Quartenharmonik
Unter dem Begriff Quartenharmonik wird der Aufbau musikalischer Strukturen mittels einer deutlichen Bevorzugung des Intervalls der reinen Quarte verstanden.


Elemente der Quartenharmonik
Kurze Geschichte der Quarte
Die Griechen nannten das zur Gruppe der wohlklingenden Intervalle der Symphonia gehörende Quartintervall Syllabe (griechisch „Zusammenfassung“) und später Diatessaron (griechisch „durch vier“, „aus vier“). Sie bildet das Rahmenintervall des in der griechischen Musiktheorie wichtigen Tetrachords. Im Mittelalter gehörte die Quarte zuerst zur Concordantia, einer als "wohlklingend" empfundenenen Gruppe von Intervallen, zu welcher Einklang, Oktave, Quinte und später die Terz gezählt wurden. Ab dem 12. Jahrhundert wurde sie dann im Falle eines Auftretens zwischen der untersten Stimme und einer Oberstimme als auflösungsbedürftige Dissonanz begriffen. Später wurde sie dann zunehmend als dissonanter angesehen. Im 13. Jahrhundert ist sie zusammen mit der Quinte in der Mittelposition der Concordantiae mediae. Im 15. Jahrhundert scheidet sie schließlich ganz aus der Gruppe der Concordantia aus.
Aus Sicht der modernen Akustik wird die mittelalterliche Interpretation insofern gestützt, als bei den Intervallen Oktave, Quinte und Quarte in der Tat besonders einfache Schwingungszahlenverhältnisse vorliegen. Bei der Oktave beträgt dieses 1:2, das heißt die Oktave a" des Kammertons a' (440 Hz) schwingt mit 880 Hz. Bei der Quinte beträgt dieses Verhältnis 2:3 (die Oberquinte e' des Kammertons schwingt also mit 660 Hz); für die sich als Komplementärintervall ergebende Quarte zwischen e' und a" (660 und 880 Hz) beträgt die Proportion dementsprechend 3:4. Diese Proportionen waren, zum Beispiel durch Experimente am Monochord, grundsätzlich auch schon den antiken und mittelalterlichen Musiktheoretikern vertraut.


Bei den folgenden historischen Ausführungen sei auf das sich wandelnde Frequenzverhältnis der Töne untereinander bei der mitteltönigen, gleichstufigen und wohltemperierten Stimmung hingewiesen.
Im Laufe der europäischen Musikgeschichte wurden bestimmte Intervalle in polyphoner Musik also offenbar zunächst gerade wegen ihrer einfachen akustischen Beziehung bevorzugt. Die Entwicklung zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert ist dann, stark vereinfachend, von folgenden Entwicklungslinien gekennzeichnet:
- Die mit Hilfe „einfacher“ Intervallbeziehungen erzielten Klangwirkungen werden zunächst bevorzugt.
- Diese Klänge werden später als zunehmend „abgenutzt“ empfunden, während die „komplexeren“ Intervalle (Terzen, Sexten, Tritonus) mehr und mehr vom Rand ins Zentrum des musikalischen Interesses rücken.
- Mit dem Ende der mittelalterlichen Musik werden einige ihrer grundlegenden Prinzipien durch neuere Regeln der Stimmführung quasi abgeschafft oder zumindest äußerst restriktiv gehandhabt (daher beispielsweise das Verbot der Parallelführung von Oktaven und Quinten).
Die Musik des 20. Jahrhunderts stellt dann ihrerseits das Regelwerk der „klassischen“ europäischen Tonkunst zur Disposition. So werden neben bewussten Rückgriffen auf das Mittelalter (zum Beispiel bei Erik Satie) auch völlig neuartige Klänge komponiert, die sehr häufig das Intervall der Quarte als Strukturelement einbeziehen.
Definition
Der Begriff Quartenharmonik bezeichnet die Bildung harmonischer Strukturen auf der Basis des Intervalls der Quarte im Gegensatz zur traditionellen Schichtung von Akkorden in Terzen. Während in der Dur-moll-tonal gebundenen europäischen Musik (zwischen circa 1600 und 1900) solche quartharmonischen Klänge als auflösungsbedürftige Vorhalte in der Stimmführung besonders behandelt werden mussten, verselbständigten sie sich in der späteren Musik zusehends. Im Jazz und Rock wurden Quartharmonien seit den 1960er Jahren bevorzugt verwendet. Entsprechend zu dieser akkordbezogenen (vertikalen) Strukturierung ist eine melodisch orientierte (horizontale) Verwendung von Quarten gebräuchlich, für die sich der parallele Begriff Quartenmelodik jedoch (bislang) nicht durchsetzen konnte. Eine weiter Form ist die Quartenkopplung. Dies bedeutet, dass man Quarten zur Anreicherung von Klängen benutzt, so wie das normalerweise mit Terzen, Oktaven oder Sexten gemacht wird.
Eigenschaften des Quartenakkordes
Quartenakkorde haben einen etwas "unsteten" Charakter, da sie die Tendenz zum Verlassen der Tonart haben. Die Quarte ist das Komplementärintervall der Quinte. Wenn man dem Quintenzirkel in seiner „kadenzierenden“ Richtung (G -> C -> F ->Bb und so weiter) folgt, bewegt man sich demnach in aufsteigenden Quarten. Diese „eingebaute“ kadenzierende Dynamik des Modells, das eigentlich besser Quartenzirkel heißen sollte, erklärt, warum Quarten die Eigenschaft haben, jeweils ein neues tonales Zentrum anzudeuten beziehungsweise, zur Ausgangstonalität in recht instabilem Verhältnis stehen.
Abgrenzungsprobleme
Die Frage, ob auf Quarten beruhende Gebilde aus Sicht der Quartenharmonik interpretiert werden sollten, oder ob es eher sinnvoller ist, sie noch im Rahmen herkömmlicher Systeme wie der Funktionstheorie oder Stufentheorie zu deuten, ist jeweils vom Einzelfall abhängig und manchmal nicht eindeutig zu beantworten. Mitunter können beide Interpretationsansätze sinnvoll sein und zu verschiedenen Ergebnissen führen.


