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Frühe Shakespeare-Editionen

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Nicholas Rowe, der Herausgeber der ersten Shakespeare-Gesamtausgabe von 1709

Mit dem Begriff Frühe Shakespeare-Editionen werden die Gesamtausgaben der Werke Shakespeares zwischen 1709 und 1821 bezeichnet. Diese Epoche beginnt mit der ersten Edition von Nicholas Rowe und endet mit der posthumen Herausgabe der 21-bändigen Variorum-Ausgabe von Edmund Malone. Sie bilden die Grundlage aller modernen Ausgaben.

Einleitung

Die ersten Herausgeber der Gesamtausgaben der Werke Shakespeares, beginnend mit Rowe im Jahre 1709 legten ihren Ausgaben die First Folio in der vierten Auflage von 1685 zugrunde und gingen davon aus, dies sei der qualitativ beste Text. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese Annahme in Frage gestellt. Edward Capell beschrieb im Vorwort seiner Edition von 1767/68 seine Entdeckung, dass die Herausgeber der First Folio ihren Texten teilweise Quartoausgaben minderer Qualität zugrunde gelegt hätten. Dies widersprach der Selbstbeschreibung der Arbeitsweise von Heminges und Condell, sie hätten mit ihrer Edition die bislang verbreiteten Quartoausgaben mit fragwürdiger Qualität in allen Fällen durch die Verwendung authentischer Manuskripte ersetzt. Konsequenterweise erklärte Edmond Malone in seiner Edition von 1790, dass man bei der Herausgabe von Shakespeares Dramen die ältesten erhaltenen Texte bevorzugen solle. Dieses Editionsprinzip (wähle den ältesten Text), gewissermaßen das „Capell-Malone-Paradigma“ der Shakespeare-Forschung, beherrschte die Editionspraxis für nahezu 150 Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war geprägt von einer tief sitzenden Skepsis gegenüber dem Wert der First Folio.[1]

Somit ergeben sich in der Editionspraxis der Shakespeare-Ausgaben folgende Epochen:

  • 17. Jahrhundert: Reprints der First Folio bis 1685 und Reprints der Quartos bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts
  • 18. Jahrhundert: Rowe bis Johnson, die klassischen (von einander abhängigen) Editionen auf der Basis der vierten Folio-Ausgabe
  • 18./19. Jahrhundert: Von Capell und Malone bis Pollard reicht die Epoche der quartobasierten Editionen mit dem Versuch, den ursprünglichen Text anhand der ältesten Drucke wiederherzustellen. In der Mitte des 19. Jahrhundert erscheint mit dem Furness-Variorum (1871-1912) die letzte Edition aus einer Hand. Die erste Cambridge-Shakespeare-Ausgabe (1863-66) ist die erste Edition eines akademischen Autorenkollektivs.
  • 20. Jahrhundert: die Rehabilitation der First Folio durch Pollard und der Beginn der New Bibliography mit W.W. Gregg.

Die klassischen Editionen im 18. Jahrhundert

Nicholas Rowe

Rowes Ausgabe von 1709 ist textlich gesehen ein Reprint der vierten Folio von 1685 in einem handlichen mehrbändigen Quarto-Format.[2] Er machte (in Kenntnis von deren Existenz) keinen Gebrauch der ersten Folioausgabe oder der frühen Quartos. Er modernisierte Aussprache, Zeichensetzung und Grammatik des Textes, verfasste zu jedem Stück eine "dramatis personae"-Liste (eine Aufzählung der handelnden Figuren), vervollständige die Akt-Einteilungen und korrigierte systematisch alle Bühnenanweisungen ("entrance" und "exit"). Er korrigierte fehlerhafte Schreibweisen und beseitigte falsche Zeilenumbrüche ("mislineations"), etwa in Fällen, in denen Verse als Prosa gesetzt wurden. Er verfasste in der Einleitung seiner Ausgabe die erste Biographie Shakespeares.[3]

