Judenzählung
Die „Judenzählung“ war eine statistische Erfassung der Juden unter den deutschen Soldaten des 1. Weltkriegs. Der preußische Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn (1860-1925) ordnete sie am 11. Oktober 1916 an.
Vordergründig diente der Erlass der Beschwichtigung des Antisemitismus, der gerade im deutschen Offizierskorps stark verbreitet war. Er reagierte auf den sich damals verstärkenden Vorwurf, Juden seien "feige Drückeberger", die sich dem Soldatendienst an der Front mit allen möglichen Ausreden entzögen und davon unverhältnismäßig oft befreit würden.
Tatsächlich war der Erlass selbst antisemitisch motiviert und verstärkte die Ressentiments gegen jüdische Kriegsteilnehmer erheblich. Die Ergebnisse der Zählung wurden geheim gehalten.
Historischer Kontext
Der allgemeine nationalistische Rausch zu Beginn des 1. Weltkriegs erschien vielen jüdischen Deutschen des Kaiserreichs als Chance, ihre Vaterlandsliebe zu beweisen. Denn Wilhelm II. hatte mit seiner Rede im Reichstag aus Anlass der einstimmigen Zustimmung der SPD zum Burgfrieden verkündet:
- Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!
Der Krieg sollte die innerdeutschen Gegensätze zwischen Juden und Nichtjuden, Armen und Reichen, Arbeitern und Bürgern, Preußen und Bayern vergessen machen.
Daher riefen jüdische Verbände wie der „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ ihre Mitglieder 1914 geschlossen zum Kriegsdienst auf. Zur Mobilisierung erschienen vielfältige Flugblätter und Aufrufe, z.B. schrieb die „Jüdische Rundschau“ (Gidal S. 13):
- „Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber anderen Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen.“
Sie wollten sich durch besondere Tapferkeit auszeichnen und so die unter nichtjüdischen Deutschen verbreitete Ablehnung überwinden. Ihretwegen hatten die Juden erst 1890 die volle rechtliche Gleichstellung, die Zulassung zu akademischer Bildung und zum Militärdienst erreicht. Ihre Teilnahme am 1. Weltkrieg kam in den Augen vieler Deutscher nun einer "Bewährungsprobe" gleich.
Tatsächlich trat der Antisemitismus in der ersten Kriegsbegeisterung zunächst zurück. Man erwartete einen schnellen und sicheren Sieg über die Entente-Staaten. Im zweiten Kriegsjahr war diese Hoffnung jedoch bereits geschwunden. Die Kriegsopfer nahmen in den Schützengräben des erstarrten Stellungskriegs im Westen ständig zu. Die britische Seeblockade verhinderte die Einfuhr kriegswichtiger Rohstoffe aus den neutralen Ländern und führte in Deutschland zu schweren Versorgungsengpässen.
Besonders nach dem "Steckrübenwinter" 1916/17 agitierten Vertreter antisemitischer Verbände und Parteien erneut gegen jüdische Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Bankiers und Politiker. Man unterstellte ihnen Preistreiberei, Hortung und Zurückhaltung von Lebensmittelbeständen, Bevorzugung der eigenen Glaubensgenossen, Ausbeutung und geheime Verschwörungen mit den Briten gegen das deutsche Volk. Diese und ähnliche Botschaften fielen nun erneut auf einen fruchtbaren Nährboden und schürten den ohnehin verbreiteten Antisemitismus in der Bevölkerung, der Juden u.a. besondere „Feigheit“ nachsagte.
Antisemitische Organisationen wie der „Reichshammerbund“ behaupteten immer aggressiver, dass die Juden sich ihren Pflichten entzögen. Sie brachten Pamphlete in Umlauf, die sowohl die Juden als auch die Regierung von Theobald von Bethmann Hollweg angriffen. Dieser wurde als „Kanzler des deutschen Judentums“ bezeichnet (Poliakov S. 17). Walther Rathenau musste sogar im März 1915 seine Stellung im Kriegsministerium angesichts der Anfeindungen aufgeben. Er schrieb 1916 (Ullrich S. 212f):
- Je mehr Juden in diesem Kriege fallen, desto nachhaltiger werden ihre Gegner beweisen, dass sie alle hinter der Front gesessen haben, um Kriegswucher zu betreiben.
Die Anordnung und ihre Folgen
Angeblich um dieser zunehmenden Hetze gegen die Juden zu begegnen, ordnete der Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn am 11. Oktober 1916 die umfassende statistische Erfassung der wehrpflichtigen, aber auch der zurückgestellten Juden im deutschen Militär an. Er ließ sich also auf den Verdacht der "Drückebergerei" ein und kontrollierte nur die Kriegsbereitschaft der Juden, nicht der übrigen wehrpflichtigen Deutschen.
