnstiftung leisten zu wollen.“[11] Die Rolle im Nationalsozialismus fasst er so zusammen: „plattdeutsche Mundartliteratur ist im Nationalsozialismus nicht etwa mißbraucht worden - wie es heute immer noch oder auch schon wieder manche glauben machen wollen -, sie wurde lediglich auf ihren genauen Begriff gebracht.“[11] Ein zentrales Ziel sei es gewesen, publizistisch und medial einen als "menschlich-ursprünglich" betrachteten „Kulturraum“ als Ort antimoderner Lebensformen und zugleich als „exklusives Symbol arischer Volksgemeinschaft“ zu markieren.[12]
Ein wichtiger institutioneller Träger der Niederdeutschen Bewegung war die Fehrs-Gilde, die sich in Distanz zu ihrem früheren Selbstverständnis in ihrer jüngsten Geschichte nur noch als Zusammenschluss für niederdeutsche Sprachpflege, Literatur und Sprachpolitik und nicht mehr als Träger einer politischen Bewegung sieht.[13] Im Rahmen der Sprachencharta des Europarats stehen die plattdeutschen Varietäten seit 1999 als Regionalsprache unter dem Schutz dieses sprachenpolitischen Rechtsinstruments.[14] In einzelnen bundesdeutschen Ländern gibt es eigene gesetzliche Regelungen gegen die Diskriminierung bzw. für die Aufwertung des Niederdeutschen, so in Schleswig-Holstein und Hamburg.
Die Niederdeutsche Bewegung als politische aktivistische Bewegung weit über eine begrenzte „Sprachpolitik“ hinaus und mit einem offen völkischen Selbstverständnis existiert heute nicht mehr. Der Terminus selbst ist inzwischen untergegangen. Lesle, der die Denk- und Verhaltensstrukuren von Akteuren der historischen Niederdeutschen Bewegung mehrfach beschrieben hat, weist allerdings darauf hin, dass von der Politik geförderte Maßnahmen wie z. B. Normierung, Spracherwerb und -ausbau der Varietäten noch „vielfach jenen sprachideologischen Positionen“ gleichen, die die völkischen „Akteure der niederdeutschen Bewegung in den letzten einhundert Jahren immer wieder vertreten haben“.[15]
Literatur
- Kay Dohnke, Norbert Hopster, Jan Wirrer (Hrsg.): Niederdeutsch im Nationalsozialismus. Studien zur Rolle regionaler Kultur im Faschismus. Georg Olms Verlag, Hildesheim u.a. 1994. ISBN 3-487-09809-1
- Ulf-Thomas Lesle: Identitätsprojekt Niederdeutsch. Die Definition von Sprache als Politikum. In: R. Langhanke (Hrsg.): Sprache, Literatur, Raum. Fs. für W. Diercks. Bielefeld 2015, S. 693-741. ISBN 978-3-89534-867-9
- Robert Peters: Regionalsprache Niederdeutsch? In: Augustin Wibbelt-Jb. 20 (2004), S. 102-107. ISBN 3-89534-580-6
Einzelnachweise
- ↑ Birte Arendt, Spracheinstellungen im Kontext von Laien, Printmedien und Politik, Berlin 2010, S. 92f.
- ↑ Volker Georg, Das Verhältnis der Niederdeutschen Bewegung zur flämischen und niederländischen Sprache und Kultur im Quickborn, S. 12, siehe: [1].
- ↑ Ulf-Thomas Lesle: Identitätsprojekt Niederdeutsch. Die Definition von Sprache als Politikum. In: R. Langhanke (Hrsg.): Sprache, Literatur, Raum. Fs. für Willy Diercks. Bielefeld 2015, S. 706.
- ↑ Robert Peters: Regionalsprache Niederdeutsch? In: Augustin Wibbelt-Gesellschaft. Jb. 20, 2004, S. 107.
- ↑ Volker Georg, Das Verhältnis der Niederdeutschen Bewegung zur flämischen und niederländischen Sprache und Kultur im Quickborn, S. 13, siehe: [2].
- ↑ Volker Georg, Das Verhältnis der Niederdeutschen Bewegung zur flämischen und niederländischen Sprache und Kultur im Quickborn, S. 16, siehe: [3].
- ↑ Hubert Roland/Marnix Beyen/Greet Draye, Deutschlandbilder in Belgien 1830–1940, Münster 2011, S. 92.
- ↑ Jenni Boie: Volkstumsarbeit und Grenzregion. Volkskundliches Wissen als Ressource ethnischer Identitätspolitik in Schleswig-Holstein 1920–1930. Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte. Bd. 9, 2013, S. 117.
- ↑ Claus Schuppenhauer: Die Doberaner Dichtertage - einst ein Ort für „niederdeutsche Aufrufe in das Reich“. Noch ein Kapitel vom Glauben an die politische ‚Sendung‘ des Niederdeutschen, in: Monika Schürmann, Reinhard Rösler (Hrsg.): Literatur und Literaturpolitik im Dritten Reich. Der Doberaner Dichtertag 1936-1943, Rostock 2003, S. 121.
- ↑ (abgerufen 15. September 2014).
- ↑ a b Ulf-Thomas Lesle: Hamburg als „Mittelpunkt und Kraftquelle“. Die „Niederdeutsche Bewegung“ - ihre Voraussetzungen und Verbindungen. in: Inge Stephan, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Liebe, die im Abgrund Anker wirft“. Autoren und literarisches Feld im Hamburg des 20. Jahrhunderts. Argument Verlag, Berlin u.a. 1990, S. 70f., 81.
- ↑ Ulf-Thomas Lesle: Identitätsprojekt Niederdeutsch. Die Definition von Sprache als Politikum. In: R. Langhanke (Hrsg.): Sprache, Literatur, Raum. Fs. für Willy Diercks. Bielefeld 2015, S. 706f.
- ↑ Vgl.: Blätter der Fehrs-Gilde. Neue Folge: [4], [5].
- ↑ Vgl.: Samuel Salzborn: Ethnisierung von Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa. Frankfurt a.M/New York 2005.
- ↑ Ulf-Thomas Lesle: Identitätsprojekt Niederdeutsch. Die Definition von Sprache als Politikum. In: R. Langhanke (Hrsg.): Sprache, Literatur, Raum. Fs. für Willy Diercks. Bielefeld 2015, S. 706.