Alexander Pope

Alexander Popes Edition von 1723 basiert auf der von Rowe.[4] Allerdings schied er aus seiner Ausgabe alle sogenannten Shakespeare-Apogryphen aus, die in der dritten Folioversion von 1664 aufgenommen wurden und stellte als erster Vergleiche mit den ihm zugänglichen Quarto-Ausgaben an. Er verbesserte die von Rowe begonnenen Korrekturen fehlerhafter Zeilenumbrüche. Seine Wiederherstellungen ("relineation") waren fast vollständig und wurden von allen modernen Herausgebern bis auf den heutigen Tag übernommen. Er war aber auch der Meinung, Shakespeare hätte als Dichter den ästhetischen Prinzipien des 18. Jahrhunderts zugestimmt und schrieb alle Abweichungen davon Schriftsetzern und Druckern zu. Im Ergebnis bereinigte er den Text im Sinne des Geschmacks seiner Zeit. Seine Edition gilt als in Teilen "anhand ästhetischer Kriterien konstruiert". Er hob "shining passages" durch Markierungen hervor und verbannte nach seiner Meinung schlechte Textstellen in Fußnoten. Das Vorwort seiner Ausgabe gilt als ein einflussreiches Zeugnis der Literaturkritik seiner Zeit.[5]

Lewis Theobald

Lewis Theobalds Ausgabe von 1733 basiert einerseits auf dem Text von Pope und ist andererseits eine kritische Reaktion auf die Pope'sche Edition.[6] Er verfasste zunächst 1726 eine sarkastische Kritik an Pope unter dem Titel Shakespeare restored ("Shakespeare wiederhergestellt").[7] Pope antwortete mit einer brillianten Entgegnung, dem Spottgedicht The Dunciad.[8] Theobald gilt als der erste Herausgeber, der die zuvor bei klassischen Texten und der Bibel entwickelten Methoden im Falle Shakespeares angewendet hat. Er lehnte willkürliche Eingriffe in den Text ausdrücklich ab und klagte die Autorität der frühen Drucke ("older copies") ein. In Fällen, in denen der Text unrettbar zerstört erscheint, sollen Wiederherstellungsversuche auf "Vernunft oder Autorität" beruhen. Trotz der eleganten Antwort Popes war Theobalds Edition erfolgreich: Sie wurde im 18. Jahrhundert siebenmal wiederaufgelegt und fast alle späteren Herausgeber haben Theobalds Urteile in Editionsfragen gewürdigt.[9] Zeitgenössische Autoren nennen ihn daher "the first Shakespeare scholar".[10]

Thomas Hanmer und William Warburton

Die Ausgabe von Thomas Hanmer aus dem Jahre 1744[11] basiert auf dem Text von Theobald. Sie hat unter Gelehrten kein hohes Ansehen.[12] Sie gilt trotz einiger treffender Korrekturen als lediglich dekorative Luxusausgabe ohne wissenschaftlichen Wert. William Warburton veröffentlichte 1747 seine Edition ebenso wie Hanmer unter Bezugnahme auf Theobald.[13] Heute wird seine Ausgabe als wenig originell angesehen, er gilt als uneinsichtig ("obtuse") und seine Interpretationen als willkürlich.[14] Wells und Taylor erklären, er habe nur den Müll ("detritus") seiner Zusammenarbeit mit Theobald veröffentlicht und sein Ansehen wäre höher, wenn er gar nichts geschrieben hätte.[15] Als Reaktion auf Warburtons Edition publizierte Thomas Edwards 1748 das Pamphlet Supplement to Warburton's Edition of Shakespeare. später The Canons of Criticism genannt, in dem er satirische Empfehlungen für die textkritische Arbeit gibt:

  • Ein Kritiker hat das Recht zu behaupten, ein Autor habe das geschrieben, was er hätte schreiben sollen.
  • Der Kritiker hat das Recht jeden Text zu ändern, den er nicht versteht.[16]