Diese offenkundige Diskriminierung sahen die deutschen Juden als Abkehr von der bisherigen Assimilations- und Emanzipationspolitik des Kaiserreichs. Daher protestierten jüdische Vereine energisch gegen den Erlass, darunter der "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", der "Verein zur Abwehr des Antisemitismus" und der "Verband der deutschen Juden". Dessen Leiter, der Reichstagsabgeordnete Oscar Cassel (1849-1923), organisierte zusammen mit dem Hamburger Bankier und gedienten kaiserlichen Offizier Max Warburg (1867-1946) eine Eingabe an das Kriegsministerium.
Aber auch die SPD und die Fortschrittliche Volkspartei werteten den Vorstoß des Kriegsministers als "Bruch des Burgfriedens", der alle Deutschen unabhängig von ihrer Religion und politischen Überzeugung mit dem Kaiser als oberstem Kriegsherrn einen sollte. Selbst der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann warnte im Januar 1917 vor einer "antisemitischen Bewegung [...], wie sie noch nie dagewesen ist."
Daraufhin stellte der Kriegsminister öffentlich klar, dass seine Anordnung nicht durch das Verhalten der jüdischen Soldaten während der Kämpfe veranlasst worden sei. Wovon dann, sagte er aber nicht. Bald darauf wurde die „Judenzählung“ ohne weitere öffentliche Debatte beendet. Sie war mit statistisch unhaltbaren Methoden durchgeführt worden. Ihre Ergebnisse blieben unveröffentlicht.
Dies gab antisemitischen Gerüchte und Spekulationen umso mehr Auftrieb. Schon unmittelbar nach Bekanntwerden des Erlasses hatten sich antijüdische Ressentiments verstärkt, und es war sogar zu tätlichen Übergriffen gegen Juden gekommen, sowohl in der Truppe als auch in der Bevölkerung. Die ungebrochene Grundströmung des Antisemitismus zeigte sich im kaiserlichen Militär auch an der Degradierung verdienter jüdischer Soldaten. Sie wurden weit weniger häufig zu Offizieren befördert, als es ihrem Anteil und ihren Leistungen entsprach. Sie blieben isoliert und von den Aufstiegschancen ausgeschlossen, die das Militär der jungen Generation sonst bot.
Besonders die jüdischen Frontsoldaten waren schwer enttäuscht darüber, dass ihre hohen "Blutopfer" und ihr Patriotismus der jüdischen Bevölkerung keine gesellschaftliche Anerkennung brachten. Damalige Tagebücher und Frontbriefe zeigen deutlich die Gefühle der Zurückweisung, Demütigung und Stigmatisierung.
Die "Judenzählung" verstärkte die Entfremdung zwischen Juden und ihren Kameraden. Der 1918 gegründete "Stahlhelm - Bund der Frontsoldaten" verweigerte jüdischen Frontkämpfern die Mitgliedschaft, so dass sie den "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" gründeten.
Nachkriegs-Untersuchungen ergaben, dass etwa 100.000 von den 550.000 deutschen Juden am Krieg teilnahmen. Davon kämpften 78.000 an der Front, 12.000 davon starben im Krieg. Über 30.000 Juden erhielten Orden für ihre Tapferkeit. 19.000 wurden befördert. Diese Zahlen unterschieden sich prozentual kaum von anderen Deutschen. Aber nur 2.000 Juden kamen in einen Offiziersrang.
Die "Judenzählung" war nicht die einzige antisemitische Maßnahme im kaiserlichen Militär. Am 15. September 1918 bildete sich ein „Judenausschuss“ unter General von Gebsattel, dessen erklärtes Propagandaziel es war, „die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen.“ (Poliakov S. 23). Damit begann die Dolchstoßlegende, die seit 1919 behauptete, die "Novemberverbrecher" (Juden und Marxisten) seien dem „im Felde unbesiegten“ deutschen Heer heimtückisch in den "Rücken" gefallen und hätten so die Niederlage und den "Schandvertrag" von Versailles verschuldet.
Literatur
- Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik, Köln: Könemann, 1997, ISBN 3-89508-540-5.
- Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band VIII. Am Vorabend des Holocaust, Frankfurt am Main: Athenäum, 1988, ISBN 3-610-00418-5.
- Volker Ullrich: Fünfzehntes Bild: Drückeberger, in: J. H. Schoeps, J. Schlör [Hrsg.]: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus, Vorurteile und Mythen, Augsburg: Weltbild (Bechtermünz), 1999, ISBN 3-8289-0734-2, S. 210 - 217.
- Arnold Zweig: Die Judenzählung (1. November 1916), in: L. Heid, J. H. Schoeps: Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Ein Lesebuch, München: Piper, 1994, ISBN 3-492-11946-8, S. 224 - 227.