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Jenische

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Die Jenischen sind eine wandernde ethnisch-soziale Gruppe, mit vermutlich keltischem Hintergrund, deren genaue Herkunft nicht geklärt ist. Gewisse Teile der jenischen Sprache weisen aber auf eine sehr lange Geschichte hin. Teilweise werden sie auch als "weiße Zigeuner" bezeichnet, da sie im Vergleich zu den Roma eine hellere Hautfarbe haben. Dass es überhaupt zu einem Vergleich mit Roma kam, liegt daran, dass Jenische als Randgruppe der Gesellschaft oft in ähnlichen Berufen (Scherenschleifer, Korbflechter und Gaukler) tätig waren und dass sie ein nomadisierendes Leben führten.

Verbreitung

polizeiliche Wegweisung, Messerligrube bei Bern, 1977

In Deutschland leben 200.000 Jenische, wovon 120.000 in Bayern, Saarland und Baden-Württemberg leben. Heutzutage sind die meisten Jenischen in Deutschland halbsesshaft oder sesshaft. 29.000 davon leben auf Walze. In der Schweiz gibt es 50.000 Jenische, von denen noch 3.500 ganzjährig auf die „Reise“ fahren und nicht sesshaft sind. 35.000 leben in Österreich (vorwiegend im Mühlviertel, Waldviertel und im Burgenland), 3.500 leben als ganzjährig Fahrende. In Ungarn leben 60.000 wobei sich, wie in Weißrussland (11.000), nicht feststellen läßt wie viele noch Fahrende sind. Für andere Länder wie Frankreich oder die Benelux-Staaten liegen keine Angaben zum Bevölkerungsanteil der Jenischen vor, da diese bislang einzig in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt sind. Weite Wanderungen brachten sie bis nach Serbien, Ungarn und Estland.

Herkunft

Datei:Jenische 1928.jpg
Jenische, ca. 1928

Die Herkunft oder Entstehung der Jenischen ist ungeklärt. Die These sie seien Nachfahren der Kelten, stützt sich auf folgende Tatsachen:

  • Die vorgermanische keltische Blutgruppe 0, sowie rotes Haar und helle Haut sind bei ihnen weit verbreitet.
  • Es wird vermutet dass gewisse Elemente ihrer Sprache und Bräuche keltischen Ursprungs sind und sie in Folge des Kulturwandels bei der europäisch-keltischen Bevölkerung größtenteils verloren gingen.
  • Ihre ältesten Berufe waren Zinngießer und Glockengießer.
  • Sie leben ebenfalls wandernd.

Weitere Thesen zur Herkunft besagen, dass die Jenischen ein aus den Wirren des dreißigjährigen Krieges entstandenes Gemisch aus Deserteuren, verarmten Soldaten und der Unterschicht, oder eine im Zuge der Bauernkriege (1520 bis 1525) aus der Schweiz ausgewanderte Volksgruppe sind. Dagegen spricht aber, dass alle Jenischen ausnahmslos katholisch sind, und sie somit vor der Spaltung der Kirche entstanden sein müssen, und nur protestantische Gruppen ausgewandert sind in jener Zeit. Im katholischen Glauben konnten sie zudem ihre heidnischen Bräuche weiter praktizieren.

Geschichte

im 15. Jahrhundert (Kupferstich Martin Schongauer

Die Jenischen wurden über die Jahrhunderte stets im Kontext des Zeitgeistes der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen. Was sie aber durch all diese Zeitzeugnisse wie ein roter Faden identifiziert, sind drei immer gemeinsam auftretende Phänomene:

  1. Ihre eigenständiges Idiom, das Jenische, das sich zwar in den Jahrhunderten wie jede Sprache wandelte, aber im Kern und Wesen gleich blieb, und bis in das Jahr 1250 dokumentiert ist.
  2. Dass sie in Familienverbänden sich tradieren.
  3. Und dass sie nomadisch leben.