Die kritischen Editionen im 18. und 19. Jahrhundert

Samuel Johnson

Johnsons Shakespeare-Ausgabe von 1773

Johnson veröffentlichte seine achtbändige Edition 1765.[17] Im Urteil heutiger Wissenschaftler stellt sie keinen bedeutenden Fortschritt gegenüber den vorherigen Ausgaben dar.[18] Er genießt aber wegen seines treffsicheren Urteils hohes Ansehen und manche Gelehrte nennen ihn daher respektvoll "Dr. Johnson".[19] Dr. Johnson ist bekannt für das Vorwort seiner Auflage. Sie gilt als ein Monument der Literaturkritik, als Wendepunkt, weg von einer klassizistischen, hin zur romantischen Dramentheorie. Johnson bezeichnet Shakespeare als Dichter der Natur ("poet of nature"), die von ihm geschaffenen Charaktere seien unverfälschte Nachkommen einer gewöhnlichen Menschlichkeit ("genuine progeny of common humanity") und für uns bedeutsam, weil sie unsere tatsächlichen Erfahrungen widerspiegelten. Er lehnte die (vor allem von Voltaire in Frankreich, Thomas Rymer in England und Gottsched in Deutschland vertretene) auf Aristoteles basierende neoklassizistische Dramenkonzeption mit ihrer Forderung nach einer Einheit von Ort, Zeit und Handlung auf der Bühne ab und verteidigte Shakespeares Verstöße gegen die Prinzipien des Regeldramas ebenso, wie seine Neigung die Gattungsgrenzen zu überschreiten. Johnson erhob die Forderung nach einem historisierenden Verfahren bei der Edition: Ein Herausgeber solle sich bemühen, die Bücher zu lesen, die der Autor gelesen habe, seine Schriften sollten mit denen seiner Zeit verglichen werden und er verfocht die Ansicht, dass die erste Auflage der Folio Autorität über alle nachfolgenden haben müsse. Er ermutigte mit seinen Forderungen die nachfolgenden Herausgeber Steevens, Reed und Malone zur Arbeit an einem Variorum. Diese Ad-fontes-Haltung Johnsons bedeutete einen vollständigen Bruch mit der bisherigen Editionspraxis der Shakespeare-Ausgaben.[20]

Edward Capell

Edward Capells Ausgabe der Werke von Shakespeare aus dem Jahr 1768 bietet als Erste einen neu erarbeiteten Text und gilt als ein bemerkenswert saubere Edition.[21][22] Einige Jahre nach Veröffentlichung seiner Edition publizierte er einen Anhang (Notes and Various Readings. 1774 und 1779-83.) der den Aufsatz School of Shakespeare. enthält, indem Capell auf Parallelen zwischen den Werken Shakespeares und seinen Zeitgenossen hinweist. Capell sammelte Quartos über einen Zeitraum von dreißig Jahren.[23] Er war der erste Herausgeber, der den Wert des Stationers' Register erkannte, er benutzte Francis Meress Palladis Tamia, untersuchte Shakespeares Gebrauch von Raphael Holinshed's Chronicles, Sir Thomas North's Übersetzung von Plutarch's Parallelbiographien. und erforschte "the Origin of Shakespeare's Fabels".[24] Capell war sehr sorgfältig in seiner Arbeit. Er verbrachte Jahre damit, den Text der Dramen aus den ihm zur Verfügung stehenden Quartos abzuschreiben und diese Notizen für seine Edition zu verwenden. Seine Ausgabe war somit in der Praxis der Bruch mit der schlechten Tradition (die eigene Ausgabe auf der Vorhergehenden aufzubauen und damit Fehler und Irrtümer anzuhäufen), den Johnson theoretisch eingefordert hatte.[25]

George Steevens

Steevens veröffentlichte 1766 einen Reprint der ihm zugänglichen Quarto-Texte unter dem Titel: Twenty of the Plays of Shakespeare..[26] Einige Jahre später (1773) publizierte er die erste Auflage seiner Shakespeare-Edition.[27] Er verwendete dazu Johnsons Text und erweiterte ihn im Sinne einer Variorum-Ausgabe. 1778 besorgte er eine zweite Auflage. 1780 fügte Edmond Malone der Ausgabe von Steevens zwei Supplement-Bände hinzu. Isaac Reed überarbeitete Steevens Edition 1785 erneut und Steevens selbst besorgte 1793 eine abschließende 15-bändige Ausgabe.[28]