Dies wird deutlich, wenn man sich klarmacht, das zum Beispiel der Quartakkord C - F - Bb im Sinne der herkömmlichen Harmonielehre auch als C-Dur-Septakkord mit kleiner Septime, ausgesparter Quinte und einer durch die Quarte ersetzten Terz (Quartvorhalt), also C7 sus4 gesehen werden kann. Andere Deutungen, wie zum Beispiel als Umkehrung Quartsextakkord von F7 sus4, wären auch denkbar. Selbst aus vier oder mehr Tönen bestehende Quartschichtungen lassen sich in ähnlicher Weise deuten. So könnte man den Quartakkord C - F - Bb - Eb ebenso als c-moll-Akkord mit kleiner Septime und zusätzlicher Quarte C7 add4, oder auch, um nur eine der vielen Möglichkeiten anzudeuten, oder als Umkehrung eines Es-Dur-Akkordes mit Quartvorhalt und zusätzlicher Sexte Eb sus4 add6 sehen.
Dem an tonales Hören gewohnten Ohr bieten sich also viele Möglichkeiten eine Quartschichtung zu interpretieren. Der Klang C - F - Bb wird wohl am ehesten als Quartvorhaltsakkord von F-Dur, also Fsus4, empfunden werden. In einem fünftönigen Quartturm C - F - Bb - Eb - Ab wird eher der As-Dur Dreiklang vom Ohr extrahiert.


Die Frage ob eine solche Vorgehensweise angebracht ist, sollte folgendermaßen beantwortet werden: Ergibt die Interpretation eines Quartgebildes im Zusammenhang der zeitlich vorhergehenden und nachfolgenden Akkorde und musikalischen Entwicklung einen nachvollziehbaren und auch hörbaren funktionalen Sinn ? Oder ist es nur noch eine Übung mit angestrengten Klimmzügen, um die Musik in das Prokrustesbett einer Theorie zu zwingen. Dabei kann es ein wichtiges Kriterium sein, ob Vorhalte und Alterationen aufgelöst beziehungsweise funktional deutbar fortgeführt werden.
Geschichte
Das Musizieren mittels vokaler oder instrumental begleitender Parallelführung in verschiedenen Intervallen, auch dem der Quarte, ist für verschiedene auch außereuropäische Völker nachgewiesen und dürfte seit der Vorgeschichte üblich sein.
Mittelalter
In der Musik des Mittelalters, der das Denken in der Dur-moll-Tonalität noch fremd war, lassen sich viele Beispiele für einen musikalischen Aufbau unter der Bevorzugung von Quartschichtungen finden.

