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Überfremdung

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Überfremdung ist ein Begriff, der Ausländer als "Fremde" und ihre Zuwanderung als überproportional für Inländer kennzeichnet. Er knüpft an ein subjektives Gefühl der Bedrohung einer Bevölkerungsgruppe durch eine relative Bedeutungszunahme einer anderen Gruppe an und unterstellt, dass die ins Land kommenden Menschen die Entwicklung der "eigenen" Kultur dominieren, beeinträchtigen und negativ beeinflussen.

Der Begriff stammt aus der Ideologie rechter und rechtsextremer Gruppen und Parteien in den deutschsprachigen Ländern. Er wird ähnlich wie "Asylmissbrauch" oder "Ausländerschwemme" häufig in tagespolitischen Auseinandersetzungen um Fragen der Einwanderungs-, Integrations- und Asylpolitik etablierter Parteien verwendet und kennzeichnet eine fremdenfeindliche Haltung.

Entstehung des Begriffs und seine Kontinuität

Der Begriff entstand in der deutschsprachigen völkischen Bewegung.

„Überfremdung“ als ein Konzept in den Geisteswissenschaften

In der Volkstumsforschung, insbesondere in der Ostforschung und in der Volks- und Kulturbodenforschung, wurde der Begriff „Überfremdung“ in den 1920er Jahren versucht zu verwissenschaftlichen. Diese Wissenschaft verstand sich dem „Deutschtum“ verpflichtet, als „kämpfende Wissenschaft“. Mit „Überfremdung“ wurden Prozesse der Integration und der Assimilierung als „Gefahr“ der „Umvolkung“ deutscher „Volksgruppen“ beschrieben. Abgeleitet wurden daraus geopolitische und ethnozentristische Konzepte. So wurde gefordert, dass sich Nationalgrenzen nicht nach ihrer historischen Entstehung bilden, sondern nachdem Konzept des Volkstums. Ideologisierend wissenschaftlich und politisch wurden dazu Konzepte wie „Volksgruppe“ und „Volksgemeinschaft“, „Lebensraum“, „Kulturraum“, „Brauchtum“ oder „Gesittung“ entwickelt, die jeweils vor „Überfremdung“ geschützt werden sollten.

Die Kontinuitäten in der Methodik, den Biographien der Wissenschaftler und dem Vokabular der Wissenschaft lassen sich von der Völkischen Bewegung der Zwischenkriegszeit über den Nationalsozialismus bis nach 1945 bis heute nachweisen. Eine Umformung einzelner durch den NS-Verbrechen besonders diskreditierter Begrifflichkeiten verhinderte nicht die Tradierung und Transformatione von Konzepten und Paradigemen. Seit den 1990er-Jahren werden diese Kontinuitäten erstmals in Teilen der betroffenen Wissenschaften selbst und in der kritischen Aufarbeitung deutscher Wissenschaftsgeschichte Gegenstand von Untersuchungen.

So analysierte Frank-Rutger Hausmann 1999 erstmals in seinem Buch „'Deutsche Geisteswissenschaft' im Zweiten Weltkrieg – Die 'Aktion Ritterbusch' (1940-1945)“, die Verbindungen der NS-Volkstumsforschung zu den Forschungen in der Zwischenkriegszeit, zu den NS-Ideologemen und der Verwendung ihrer Semantik, die interdisziplinären und mit dem politischen Ideologien verbundenen Merkmale eines "Gemeinschaftswerks", die Abwehr der Wissenschaftler nach dem Krieg, ihren durchdringenden Einfluss auf die bundesrepublikanische Wissenschaften und ihre Versuche, die eigenen Arbeiten von dem Nationalsozialismus zu trennen.