Edmund Malone

Titleseite von Malones Aufsatz zur Chronologie der Shakespeare-Dramen

Während Capell, der wie Malone Historiker war, die Bedeutung der alten Texte hervorhob, richtete Edmond Malone sein Augenmerk auf die zeitbedingten Umstände der Entstehung der Werke Shakespeares.[29] Er veröffentlichte 1790 die erste Ausgabe seiner Edition.[30] Vervollständigt wurde sie aber erst über 10 Jahre nach seinem Tod von James Boswell, dem Jüngeren im Jahre 1821 in Form einer 21-bändigen Ausgabe. Seine Edition war das erste wirkliche Variorum und Vorbild späterer Unternehmungen von Furness. Seine Arbeit wurde über ein halbes Jahrhundert von anderen Herausgebern fortgesetzt und in ihrer Bedeutung erst von der Cambridge-Edition von W. G. Clark, W. A. Wright und J. Glover aus 1863-66 abgelöst.[31] Malone gilt als einer der bedeutendsten Shakespeare-Gelehrten und seine Ausgabe wird von vielen als die beste des 18. Jahrhunderts angesehen. Seine Selbstverpflichtung lautete, nicht zu ruhen, bis jede Unklarheit bei der Arbeit am Text ausgeräumt sei. Er untersuchte Gerichtsakten, Testamente, Taufbücher und Reiseberichte. Er war unermüdlich darin, aussagekräftige Dokumente von fadenscheinigen Behauptungen zu unterscheiden. Er verfasste die erste Darstellung zum elisabethanischen Theater (Account to the English Stage) und die erste systematische Untersuchung zur Chronologie der Werke Shakespeares ("An attempt to ascertain the order in which the plays attributed to Shakespeare were written."). Seine detektivische Begabung half ihm auch dabei, zwei literarische Betrügereien aufzudecken: die Fälschungen von Thomas Chatterton und die von William Henry Ireland.[32]

Die Entwicklung der Editionspraxis im 20. Jahrhundert

1909 veröffentlichte Alfred W. Pollard seine erste Arbeit über das Verhältnis der Quarto- und Folioausgaben der Dramen Shakespeares, in der er zwischen „guten und schlechten Quartos“ unterschied und herausstellte, dass es nur fünf Quartos minderer Qualität gebe, nämlich die Quartoausgaben von Henry V, Merry Wives of Windsor und Pericles, sowie die die beiden Erstausgaben von Romeo and Juliet und Hamlet. Damit rehabilitierte er die Herausgeber der First Folio.[33] 1931 ergänzte Ronald Brunlees McKerrow die Überlegungen Pollards, indem er gestützt auf die Untersuchung des Manuskriptes von Sir Thomas More[34] (einem Gemeinschaftswerk von Anthony Munday, Henry Chettle, Thomas Heywood, Shakespeare und Thomas Dekker.) erklärte, dass die guten Quartos unmittelbar auf handschriftlichen Entwürfen Shakespeares beruhten.[35] Ausgehend von den Arbeiten Pollards und McKerrows entwarf W. W. Greg die Hypothese, dass die handschriftlichen Erstfassungen Shakespeares durch variable speech prefixes[36] und ungenaue stage directions[37] identifizierbar wären. Er schlug für diese Handschriften den Begriff „foul paper“ vor und unterschied sie von „theatre promptbooks“ in denen diese technischen Textbestandteile durchgehend korrigiert und präzisiert sind.[38]

Weitere Forschungen erfassten und verglichen die existierenden Ausgaben und gliederten sie in drei Gruppen: „foul paper“-Texte, „prompt book“-Texte und sogenannte „scribal transripts“.[39] Andere unterschieden die ursprüngliche Schmierfassung („rough copy“) von einer Reinschrift durch einen professionellen Kopisten („fair copy“) und einen Arbeitstext für die Schauspielertruppe, das „prompt-book“.[40] Auch die Dreiteilung in Quartos, die auf einem „foul paper manuscript“ basieren (Q2 des Hamlet von 1604/05), solchen, die auf einem „fair copy transcript“ basieren (Q1 des Othello von 1622) und sogenannte „reported texts“ (Q1 des Hamlet von 1603) ist üblich.[41] Die ausführlichste Unterscheidung treffen die Autoren des Textual Companion. Sie definieren für jedes Stück einen Kontrolltext und ordnen ihm einen zugrundeliegenden Handschriftentyp zu (underlying copy).[42] Diese Rekonstruktionen waren die Ausgangsbasis für ein optimistisches Forschungsprogramm, dass George Walton Williams 1971 so zusammengefasst hat: Da keines der Manuskripte mehr existiert und die frühen Drucke die einzigen materiellen Zeugen sind, besteht die zentrale Aufgabe der Editoren darin, die Einflüsse und Veränderungen, die die Manuskripte durch die Arbeit der Schriftsetzer erfahren hatten zu untersuchen. Eine vollständige Analyse aller Texte in Bezug auf diesen Prozess müsste es ermöglichen, die ursprünglichen Manuskripte wiederherzustellen.[43]