So nimmt zum Beispiel im Alleluya (Hörbeispiel) von Perotin die Quarte eine bevorzugte Stellung ein. Das Notenbeispiel zeigt, dass das Intervall der Quarte mit 14 von 27 Achteln einen Anteil von über fünfzig Prozent an der Häufigkeit der Intervallbeziehungen hat. Im Quartorganum wurde die Prinzipalstimme von einer weiteren eine Quarte tiefer liegenden Stimme begleitet. Wichtig ist sie außerdem im Fauxbourdon, einer Musikform bei der eine Stimme eines zweistimmigen, meist aus Sexten und Oktaven gebildeten Satzes, durch eine Mittelstimme in der Unterquart ergänzt wird. Allerdings ist der Fauxbourdon dabei als ein erster Schritt aus dem alten Quart/Quintsatz zu moderneren Dreiklangsstrukturen aus Quartsextakkorden zu sehen.

Das Problem der sich dabei ergebenden schon damals verpönten Quartparallelen umging man dadurch, dass man die Mittelstimme spielte, aber nicht notierte. Ein Beispiel hierfür ist der Anfang des Marien-Antiphons Ave Maris Stella (Hörbeispiel) von Guillaume Du Fay, einem Meister des Fauxbourdon.
Renaissance und Barock
In der Renaissance beginnt dann die Entwicklung auf die sich im Barock verwirklichende Dur-moll-Tonalität. In der um 1515 entstandenen Messe Missa Pange Lingua (Hörbeispiel) oder dem zweistimmigen Domine, Dominus noster von Josquin Desprez ist davon noch wenig zu spüren. Auf und absteigende sich überlappende Quarträume in den einzelnen Stimmen bilden hier öfters noch Quartintervalle aus.

Im Laufe der Zeit bis zur Spätrenaissance und dem beginnenden Barock wird die Quarte aber immer mehr als auflösungbedürftiges Intervall verstanden. Die Quinten- und Quartenharmonik weicht zunehmend Terzen und Sexten. Dies zeigen zum Beispiel die sich entwickelnden Schlussformeln mit Quartvorhaltsauflösung bei Orlando di Lasso und Giovanni Pierluigi da Palestrina als Vorform der Kadenz (.Hörbeispiel)

In der frühbarocken Musik von Claudio Monteverdi, Palestrina und Girolamo Frescobaldi hat sich dann die Dreiklangsharmonik weitgehend durchgesetzt. Dennoch bleiben diatonisch oder chromatisch auf beziehungsweise absteigende den Tonraum einer Quarte ausfüllende Gebilde, wie Lamento und Passus duriusculus weiterhin bedeutsam. In den Madrigalen von Claudio Monteverdi und Carlo Gesualdo sind dennoch zur intensiveren Ausdeutung des Textes häufig Tendenzen zur Quartbildung in extrem spät aufgelösten Quartvorhalten anzutreffen. In Frescobaldis Toccata cromaticha aus dem Jahr 1635 überlappen sich Quartbereiche aus halbierten Kirchentonarten in verschiedenen Modi.
Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts werden die theoretischen Grundlagen der Kompositionslehre und Harmonielehre auch zunehmend schriftlich fixiert. Jean-Philippe Rameau legt mit seinen theoretischen Werken Le Traité de l'harmonie réduite à ses principes naturels im Jahr 1722 sowie dem vier Jahren später erscheinenden ergänzenden Nouveau Système de musique theoretique den Grundstein der modernen Musiktheorie für Akkord- und Harmonielehre. Der österreichische Komponist Johann Joseph Fux veröffentlicht 1725 unter dem Titel Gradus ad Parnassum seine einflussreiche Kompositionslehre für den Kontrapunkt im Stile Palestrinas. In der nach Gattungen gegliederten Lehre gilt das Intervall der Quarte im Satz Note gegen Note als zu vermeidende Dissonanz.

Aber auch in Werken des Hochbarock sind Stellen zu finden bei denen die alte Macht des Kontrapunktes die Dur-moll-Tonalität überlagert. So wird im
Crucifixus von Johann Sebastian Bachs H-Moll-Messe die übermäßige Quarte und die Unterquinte betont. In seinem Klavierwerk erscheint zum Beispiel in der Fuge Nr.22 des ersten Teils des Wohltemperierten Klaviers oder der
Sinfonia Nr.9 (Hörbeispiel), die Paul Hindemith wegen ihres mehrdeutigen Harmonieverlaufs ein als ein "wahres harmonische Vexierspiel" bezeichnete, das Intervall der Quarte besonders zentral.
Klassik
Der Versuch für die "Blütezeit" der Dur-Moll-Tonalität von der Etablierung der temperierten Stimmung zur Zeit Bachs bis zur Spätromantik Tendenzen einer Quartenharmonik sehen zu wollen ist verfehlt. Eine zunehmend verfeinerte Kadenz und Dreiklangs-Harmonik bestimmt das musikalische Arbeiten. Das kontrapunktische Element tritt zugunsten der Oberstimme und einer klaren Begleitharmonik zurück. Dennoch sind einige Beispiele zu finden, bei denen Konstruktionsmechanismen über Intervallbeziehung die übliche Harmonik überlagern und zum Teil in den Hintergrund drängen. Dies steht häufig im Sinne eines gesteigerten, expressiven Ausdrucksbedürfnisses.