Als politisches Schlagwort in fremdenfeindlichen Debatten

In der politischen Diskussion in Deutschland tauchte der Begriff unter anderem in der Unterzeichnerversion des rassistischen Heidelberger Manifests vom 17. Juni 1981 auf. In einem "Aufruf an alle Deutschen zur Notwehr gegen die Überfremdung" haben sich 1998 intellektuelle Rechtsextremisten wie Helmut Schröcke bemüht, die "Überfremdung" als eine schwere Gefahr für die Gesellschaft darzustellen. Diese vielfach verbreitete Hetzschrift zeichnete sich besonders durch einen verschärften Antisemitismus aus. Hier wurden "alle volkstreuen Deutschen zur Notwehr auf gegen den von der Staatsführung amtlich geplanten und mit brutalen Methoden durchgeführten Völkermord am deutschen Volk" aufgerufen und aufgefordert, "den Rechtsanspruch Fremder auf Asyl sofort auszuschließen", "allen Deutschen von jetzt an die uneingeschränkte Freiheit der Gesinnung, Meinung und der Meinungsäußerung zu gewähren" und die Zuwanderung osteuropäischer Juden zu stoppen. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren des Bundeskriminalamts (BKA) gegen die 65 Unterzeichner wegen Volksverhetzung eingeleitet, das 1999 jedoch eingestellt wurde.

Rechte Agitatoren verzeichnen Erfolge mit dem Propagandabegriff "Überfremdung". Bestimmte fremdenfeindliche Redewendung bedienen verbreitete Ressentiments und finden eine breite Aufnahme bis hin in die bürgerlichen Parteien wie die CDU, z.B: Das Boot ist voll.


Schweiz

Geprägt wurde der Begriff schon in den 1920er Jahren in der Schweiz. Dort ist der Ausländeranteil traditionell sehr hoch; dies auch aufgrund der Gesetzgebung, die die Einbürgerung von Ausländern erschwert. Seither gehört der Begriff in der Schweiz zum politischen Diskurs; 1961 wurde als politische Partei die Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat gegründet, die sich die drastische Verringerung des Ausländeranteils zum Programm gemacht hatte und deren "Überfremdungs"-Initiativen in den 1970er Jahren beträchtlichen Zuspruch erhielten.

Überfremdungsdiskurs in der Schweiz

Der Überfremdungsbegriff entspricht einer spezifisch schweizerischen Begriffsbildung. Es ist ein eigentliches Schlüsselwort für die Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Als ideologisches Konstrukt wurde die Vorstellung zum eigentlichen kulturellen Code (Shulamit Volkov) in der Schweiz. Der Begriff bleibt diffus und unbestimmt. Genau dadurch erreicht er eine sehr breite Zustimmung und stellt so ein grosses geistiges Integrationspotential dar. Die Angst vor Überfremdung ist ein Krisenphänomen und hängt stark mit Identitätskrisen der Schweizer Gesellschaft zusammen. In Phasen sozialer Krisen sind Identitätsdebatten sehr wichtig, dabei wird automatisch Fremdes von Eigenem abgegrenzt.

Die Anfänge des Überfremdungsdiskurses in der Schweiz liegen in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und früher, als die Ausländerzahlen aufgrund der Wirtschaftsentwicklung rasant auf ca. 15% stiegen. Als erstes thematisierte die politische Elite die drohende Gefahr der Überfremdung. Sie richtete sich zunächst gegen das deutsche Sendungsbewusstsein. Die öffentliche Diskussion in der Bevölkerung war allerdings in den Nachkriegsjahren am grössten, als die Ausländerzahlen bereits markant am Sinken waren. Oft gibt es zwischen der empfundenen Angst vor Überfremdung und tatsächlichen Ausländerzahlen keinen direkten Zusammenhang. Der Erste Weltkrieg markiert die Zäsur von einer liberalen zu einer restriktiven Ausländerpolitik der Schweiz. 1914 ergriff das EDA (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten) Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz durch Ausländer. 1917 wurde das Zentralbüro der Fremdenpolizei eingerichtet. In der Wirtschaftskrise der 30er Jahre erlebte der Überfremdungsdiskurs eine neue Blüte. Das Thema Überfremdung war Teil des offiziellen Diskurses der Schweizer Behörden. Ein neuer Konservativismus hatte sich durchgesetzt. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg waren die Überfremdungsangst und die geistige Landesverteidigung kulturelle Codes. Die geistig-kulturelle Überfremdungsangst, die Angst vor dem Fremden, schützte bis zu einem gewissen Grad auch vor Weltbildern wie dem Nationalsozialismus, dem Faschismus und dem Bolschewismus.