Im Zuge dieses Forschungsprogrammes (compositor study, new bibliographical paradigm oder kurz New Bibliography genannt) wurden umfangreiche Untersuchungen durchgeführt. Die vollständige Erfassung aller Quartos, eine umfassende Rekonstruktion der First Folio und ein systematischer Vergleich dieser Texte erfolgte in der erklärten Absicht, den jeweils besten Text wiederherzustellen. Dass dieses Programm gescheitert war, wurde schon um 1980 von Gelehrten eingestanden. Es scheiterte an zwei Gruppen von Stücken. Dabei handelt es sich einmal um die Folioversionen von 2 Henry VI, 3 Henry VI, Henry V. Bei diesen drei Texten ergab es sich, dass die sog „bad Quartos“ von 1594, 1595 und 1600 einen Einfluss auf die Folioversion haben und das Quarto von Richard III von 1597 wurde als „memorial reconstructed ‘bad quarto’“ neu klassifiziert. Noch größer sind die Schwierigkeiten bei den Stücken Troilus and Cressida, 2 Henry IV, Hamlet, Othello und King Lear. In diesen fünf Fällen wurde deutlich, dass sie in zwei unterschiedlichen Versionen existieren. Damit erwies sich die Vorstellung eines finally definitive text als Illusion. Die schon 1965 von E. A. J. Honigmann geäußerte Vermutung, dass die Theorie eines einzigen Manuskriptes unangemessen sein könnte, wurde von Stanley Wells 1983 zustimmend kommentiert. Das Konzept der ultimativen Textversion wurde so um die Vorstellung der multiplen Textversionen ergänzt und zur gleichen Zeit erklärte Stephen Orgel, die Annahme the correct text is the authors manuscript sei schlicht falsch, denn Shakespeares Texte seien das Produkt gemeinsamer Arbeit mehrerer Autoren und tatsächlich nicht Besitz des Autors, sondern der Schauspielgruppe gewesen.[44] Schließlich legten William B. Long und Paul Werstine anhand von Manuskriptanalysen die Vermutung nahe, dass Gregs Unterscheidung von foul paper und promptbook empirisch nicht haltbar sei, da man zeigen könne, dass der bookkeeper bei Herstellung des promptbooks tatsächlich kaum regulierend in die speech prefixes und stage directions eingegriffen habe. Zusammen mit neuen Untersuchungen zur Praxis des Buchdruckes war damit der „New Bibliography“ die Faktenbasis entzogen.[45]

Bislang ist trotz seiner offensichtlichen Defizite kein neues Editionskonzept an die Stelle der New Bibliography getreten. Auch die jüngsten wissenschaftlichen Textausgaben verwenden weiter die von Greg eingeführte Terminologie. Dies ist allerdings nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass gemäß der Kuhnschen Beschreibung Paradigmen nicht aufgegeben, sondern abgelöst werden. Die gegenwärtigen Entwicklungen der Editionspraxis reichen von der Überlegung, Texte im Kontext der Aufführungsgeschichte zu betrachten,[46] Untersuchungen zur Unterscheidung von Leseversionen und Spieltexten anzustellen[47] und Vorstellungen über die Unbestimmtheit von Texten.[48] In den jüngsten Ausgaben zeigt sich einerseits die Tendenz zum „unediting“, der Empfehlung, fotografische Faksimiles der frühen Quartos und der First Folio mit all ihren Fehlern zu lesen[49] und die Forderung, Texte anzubieten, die auch für ein breites Publikum zugänglich sind.[50] Die in der dritten Ardenausgabe des Hamlet realisierte Praxis, minimal korrigierte Leseversionen aller drei frühen Shakespearetexte anzubieten, erscheint hierbei als Kompromiss, der beiden Anforderungen gerecht werden will.