So überlagern sich in Mozarts sogenanntem "Dissonanzenquartett" KV 465 (Hörbeispiel) chromatisch und ganztönig auf beziehungsweise absteigende Quartzüge. Bogenförmige Quartzüge in der ersten Violine (C - F - C) und im Violoncello (G - C - C` - G#`) sind mit einem Unterquintlauf in der zweiten Violine und einem Quintlauf in der Bratsche kombiniert. In Takt zwei und drei treten auf der ersten Zählzeit Quartvorhalte (1. Violine und Bratsche) dazu. Im Streichquartett KV 464 sind dagegen die Quartvorhalte sehr exponiert.

Beispiele für eine solche Tonsprache finden sich besonders oft in den Gattungen des Streichquartetts und der Klaviermusik, in denen die Komponisten im allgemeinen meist experimentierfreudiger als in ihrem sonstigen Werk sind. Das Thema des vierten Satzes aus Beethovens Klaviersonate op. 110 (Hörbeispiel) besteht aus drei Quartsprüngen ( AB -> Db - Bb -> Eb - C -> F) und dem abwärts durchlaufenen Quartraum F - Eb - Db - C. Die Gegenstimme bei zweiten Themeneinsatz arbeitet ebenfalls mit dem Quartmaterial.

Zu Beginn des zweiten Satzes des Streichquartetts a-moll op. 132 (Hörbeispiel) exponiert Beethoven die Quarte im Dreierschritt (G# - A- C#) viermal im Unisono aller Instrumente. In Takt fünf wird dieser Dreierschritt dann mit einer umgekehrten Variante (Unterquinte) in gemischten Notenwerten kombiniert.
Von 1850 bis 1900 vollzieht sich dann über Komponisten der Spätromantik wie Anton Bruckner, Richard Wagner, Gustav Mahler und den Impressionismus die Auflösung des gewohnten Dur-moll-tonalen Denkens, um zu Beginn des 20. Jahrhundert dann wieder nicht Dur-moll-tonalen Konzepten wie der Quartenharmonik mehr Raum zu geben.
Impressionismus
Schon bei Frederic Chopin und Franz Liszt, speziell in seinem klanglich ausgedünnten Spätwerk für Klavier (Nuages gris, La lugubre gondola, und anderen Werken) sind dann gelegentlich Quartenakkorde nachzuweisen.
In der Musik des Impressionismus lösen sich die Akkorde, deren klangliches Konzentrat bestehen bleibt, zunehmend aus dem harmonischen Funktionszusammen und gewinnen den Status autonomer Klangwerte.

Als diese werden sie dann gemeinsam mit Nonakkorden, der Ganztonleiter, der Pentatonik, der Polytonalität und auch Quartschichtungen zu einem wichtigen Ausdrucksmittel von Musikern wie Maurice Ravel, Claude Debussy und anderen. So liegen im vierten Stück Les sont et les parfums tournent dans l`air du soir aus dem ersten Buch von Debussys Preludes 3-tönige Quartenakkorde in der rechten Hand über "normal" aus Vierklängen gebildeten Akkorden in der linken Hand (Hörbeispiel). Weitere Beispiele sind Debussy Orchesterwerk Images, La cathedrale engloutie aus den Preludes, sowie pour les quartes (
Hörbeispiel (Anfang)) und pour les arpéges composées aus den Etudes.
Im Werk Der Zauberlehrling (L'Apprenti sorcier) des mit Debussy befreundeten Komponisten Paul Dukas aus dem Jahr 1897 versinnbildlichen Folgen von aufsteigenden Quarten das durch den schwer zu beherrschenden Besen sich mit Wasser füllende Haus.
Musik des 20. Jahrhunderts
E-Musik
In unserem Jahrhundert werden Quartenbildung schließlich zu einem der wichtigsten Elemente der Harmonik. Alexander Skriabin wendet ab seiner sechsten Klaviersonate ein selber entwickeltes System von transponierbaren Quartenakkorden (Mystischer Akkord) an. Zum grundlegenden Konzept wird dies schließlich in seinem Werk Promethée – LePoème du Feu. Aus den Skizzenblättern Skrjabins geht hervor, dass der Komponist offensichtlich zunächst beabsichtigte, das Werk aus einem einzigen untransponierten Klangzentrum zu entwickeln.


