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Else Ury

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Else Ury

Else Ury (* 1. November 1877 in Berlin; † kurz nach dem 12. Januar 1943 im Konzentrationslager Auschwitz) war eine deutsche Schriftstellerin und Kinderbuchautorin.

Else Ury war die Schöpferin der Romanfigur Nesthäkchen. Die in der Zeit der Weimarer Republik bekannte und beliebte Kinderbuchautorin wurde als Jüdin unter dem Regime der Nationalsozialisten entrechtet, deportiert und in Auschwitz ermordet.

Leben

Jugend

Else Ury war das dritte Kind des Berliner Tabakfabrikanten Emil Ury und seiner Frau Franziska. Die älteren Brüder Ludwig und Hans studierten und ergriffen Berufe als Rechtsanwalt bzw. als Arzt. Für Else und ihre jüngere Schwester Käthe bildete die zehnte Klasse auf dem Lyzeum – wie üblich für Mädchen ihrer Zeit – den Abschluss ihrer Ausbildung. Sie erlernte keinen Beruf, sondern lebte weiter bei ihren Eltern. Im Jahr 1900 veröffentlichte Ury erste Texte, Reiseberichte und Märchen in der Vossischen Zeitung unter einem Pseudonym. 1905 erschien ihr erstes Buch "Was das Sonntagskind erlauscht". 1906 schrieb sie den Roman "Studierte Mädel", ein für ihre Zeit ungewöhnliches Buch, in dem Ury – zum ersten, aber auch zum einzigen Mal – deutlich machte, dass eine akademische Ausbildung für Mädchen kein Hindernis für Eheglück und Familie sein muss. In ihren späteren Veröffentlichungen rückte sie von dieser emanzipatorischen Haltung wieder ab. 1913 gab es für Ury die einzige öffentliche Auszeichnung: Die Jugendschriftenwarte klassifizierte ihren Märchenband "Goldblondchen" als lesenswert für Kinder der 3. Klasse. In dieser Zeit begann Ury mit der Buchreihe, mit der sie berühmt werden sollte: "Nesthäkchen".

Zeit des Erfolges

Datei:Nesthäkchen Ury.jpg
Titelseite des ersten "Nesthäkchen"-Bandes in einer Auflage der 50er Jahre

Annähernd 80 Lebensjahre umfassen die 10 "Nesthäkchen"-Bände: In "Nesthäkchen und ihre Puppen" ist die Protagonistin Annemarie Braun ein Wildfang im Vorschulalter, in "Nesthäkchen im weißen Haar" (erschienen 1925) hält Nesthäkchen ihr erstes Urenkelkind im Arm. Ury, die zeitlebens unverheiratet und kinderlos blieb, beschreibt mit dieser Kinderreihe ein Frauenleben, dessen höchste Erfüllung das Aufgehen in Ehe und Familie ist, unter Preisgabe eigener Berufsziele und Talente, die, so scheint es, Frauen den Interessen ihrer Ehemänner gern unterordnen. Einen Bruch in Annemarie Brauns sonst gleichmäßigem Lebenslauf haben viele ihrer späteren LeserInnen festgestellt, ohne ihn zu hinterfragen. Zwischen "Nesthäkchen im Kinderheim" und "Nesthäkchens Backfischzeit" klafft eine zeitliche Lücke. Der Grund: 1950 hatte der Herausgeber den 4. Band der Reihe, "Nesthäkchen und der Weltkrieg" aus dem Verlagsprogramm herausgenommen, weil Urys Beschreibung der Geschehnisse in und um den "Ersten Weltkrieg" zu wenig distanziert und nahezu kriegsverherrlichend war. Hurra-Patriotismus und Verharmlosung des Krieges finden sich auch in einigen anderen Werken Else Urys wieder, z.B. in Flüchtlingskinder (1918) und Lieb Heimatland (1919) sowie in der Erzählung Eine kleine Heldin aus dem 1914 erschienenen Erzählungsband Huschelchen.

Die Reihe "Nesthäkchen" wurde für Ury und ihren Herausgeber, dem Meidinger Verlag, der finanziell größte Erfolg. 1926 kaufte Ury im schlesischen Krummhübel (heute: Karpacz / Polen ein Feriendomizil, das sie "Haus Nesthäkchen" nannte und das ihr als Refugium zur Erholung vom Berliner Alltagsstress diente. Ihr Verlag richtete eine so genannte "Nesthäkchenpost" ein, bei der Ury die umfangreiche Fanpost beantwortete. Sie war in diesen Tagen eine geachtete Person des öffentlichen Lebens.

Zeit der Verfolgung

Als 1933 Hitler die Macht ergriff, wurde diese Tatsache von vielen, auch von in ihrer politischen Anschauung gemäßigten Menschen beklatscht. Auch Ury, die in ihrem letzten, 1933 veröffentlichten Roman "Jugend voraus" ungewohnt patriotische Töne anklingen ließ (das Buch endet mit einer Demonstration zum 1. Mai, bei der Hitler und Hindenburg anwesend sind), blieb zunächst ohne Argwohn.

Die Entrechtung der Juden im Nationalsozialistischen Deutschen Reich erfolgte schleichend. Am 6. März 1935 wurde Else Ury aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was gleichbedeutend war mit einem Berufsverbot für Schriftsteller. Ein Versuch, die "Nesthäkchen"-Reihe ins Englische zu übersetzen und nach England zu verkaufen, scheiterte 1937. Der Hintergrund hierfür war nicht antisemitisch bedingt: "Backfischromane" haben außer in Deutschland in kaum einem anderen Land Fuß gefasst und blieben unverkäuflich.