Literatur

Einzelnachweise

  1. Barbara A. Mowat: The reproduction of Shakespeare’s texts. in: Grazia Cambridge Companion. S. 13-29.
  2. Nicholas Rowe: The Works of Mr. William Shakespeare. 6 Vol. London 1709. Vorwort.
  3. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 53f.
  4. Alexander Pope: The Works of Mr. William Shakespeare. 6 Vol. London 1723-25. Vorwort.
  5. Dobson Oxford Companion. Artikel Alexander Pope. S. 350.
  6. Lewis Theobald: The Works of Mr. William Shakespeare. 7 Vol. London 1733. Vorwort.
  7. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 54. Die Angabe in TxC "1728" als Abfassungsjahr der Schrift ist falsch: EB-Artikel. und: Dobson Oxford Companion. Artikel Lewis Theobald. S. 469.
  8. Text von "The Dunciad" auf Bartleyby.
  9. Dobson Oxford Companion. Artikel Lewis Theobald. S. 469.
  10. Halliday. Shakespeare Companion 1564-1964. 1964. Artikel: Editors of Shakespeare. S. 148.
  11. Sir Thomas Hanmer, 4th Baronet: The Works of Shakespeare. 6 Vol. Oxford 1743-44.
  12. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 53f. "Hanmer's edition ... was one of the worst in the eighteenth century."
  13. William Warburton: The Works of Shakespeare. 8 Vol. London 1747.
  14. Dobson Oxford Companion. Artikel: William Warburton. S. 516.
  15. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 54.
  16. Wells and Taylor. Textual Companion. S. 54.
  17. Samuel Johnson: The Plays of William Shakespeare. 8 Vol. London 1765. Vorwort.
  18. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 55.
  19. Harold Bloom. Shakespeare. S. 338: "Ich verehre Johnson und insbesondere den Shakespeare-Interpreten Johnson zutiefst..."
  20. Dobson Oxford Companion. Artikel Samuel Johnson. S. 225.
  21. Edward Capell: Mr. William Shakespeare. His Comedies, Histories, and Tragedies. 10 Vol. London 1767-68.
  22. Dobson Oxford Companion. Artikel Edward Capell. S. 66.
  23. Er vermachte seine Sammlung nach seinem Tod dem Trinity College, Cambridge. Halliday: A Shakespeare Companion 1564-1964. Artikel Edward Capell. S. 82.
  24. Halliday: A Shakespeare Companion 1564-1964. Artikel: Editors of Shakespeare. S. 148.
  25. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 55.
  26. Dobson Oxford Companion. Artikel George Steevens. von Marcus Walsh. S. 449.
  27. George Steevens: The Plays of William Shakespeare. 10 Vol. London 1773.
  28. F. E. Halliday: A Shakespeare Companion 1564-1964. Artikel George Steevens. S. 474.
  29. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 55.
  30. Edmond Malone: The Plays and Poems of William Shakespeare. 10 Vol. London 1790.
  31. Stanley Wells und Gary Taylor. Textual Companion. S. 55f.
  32. Dobson Oxford Companion. Artikel Edmund Malone. S. 277.
  33. Grazia Cambridge Companion. S. 19.
  34. Alfred W. Pollard, W.W. Greg, E. Maunde Thompson, J. Dover Wilson, and R.W. Chambers: Shakespeares Hand in the Play of Sir Thomas More. CUP 1923.
  35. Barbara A. Mowat: The reproduction of Shakespeare’s texts. in: Grazia Cambridge Companion. S. 20. Ronald Brunlees McKerrow: The Elisabethan Printer and Dramatic Manuscripts. in: The Library, Fourth series, vol. 1–26 (1920–1946), 12:3 (1931) S. 253-275.
  36. Mit dem Begriff „speech prefixes“ werden die meist abgekürzten Namen des jeweiligen Sprechers bezeichnet.
  37. Mit dem Begriff „stage directions“ werden die Anweisungen zum Auftritt (enter) und Abgang (exit, exuent) eines Schauspielers bezeichnet.
  38. Grazia Cambridge Companion. S. 20.
  39. Grazia Cambridge Companion. S. 21. Fredson Bowers: „Today’s Shakespeares Texts, and Tomorrow’s“. In: Studies in Bibliography 19 (1966) 39-65. Dort S. 58.
  40. Suerbaum Dramen. S. 301.
  41. Dobson Oxford Companion. S. 361.
  42. TxC. S. 145-147. (tabellarische Zusammenfassung)
  43. Grazia Cambridge Companion. S. 21.
  44. Grazia Cambridge Companion. S. 23.
  45. Grazia Cambridge Companion. S. 21.
  46. Stephen Orgel. What is a Text? in: Research Opportunities in Renaissance Drama 24 (1981), 3-6.
  47. Richard Dutton: The Birth of the Author. 1997.
  48. Marion Trousdale: Diachronic and Synchronic. Critical Bibliography and the Acting of Plays. 1987.
  49. Dobson Oxford Companion. S. 122.
  50. William Shakespeare: King Richard III. The Arden Shakespeare. Third Series. Edited by James R. Siemon. 2009. S. 422.