Skrjabin notiert den Akkord auf seinen Skizzenblättern sowohl als Quartenschichtung als auch als Terzschichtung, wobei er offensichtlich auch daran dachte, den sonst 6-tönig (C - F# - Bb - E - A - D) in Erscheinung tretenden Akkord zu einem 7-tönigen Akkord (C - F# - Bb - E - A - D - G) zu erweitern. Ein inflationärer Gebrauch des Begriffs der Quartenharmonik im Zusammenhang mit der Musik Skriabins und Liszts, wie er nach Leonid Sabanejews Aufsatz über Skriabins Prometheus in der Zeitschrift Der blaue Reiter im Jahr 1912 aufkam, sollte allerdings vermieden werden. So bemerkt das Riemann-Musiklexikon hierzu: "Dabei wurde übersehen, dass erstens Akkorde aus reinen Quarten (wie zum Beispiel in Arnold Schönbergs hierfür mit Recht vielzitierter Kammerssinfonie ) nicht ohne weiteres mit Mischungen aus übermäßigen, verminderten und reinen Quarten gleichzusetzen ist und zweitens, dass Skrjabin selbst seinen sogenannten mystischen Akkord keineswegs als Quartenakkord sondern vielmehr als eine Wiederspiegelung der Obertöne ansah."

Ein Meilenstein der Quartenharmonik ist dann Arnold Schönbergs Kammersinfonie Op. 9 aus dem Jahre 1906 (Hörbeispiel). Das Werk beginnt nicht mit einer tonalen Harmonie, sondern direkt mit einem neu erfundenen Klangzentrum: In den ersten Takten wird ein fünfstufiger Quartenakkord durch sukzessives Auftreten der Töne C- F - B - Eb - Ab in den verschiedenen Instrumenten aufgebaut. Diese vertikale Quartenharmonik wir dann durch die horizontale Quartenfolge C - F - Bb - Eb - Ab - Db in den Hörnern in eine Dreiklangsharmonie aufgelöst.
Schönberg war auch der erste, der über die theoretische Tragweite dieser harmonischen Neuerung genauer nachdachte. So schreibt er in seiner Harmonielehre von 1922 „Der quartenweise Aufbau der Akkorde kann zu einem Akkord führen, der sämtliche zwölf Töne der chromatischen Skala enthält, und damit immerhin eine Möglichkeit der systematischen Betrachtung jener harmonischen Phänomene erzielen, die in Werken von einigen von uns schon vorkommen: sieben-, acht- neun-, zehn-, elf-, zwölfstimmige Akkorde. (...) Der quartenweise Aufbau ermöglicht (...) die Unterbringung aller Phänomene der Harmonie (...)“
Unbeeinflusst von der theoretischen und praktischen Arbeit der zweiten Wiener Schule setzt währenddessen der Amerikaner Charles Ives in seinem 1906 komponierten Lied The Cage (Nr. 64 des 114-teiligen Liedsammlung) den Klavierpart aus 5-stufigen Quartklängen, über denen sich die Singstimme in Ganztönen bewegt, zusammen (Hörbeispiel).
Für Anton Webern bedeuten Quartenschichtungen eine Möglichkeit zur Bildung neuer Klänge. So schreibt er im Jahr 1912: "Durch Alteration werden die Quartenakkorde zu noch nie gehörten Harmonien, die frei von jeder tonalen Beziehung sind."