Gegenüber den Juden nahmen die Schweizer eine ambivalente Haltung ein. Sie unterschieden zwischen Schweizer Juden und sogenannten Ostjuden. Während man die Schweizer Juden mehr oder weniger akzeptierte, hatte man gegen die Ostjuden Bedenken, da sie im damaligen Verständnis als rückständig und vor allem kaum assimilierbar galten. Man glaubte, dass von den Ostjuden die grösste Überfremdungsgefahr ausgehen würde. Diese Einstellung teilten die Schweizer Behörden. Die Fremdenpolizei befürwortete die Zuwanderung von Juden aus dem Osten (z.B. Polen, Galizien) nicht. 1926 erschien eine Richtlinie in diesem Sinne. 1938 wurde auf Schweizer Initiative hin der Judenstempel eingeführt.

In den 30er und 40er Jahre findet der Begriff "Jude" immer weniger Verwendung, man sprach allgemeiner vom "Fremden". Angesichts der Geschehnisse in Deutschland wurde der Antisemitismus in der Schweiz tabuisiert (J. Picard). Die begriffliche Konstruktion der Überfremdung diente dazu, Juden von der Schweiz fernzuhalten, ohne dass man sie explizit nannte, und sich dabei zur NS-Ideologie bekannte. Picard nennt dies "Verschweizerung des Antisemitismus", Rieder "Prophylaktischer Antisemitismus". Diese dialektische Weise der Argumentation führte zu einer restriktiven Fremden- und Flüchtlingspolitik.

Der wirtschaftliche Aufschwung in der Schweiz in den 50er Jahren brauchte ausländische Arbeitskräfte. Nach Ende des Wirtschaftswunders mehrten sich erneut die Stimmen, die wieder von Überfremdung sprachen. Erstaunlicherweise kamen die Warnungen vor Überfremdung zuerst aus dem linken Lager und aus Gewerkschaftskreisen. Erst danach organisierten sich populistische Parteien wie die "Nationale Aktion" oder die "Schweizer Demokraten". 1964 hielt eine staatliche Studienkommission fest, die Schweiz befinde sich in einem Stadium ausgesprochener Überfremdungsgefahr. Für ausländerkritische und -feindliche Kreise war die Überfremdung bereits erreicht, sie verlangten vermehrt Abweisungspolitik. Ende der 60er Jahre machten Volksinitiativen und Debatten die Überfremdung zum Thema nationaler Politik. 1970 erfolgte die berühmte "Schwarzenbach-Initiative", 1971 erreichte die "Nationale Aktion" erhebliche Sitzgewinne an den Nationalratswahlen. Weitere Überfremdungsintiativen erreichten jeweils eine hohe Stimmbeteiligung, wurden aber alle abgelehnt. Der Diskurs über die geistige Landesverteidigung der 30er und 40er Jahre wurde weitergeführt und zum Problem der Integration umgebaut. Man diskutierte nun über Schweizertum und Geschichts- und Staatsmythen. Die nationale Eigenart wurde als wichtigste Grundlage der staatlichen Eigenständigkeit und Demokratie genannt. Hinzu kam ethnopluralistisches Denken: Die Assimilation von fremden Kulturkreisen gelinge im allgemeinen nicht.