1938 wurde jüdischen Ärzten die Approbation, jüdischen Rechtsanwälten die Rechtsanwaltszulassung entzogen, letztere durften nur noch unter der Bezeichnung "Konsulenten" die Interessen von Juden vertreten. In die Reisepässe von Juden wurde ein unübersehbares J gestempelt und es wurden für sie Zwangsvornamen eingeführt: Männer hießen ab sofort mit zweitem Namen "Israel", Frauen "Sara". Einige Familienmitglieder von Else Ury emigrierten ins Ausland, sie selbst jedoch blieb. Der Grund kann nur erahnt werden, vielleicht, um ihrer über 90 Jahre alten Mutter beizustehen, vielleicht, weil die deutsche Sprache ihr nicht nur Kultur, sondern auch – zumindest ursprünglich einmal – Broterwerb bedeutete. In den Folgejahren wurden von der nationalsozialistischen Regierung weitergehende Beschränkungen erlassen: Juden durften kein Radio besitzen, Telefonanschlüsse wurden entzogen, Einkaufs- und Ausgehzeiten reglementiert, Lebensmittelrationen wurden gekürzt und in öffentlichen Verkehrsmitteln herrschte für sie Sitzplatzverbot. 1941 wurde für Juden die Pflicht zum Tragen des Judensterns an der Kleidung eingeführt. Im gleichen Jahr wurde Urys "Haus Nesthäkchen" beschlagnahmt und sie wurde zur Abgabe einer Vermögenserklärung genötigt.

Am 6. Januar 1943 wurde Else Ury der Deportationssammelstelle in der Großen Hamburger Straße 26 in Berlin zugeführt. Die Mitteilung über den Verlust ihrer deutschen Staatsbürgerschaft sowie der damit verbundenen Einziehung ihres Vermögens erreicht sie dort am 11. des Monats. Am 12. Januar 1943 wird Else Ury mit der "Welle XL" unter der Nummer 638 nach Auschwitz deportiert. Neuangekommene Häftlinge wurden bei der Aufnahme im Konzentrationslager penibel in Lagerkarteien eingetragen. Diese Bürokratie kannte Ausnahmen: Wenn Neuankömmlinge von SS-Ärzten direkt für die Gaskammer selektiert werden, war die Registrierung der Betroffenen verzichtbar. Von Else Ury wurden in Auschwitz keine Daten erhoben. Ein späterer Suchantrag beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz verlief ergebnislos. Es ist davon auszugehen, dass Else Ury kurz nach dem 12. Januar in einer Gaskammer der Vernichtungsstätte Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.

Werke

Keine der Veröffentlichungen Else Urys wurde nach 1945 wieder aufgelegt, ausgenommen, allerdings gekürzt und überarbeitet, die Reihe Nesthäkchen (ohne Band 4), die Reihe Professors Zwillinge und das Kinderbuch Lilli Liliput.

Reihe "Nesthäkchen"

  • Nesthäkchen und ihre Puppen (1913/18)
  • Nesthäkchens erstes Schuljahr (1915/18)
  • Nesthäkchen im Kinderheim (1915/21)
  • Nesthäkchen und der Weltkrieg (1916/21)
  • Nesthäkchens Backfischzeit (1919)
  • Nesthäkchen fliegt aus dem Nest (1921)
  • Nesthäkchen und ihre Küken (1923)
  • Nesthäkchens Jüngste (1924)
  • Nesthäkchen und ihre Enkel (1924)
  • Nesthäkchen im weißen Haar (1925)

Reihe "Professors Zwillinge"

  • Professors Zwillinge Bubi und Mädi (1923)
  • Professors Zwillinge in der Waldschule (1925/26)
  • Professors Zwillinge in Italien (1927)
  • Professors Zwillinge im Sternenhaus (1928)
  • Professors Zwillinge - Von der Schulbank ins Leben (1929)

Weitere Romane

  • Studierte Mädel (1906)
  • Goldblondchen (1908)
  • Baumeisters Rangen (1910)
  • Vierzehn Jahr und sieben Wochen (1911)
  • Kommerzienrats Olly (1913)
  • Das graue Haus (1914)
  • Dornröschen (1916)
  • Das Ratstöchterlein von Rothenburg (1917)
  • Flüchtlingskinder (1918)
  • Lieb Heimatland (1919)
  • Lilli Liliput (1920)
  • Hänschen Tunichgut (1921)
  • Lillis Weg (1925)
  • Studierte Mädel von heute (1929)
  • Das Rosenhäusel (1930)
  • Wie einst im Mai (1930)
  • Jugend voraus (1933)

Erzählbände

  • Was das Sonntagskind erlauscht (1905)
  • Babys erstes Geschichtenbuch (1910)
  • Huschelchen (1914)
  • Lotte Naseweis (1917)
  • Jungmädelgeschichten / Die beiden Ilsen (1923)
  • Wir Mädels aus Nord und Süd (1931)
  • Für meine Nesthäkchenkinder (1932)
  • Kläuschen und Mäuschen (1933)

Literatur

  • Marianne Brentzel: Nesthäkchen kommt ins KZ - Eine Annäherung an Else Ury 1877 - 1943. eFeF Verlag Zürich/Dortmund 1993, ISBN 3931782360