Er bekundet die Absicht: "So was mußt du auch machen !" (S. 52 in seiner Schrift Der Weg zur Komposition) was er in den Vier Stücken für Geige und Klavier op. 7, in denen Quartstrukturen zum wichtigen Gestaltungsprinzip werden, und anderen Werken auch verwirklicht.
Auch andere Komponisten, wie zum Beispiel Bela Bartok im Klavierwerk Mikrokosmos (Hörbeispiel) oder der Musik für Streicher, Schlagwerk und Celesta, Paul Hindemith, Carl Orff oder Igor Strawinsky beschäftigen sich mit Quartenbildungen. Sie verbinden dabei vorromantische Elemente der Barockmusik, des Volksliedes mit seiner Rhythmik mit einer zum Teil auf den Intervallen der Quarte und Quinte beruhenden Harmonik.
Hindemith konstruiert zum Beispiel weite Teile des zweiten Satzes seines sinfoischen Werkes Mathis der Maler (Hörbeispiel) mittels Quart und Quintintervallen. Diese treten dabei in Originalgestalt, in Umschichtung (C- D - G wird als Quartakkord D - G - C gesehen), sowie in einer Mischung aus Quarten und Quinten (zum Beispiel D# - A# - D# - G# - C# am Anfang von Takt 3 des Notenbeispiels) auf.
In Hindemith einen vehementen Vorkämpfer einer expliziten Quartenharmonik zu sehen, wäre hingegen falsch. So betont er in seiner 1937 erschienenen Unterweisung im Tonsatz, "dass die Töne eine Familienzugehörigkeit besitzen, die sich in der Bindung an tonale Haupttöne äußert, die eine unzweideutige Rangliste der Tonverwandschaften aufstellt." , sowie die Kraft des Dreiklangs "... der Musiker ist an ihn gebunden , wie der Maler an die primären Farben, der Architekt an die drei Dimensionen.". In den von ihm aufgestellten nach harmonischer und melodischer Kraft geordneten Reihen erscheinen Oktave, Quinte und Terz gegenüber der Quart bevorzugt. "Das stärkste und eindeutige harmonische Intervall ist nächst der alleinstehenden Oktave die Quinte, das schönste jedoch die Terz wegen ihrer in den Kombinationstönen begründeten Akkordwirkung."
In seiner Harmonielehre aus dem Jahr 1922 bemerkt Schönberg auf Seite 487 dazu: "Außer mir haben meine Schüler Dr. Anton Webern und Alban Berg solche Klänge (gemeint sind Quartenklänge) geschrieben. Aber auch der Ungar Bela Bartok oder der Wiener Franz Schreker, die beide einen ähnlichen Weg gehen wie Debussy, Dukas und vielleicht auch Puccini, sind wohl nicht weit davon entfernt."
Eine fast durchgängige Quartenharmonik verwendet Bertold Hummel in seiner im Jahr 1966 komponierten zweiten Sinfonie.

Ebenfalls deutlich von Quartenharmonik geprägt sind die Werke von Mieczysław Weinberg und Hermann Schroeder.
Als Überleitung zum Abschnitt Jazz, sei schließlich noch George Gershwin erwähnt, der zum Beispiel im ersten Satz seines Klavierkonzert in F (Hörbeispiel) alterierte Quartklänge chromatisch abwärts in der rechten Hand mit einer chromatisch aufwärts führenden Skala in der linken Hand verknüpft.
Jazz


Der Jazz – als gerade im harmonischen Bereich ausgeprägt eklektische Musik – übernimmt in seinen frühen Stilen (bis etwa zum Swing der 1930er Jahre) das Vokabular der europäischen E-Musik. Insbesondere Musiker mit ausgeprägtem Interesse an harmonischem Farbenreichtum nutzen in diesem Rahmen die meisten bereits vorhandenen Verwendungsmöglichkeiten der Quarte; hier wären vor allem Pianisten und Arrangeure wie Jelly Roll Morton, Duke Ellington oder Art Tatum zu nennen. Jedoch behandelt der ältere Jazz im wesentlichen harmonische Bildungen mit Quarten in der herkömmlichen Weise als auflösungsbedürftige Vorhalte.
Der moderne Jazz seit dem Bebop bringt hier einen ästhetischen Wandel: Wurden vorher die Akkorde klanglich relativ eindeutig (als Dur, Moll, Dominante etc.) und eher blockartig nebeneinander gestellt, bevorzugen die späteren Musiker häufig fließende, glattere Übergänge, die die Farben der Akkorde stärker verwischen und mehrdeutiger erscheinen lassen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die im modernen Jazz äußerst beliebte II-V-I-Kadenz.