Auch in den 80er Jahren blieb Überfremdung ein Schlagwort. Der Schwerpunkt verschob sich nun aber von der Ausländerpolitik auf die Asylpolitik. Die ökonomische Krise führte zu neuen Unterscheidungen zwischen echten und unechten, zwischen wirtschaftlichen und politischen Asylanten. Der Überfremdungsdiskurs erstreckte sich auf vier konkrete Dimensionen: 1. demographische Einwanderung und Überlagerung, 2. Belastung des Ökosystems, 3. gesellschaftliche Wertekrise, 4. Verlust der politischen Eigenständigkeit. Angst wurde geschürt vor der demographischen Überlagerung durch unkontrollierte Einwanderung sowie vor dem drohenden Aussterben der Schweizer. Dies verband sich mit der Umwelt- und Lebensraumproblematik Ende der 80er Jahre. Schliesslich wurde auch die Wertekrise auf die Überfremdung zurückgeführt, und populistische Kreise prophezeiten den Verlust der nationalen Souveränität durch EU- oder UNO-Beitritt.

In jüngster Zeit ist zu beobachten, dass von populistischer Seite zunehmend der religiöse Aspekt in die Ausländer- und Asylpolitik-Debatte hineingetragen wird. (Beispielsweise suggeriert eine Plakatkampagne, dass Schweizer von Moslems als zweitgrösster Religionsgemeinschaft überlagert werden könnten.)

Überfremdung in der Subjektkonstruktion

In der Geschichte von der Antike über das im Mittelalter bis in die frühe Neuzeit hinein galt der „Fremde“ als das „unbekannte Wesen“. Erst in der Moderne und der Entwicklung von Nationalstaaten wurde der oder die „Fremde“ ideologisiert. Vorstellungen von „Überfremdung“ sind durch Ideologien wie Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Autoritarismus auch heute in weiten Teilen der Gesellschaft virulent und prägen hier die Bildung der eigenen Identität der einzelnen Menschen, des so genannten Subjekts. Das Subjekt, dass sich seine Identität aus fremdenfeindlichen Ideologemen, wie das der "Überfremdung", bildet, wird dieses Gefühl je nach der eigenen Überzeugtheit als real beschreiben. Ein rassifiziertes Subjekt teilt seine Mitmenschen in „Bevölkerungsgruppen“ ein und verbindet sich und „die Anderen“ mit wesenhaften Merkmalen, die von Verwandtschaftsbeziehungen bis hin zu religiösen und kulturellen Gewohnheiten reichen. Mit der Feststellung von essentiellen Eigen- und Fremdmerkmalen geht auch die Zuordnung von eigenen und fremden Lebensräumen einher. Durch diese Vorstellung von wesenhaften eigenen und fremden Gruppen und ihren „Lebensräumen“ kann das Subjekt verschiedenste gesellschaftliche Veränderung - wie z.B. Wanderungsbewegungen - in seiner Weltsicht unabhängig ihrer empirischen Messbarkeit in ein Szenarium der Bedrohung verwandeln und es als solches wahrnehmen.

Umfrage

Eine repräsentative Umfrage im Auftrag der Universität Leipzig im September/Oktober 2004 ergab, dass 38 Prozent der Deutschen, gleichermaßen in Ost und West, der Aussage zustimmten:

Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet. (Quelle: Decker/Brähler, siehe Weblinks)


Siehe auch

Literatur

  • Frank-Rutger Hausmann: 'Deutsche Geisteswissenschaft' im Zweiten Weltkrieg – Die 'Aktion Ritterbusch' (1940-1945), Dresden 1999.
  • Angelika Magiros: Kritik der Identität. "Bio-Macht" und "Dialektik der Aufklärung". Zur Analyse (post-)moderner Fremdenfeindlichkeit - Werkzeuge gegen Fremdenabwehr und (Neo-)Rassismus. 2004. ISBN 3-89771-734-4
  • Alfred Schobert, Siegfried Jäger (Hg.) (2004). Mythos Identität. Fiktion mit Folgen. ISBN 3-89771-735-2
  • Heiko Kauffmann, Helmut Kellershohn, Jobst Paul (Hg.): Völkische Bande. Dekadenz und Wiedergeburt – Analysen rechter Ideologie. Münster, 2005. ISBN 3-89771-737-9
  • jour fixe initiative berlin (Hg.): Wie wird man fremd? ISBN 3-89771-405-1
  • Roger Griffin: International Fascism: Theories, Causes, and the New Consensus, (Arnold, 1998)

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