So galten sie den Gelehrten und Geistlichen des Mittelalters als falsche Bettler und Pilger. Diese Sicht spiegelt sich z. B. wider in den Illustrationen Albrecht Dürers in Sebastian Brants Buch "das Narrenschiff" von 1494, in Martin Schongauers Kupferstich "Leben auf der Landstraße" von 1470, sowie Martin Luthers "Liber Vagatorum" (Untertitel: "von der falschen Bettler Büberei"), erschienen im Jahre 1510.

Beim aufkommenden Zunftwesen konnten die traditionellen Handelsnomaden und Wanderarbeiter ihre Gewerbe nicht mehr legal betreiben und mussten vor den Städten ihre Zelte aufschlagen. Auch wurde es ihnen nur noch erlaubt in Nischentätigkeiten ihrer vorherigen Berufe zu arbeiten. So wurden aus Kupferschmieden Kesselflicker, aus Zinngießern Verzinner und aus Messerschmieden Scherenschleifer. In der schweizer Stadt Chur sind noch zwei Straßen nach ihren Lagerplätzen und Tätigkeiten benannt.

Nach dem dreißigjährigen Krieg, in der Mitte des 17. Jahrhunderts, wurden viele Jenische in Dörfern angesiedelt. Diese Praxis wiederholt sich in den 1850er-Jahren in der Schweiz als Zwangseinbürgerungen (siehe jenische Dörfer unten). Auf diese Sesshaftmachungen gehen dann später die Theorien ihrer Entstehung zurück (siehe oben).

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verarmte Jenische im 19. Jahrhundert

Im 18. Jahrhundert verfolgte man sie als Gauner- und Räuberbanden, da sie wie diese ohne festen Wohnsitz in Wäldern lebten. Zu dieser Zeit gesellten sich auch viele sogenannte Chochemer, heimatlose Juden, zu den letzten Vertretern des "Fahrenden Volkes". Es waren Juden die wegen Kontingent-Regelungen als Überzählige kein Bleiberecht in den Ghettos mehr hatten, und nun als Wanderhausierer übers Land zogen (siehe H.Graetz). In dieser Zeit gelangten viele hebräische Worte in den Jenischen Wortschatz. In jenen Tagen trafen sie auch auf fahrende Sinti. Da die Schmälamar, wie die Jenischen sie nennen, aber unter sich bleiben wollten, gibt es nur wenige Lehnworte aus der Zigeunersprache.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Jenischen nicht mehr so zahlreich wie im Mittelalter. Sie leben als Korbmacher, Scherenschleifer, Kesselflicker und neuerdings auch als Schirmflicker. Als sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Industriewirtschaft immer mehr ausbreitet, geht die Nachfrage nach ihrem überlieferten Handwerk zurück. So machen sie aus der Not und Ironie ihres Schicksals eine Tugend und werden Antiquitäten-, Schrott- und Altwarenhändler. Obwohl sie von den Kommunisten als nicht gesellschaftlich integrierbares Subproletariat betrachtet wurden, fanden sie in den 1920er-Jahren in den Schriftwerken der Anarchisten (u.a.bei Erich Mühsam) und Nonkonformisten geschichtliche Anerkennung als "lebendes Beispiel einer autonomen und unkonventionellen Gegengesellschaft". Dieser Lebenswandel wurde ihnen in der Nazizeit, unter anderem, zum Verhängnis.