Spielt der Musiker nun für den Dominantakkord in den Oberstimmen dieselben Töne wie für den Mollseptakkord, so ist dies technisch gesehen korrekt, schärft die Stimmführung klanglich etwas und entspricht obendrein der improvisierten, fragmentierten Ästhetik vieler moderner Jazzkompositionen, die nicht selten in rasenden Tempi gespielt werden. Quartbildungen dieser Art waren seit den 1940er Jahren gängige Praxis.
Der Hard Bop der 1950er Jahre erschließt dem Jazz eine neue Verwendungsmöglichkeit der Quarte. Hier werden in der seinerzeit typischen Quintett-Besetzung die Stimmen der beiden Bläser, gewöhnlich Trompete und Saxophon, gerne in reinen Quarten geführt, während das Klavier als eigentliches Harmonieinstrument die zugrundeliegenden Akkorde sparsam andeutet. Dies war sinnvoll, da der neue Stil wieder gemäßigtere Tempi bevorzugte. Hier hätte das charakteristische Unisono der Bebop-Bläser-Sections oft klanglich zu „mager“ gewirkt, andererseits hätte eine ausgefeiltere Polyphonie der Bläser Assoziationen an den Cool Jazz geweckt, den viele der schwarzen Musiker der Epoche als zuwenig „hart“ und expressiv empfanden.

Auf einer seiner wichtigsten Platten, Kind Of Blue, verwendet Miles Davis mit seinem Sextett einen bereits sehr selbständigen, quasi-freien Quartklang für die Komposition „So What“.

Bis zum Beginn der 1960er Jahre waren diese verschiedenen Einsatzmöglichkeiten der Quarte so vertraut geworden, dass die Musiker dazu übergingen, die nunmehr etablierten Klänge selbständig, das heisst unter Verzicht auf die Auflösung des Vorhalts einzusetzen. Der eigentliche Pionier der Quartenharmonik, wie sie im Jazz und Rock später gebräuchlich wurde, war der Pianist McCoy Tyner, der durch sein Spiel mit dem „klassischen“ Quartett des Saxophonisten John Coltrane einer der einflussreichten Musiker seines Instruments für diese Epoche wurde.

In einer engen Wechselbeziehung steht die Quartenharmonik auch mit der „Entdeckung“ der im Jazz seinerzeit neuen Tonleitermodelle. Die Jazzmusiker begannen, ausgiebig mit den so genannten Kirchentonarten der Alten Musik Europas zu experimentieren und stellten in diesem Prozess fest, dass die ebenfalls an Mittelalter und Renaissance angelehnte Klangwelt der Quartharmonik zu einer improvisatorischen, jazzmäßigen Verwendung dieser Skalen besonders gut passte. Komponisten, die für diese Stilistik typische Stücke schrieben, waren beispielsweise die Pianisten Herbie Hancock und Chick Corea.