Datei:JenischerScherenschleifer.jpg
jenischer Scherenschleifer

Obwohl im Nationalsozialismus Publikationen und Schriftreihen des Reichsgesundheitsamtes und der „Rassentheoretiker“ Robert Ritter und Eva Justin die Jenischen als mit den Roma und Sinti ethnisch nicht verwandte Gruppe darstellten, wurden die jenischen Menschen als so genannte „Zigeunermischlinge“ oder „Asoziale“ verfolgt, in Konzentrationslager deportiert und vielfach ermordet. Im Weltbild der Nationalsozialisten widersprachen „Mischlinge“ noch stärker der Vorstellung einer „reinen Rasse“ als die von ihnen zu „minderwertigen“, aber „reinrassigen“ Menschen erklärten Personen, weshalb sie jenische Menschen teilweise noch schlechter behandelten als Sinti und Roma. Die im Jahr 2004 angenommene Dissertation über "Die Verfolgung der sozio-linguistischen Gruppe der Jenischen … 1934 - 1944"Vorlage:Ref stellte die erste wissenschaftliche Aufarbeitung dar, die im Rahmen einer deutschen Universität die Verfolgung der Jenischen während des Nationalsozialismus dokumentiert.

Die Geschichte der Jenischen ist vor allem in der Schweiz ein viel diskutiertes Thema, da dort von den 1920er bis in die 1970er-Jahre jenische Kinder durch die „Hilfsaktion“ Kinder der Landstrasse zwangsweise von ihren Eltern getrennt wurden, um das Jenische zu bekämpfen und die Leute im Staatssinne zu disziplinieren. Viele Jenische wurden in diesem Zeitraum zwangssterilisiert. Die jenische Schriftstellerin Mariella Mehr hat mehrere Bücher zu dieser Thematik verfasst. Heute gelten die Jenischen in der Schweiz als nationale Minderheit und in Österreich als Volksgruppe.

Ähnliche Gruppen gibt es auch in anderen Ländern, so z. B. die spanischen Quinqui, die mit den Jenischen ethnische Gemeinsamkeiten haben und die Tinkers, die ihnen soziologisch ähneln. Auf internationaler politischer Ebene werden Sie meist zusammen mit diesen Gruppen unter dem Überbegriff "Travellers" oder "gens de voyage" zusammengefasst, z.B. im European Roma and Traveller Forum, einer dem Europarat assoziierten NGO in Straßburg. Auch werden sie in der Antiziganismus-Forschung als Opfer anerkannt und einbezogen.

Gesellschaftsform und Kultur

Die Jenischen kennen als Volk keine Hierarchie, die sich auf Stammestraditionen oder Sippen gründen. Vielmehr ist jeder Jenische ein „pares inter pares“, ein sich selbst Bleibender unter Gleichen. Auch kulturell oder familiär begründete Rollenverteilungen zwischen weiblichen und männlichen Personen sind den Jenischen seit alters her fremd. Respekt gilt es den älteren Menschen der Gruppe zu erweisen und von jenen fürs Heute zu lernen. Religionszugehörigkeiten oder Gesinnungsbekundungen waren und sind zumeist Schutzmäntel in totalitären und ideologisierten Räumen, unter denen man seinen über die Jahrhunderte gewachsenen Gruppenanarchismus leben konnte. Durch Menschen aufgestellte Regelwerke, Gesetze und Prinzipien, die Anspruch auf Gemeingültigkeit erheben, erscheinen ihnen suspekt und dem Mysterium des Daseins und der Vielfältigkeit der Situationen nicht gerecht zu werden. Versuche, die Jenischen auf eine Leistungsgesellschaft zu konditionieren oder bürgerlich zu sozialisieren, waren aus diesen Gründen stets zum Scheitern verurteilt. Vielmehr strebten die Jenischen nach Autonomität im Wirtschaftsverhalten und so fanden sie wie das Wasser einen Weg, ihre Eigenart über die Zeiten zu bewahren.

Jenische Sprichwörter wie:

  • Es gibt keinen Weg, nur gehen...
  • Wenn ich es gefunden habe weiß ich was ich suche
  • Ich muss nichts werde und brauche nichts bleiben

Veranschaulichen diese Geisteshaltung. Die Gründe oder Mechanismen, wie es zu dieser Gesinnung kam, mögen sich erklären in einer heute weit verbreiteten Annahme, die Jenischen seien eine während oder nach Zivilisierungsprozessen entstandene Gegengesellschaft der sich nicht ein- und unterordnenden Volkselemente einer zuvor freieren Gesellschaft. Die weiteren innerhalb der Gruppen wirkenden Entstehungsprozesse dieser alternativen Lebensart innerhalb einer etablierten Sozialstruktur versucht die Soziologie mit den Erkenntnissen der Autoorganisation sowie Systemtheorie zu erklären. Dass sich diese systemfremde, in sich geschlossene und selbstregulierende ethno-soziale Gruppe in einem ihr feindlich gesinnten Milieu behaupten kann, wird mit Hilfe von Methoden der Kybernetik erörtert.

Jenische Literatur

Die Literatur der Jenischen wird im separaten Artikel jenische Schriftsteller behandelt.

Organisationen der Jenischen

Obschon verschiedene alte jenische Gewährsleute von Vereinigungen der Jenischen aus Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts berichten, konnten bislang leider keine schriftlichen Quellen dazu gefunden werden. Erst nach den öffentlichen Protesten gegen das Hilfswerk Kinder der Landstrasse entstanden in der Schweiz auch erste jenische Organisationen. Die Radgenossenschaft der Landstrasse wurde 1975 gegründet und hat seit den 1980er-Jahren in der Schweiz den Status einer staatlich anerkannten Dachorganisation der Fahrenden.

Gründungsversammlung Radgenossenschaft, Bern, 1975

Die Genossenschaft fahrendes Zigeuner-Kultur-Zentrum wurde 1984 gegründet mit dem Ziel, in Zusammenarbeit von Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz Kulturtage zu organisieren und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Die Organisation Naschet Jenische ist eine Selbstorganisation von Opfern des sogenannten Hilfswerk Kinder der Landstrasse. Sie handelte mit den Schweizer Behörden Wiedergutmachungszahlungen und Akteneinsichtsrechte für die Betroffenen aus. Der Verein Schinagel hat sich zum Ziel gesetzt, mittels neuer Berufsbildungsprogramme an neue wirtschaftliche Umgebungen angepasste fahrende Lebensweisen zu ermöglichen. Der Jenische Kulturverband Oesterreich ist die erste Organisation Jenischer außerhalb der Schweiz. Der Verein der Jenischen e.V. in Singen ist die erste Organisation Jenischer in Deutschland. Der Verein Schäft qwant fasst als transnationaler Verein für jenische Zusammenarbeit und Kulturaustausch auf seiner Homepage Vorlage:Ref die nationalen Organisationen der Jenischen zusammen und vertritt 16 ihm angeschlossene Vereine aus 6 Ländern.

Jenische Dörfer in Mitteleuropa

Verwandte Gruppen

Literatur über Jenische

(zur Literatur der Jenischen siehe jenische Schriftsteller)

  • Merlino D'Arcangelis, Andrew Rocco: Die Verfolgung der sozio-linguistischen Gruppe der Jenischen (auch als die deutschen Landfahrer bekannt) im NS-Staat 1934 - 1944; Dissertation an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, 2004; im Internet verfügbar unter [1] bzw. [2]
  • Becker, Helena Kanyar (Hg.): Jenische, Sinti und Roma in der Schweiz; Basel: Schwabe, 2003; mit Texten von Cristina Kruck, Graziella Wenger, Thomas Meier, Venanz Nobel u.a. ISBN 3-7965-1973-3
  • Huonker, Thomas: Fahrendes Volk - verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe; hg. von der Radgenossenschaft der Landstrasse; Zürich: Limmat-Verlag, 1987; ISBN 3-85791-135-2
  • Schneider, Hans-Jörg: Hunkeler macht Sachen Lübbe 2006, 303S. ISBN 3-40415-43-5
  • Walder, Urs: Nomaden in der Schweiz; Zürich, Züst, 1999; Fotos von Urs Walder, Textbeiträge von Mariella Mehr, Venanz Nobel, Willi Wottreng ISBN 3-905328-14-3 [Textauszug online]
  • Widmann, Peter: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik; Berlin: Metropol, 2001; ISBN 3-932482-44-1

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Filme

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