Viele ihrer Stücke übernahmen in jeweils unterschiedlichem Maße Elemente des zeitgleich entstandenen Free Jazz, der Quartstrukturen aufgrund ihrer harmonischen „Flüchtigkeit“ und Instabilität ebenfalls ausgiebig verwendete.
Durch dieses ausgiebige Expermentieren mit der Quartenharmonik war ihre ursprünglich revolutionäre Wirkung im Jazz schnell erschöpft. Seit der Zeit um etwa 1970 gehören Quartklänge in dieser Musik zum gängigen Kanon der alltäglichen Praxis.
Rockmusik
In der Rockmusik wird das Intervall der Quarte besonders in der Bildung eines Songgerüstes durch Riffs und Powerchords durch offene Quinten und Quarten anstelle der Dreiklangsharmonik relevant.
Im Bereich des Funk sind synkopierte von Gitarren, Keyboards oder der Bläsersektion vorgetragene Einwürfe in Quarten ein beliebtes Stilmittel. Ein Beispiel hierfür ist folgendes Riff aus dem Titel Flashlight (Hörbeispiel) von George Clintons Band Parliament aus dem Jahr 1977. Im Hardrock und Heavy Metal bauen oft ganze Songs auf von der E-Gitarre aus Quinten und Quarten gebildeten Riffs auf.
So spielt der Gitarrist Ritchie Blackmore auf dem Titel Man on the Silver Mountain (Hörbeispiel) seiner Band Rainbow aus dem Jahr 1975 folgendes auf Quarten aufgebaute Riff. Ein Grund für die Bevorzugung von Quartintervallen in der Rockmusik ist dabei sicher darin zu sehen, dass dies Intervall auf dem im Quartabstand gestimmten "Hauptinstrument der Rockmusik", der Gitarre, relativ einfach zu greifen sind.
Die Bands des sogenannten Progressive Rock wie King Crimson, Gentle Giant oder Emerson, Lake & Palmer zeigen ebenfalls eine Vorliebe für Melodik, Harmonik sowie Ostinati auf Quartenbasis. So beruhen einige Titel von Emerson, Lake & Palmer, wie zum Beispiel der Anfang von Tarkus (Eruption) (Hörbeispiel) auf Bassostinati. In diesem Fall auf der vierstufigen über F errichteten Quartfolge F - Bb - Eb - Bb - Ab - Eb - Bb) sowie der dreistufigen einen Halbton höher auf F# aufbauenden Folge E - B - F#.
Einen Rückgriff auf vorklassische Kompositionsprinzipien macht Gentle Giant in ihrem zu Beginn a capella gehaltenen Titel Design (Hörbeispiel). Über zwei wechselnden mit Unterquartkoppelung versehenen vierstimmigen vom Quartintervall dominierten Akkorden (F - Bb - D - Ab und D - G - C - E) setzen drei Singstimmen nacheinander kanonisch imitierend ein. Hierbei werden herbe Quartklänge zwischen den drei Oberstimmen bewusst in Kauf genommen.
Die angeführten Beispiele sollen jedoch nicht über den Sachverhalt hinwegtäuschen, dass in der überwiegenden Mehrzahl der Musikstücke in Rock und Pop-Musik, und ganz besonders in der massenkompatiblen und kommerziell erfolgreichen, eine klare Dur-moll-Tonalität mit einfachen, manchmal um Septime und None erweiterten, Dreiklängen vorherrscht. Der Quarte kommt dabei meist nur die Rolle in einem Quartvorhaltsakkord, wie in der Rock-Ballade Burn Down the Mission (Hörbeispiel) von Elton John, zu.
Literatur
- Diether de la Motte: Harmonielehre, dtv, München 1997 (10. Auflage) Erstauflage 1976, ISBN 3-423-04183-8
- Zsolt Gardonyi und Hubert Nordhoff: Harmonik, Karl Heinrich Möseler Verlag, Wolfenbüttel Neuausgabe 2002 (Erstdruck 1990), ISBN ISBN 3-7877-3035-4
- Rudolf Flotzinger: Perotinus musicus, Scott, Mainz 2000, ISBN 3-7957-0431-6
- Claus Ganter: Kontrapunkt für Musiker - Gestaltungsprinzipien der Vokal- und Instrumentalpolyphonie des 16. und 17. Jahrhunderts in der Kompositionspraxis von Josquin-Desprez, Palestrina, Lasso, Froberger, Pachelbel u.a., Verlag Katzbichler, München - Salzburg 1994, ISBN: 3-87397-130-5
- Peter Niedermüller: "Contrapunto" und "effetto" - Studien zu den Madrigalen Carlo Gesualdos, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2001, ISBN 3-5252-7908-6
- Ekkehard Kreft: Harmonische Prozesse im Wandel der Epochen (3.Teil) Das 20. Jahrhundert, Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-631-47141-6
- Zsolt Gardonyi und Siegfried Mauser: Virtuosität und Avantgarde - Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Schott, Mainz 1988, ISBN 3-7957-1797-3
- Theodor Helm: Beethovens Streichquartette: Versuch einer technischen Analyse dieser Werke im Zusammenhange mit ihrem geistigen Gehalt, M. Sändig, Wiesbaden 1971, ISBN: 3-500-23600-6
- Gottfried Eberle: Zwischen Tonalität und Atonalität - Studie zur Harmonik Alexander Skrjabins, Musikverlag Emil Katzbichler, München Salzburg 1978, ISBN 3-87397-044-9
- Hermann Danuser; Amerikanische Musik seit Charles Ives, Laaber 1987, ISBN 3-89007-117-1
- Wolf Burbat: Die Harmonik des Jazz, dtv Bärenreiter, ISBN 3-4230140-6
Weblinks
- Klang und Struktur - Debussy und die Französische Musik um 1900
- Witold Lutoslawski - Zwölfton-Harmonik, Formbildung, "aleatorischer Kontrapunkt"
- Über Debussys Études
- Über Quartenstrukturen bei Ives, Schönberg und Skriabin
- Modale Kompositionstechnik bei Olivier Messiaen am Beispiel ausgewählter Abschnitte aus "La Nativité du Seigneur"
- Quartenstrukturen in Hans Eislers Hollywood-Elegien
- Quartenakkorde in den Etüden von Leo Brouwer
- Quartenakkorde in Bela Bartoks Zyklus "Im Freien"
- Einführung in Arnold Schönbergs Kammersymphonie für fünfzehn Soloinstrumente op. 9
- Modalität und Kontrapunkt in Frescobaldis Toccata cromaticha