Zum Inhalt springen

Zentralrat der Juden in Deutschland

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 12. August 2012 um 02:49 Uhr durch Stefan64 (Diskussion | Beiträge) (GND). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Das Leo-Baeck-Haus in der Berliner Tucholskystraße: Sitz des Zentralrates der Juden in Deutschland seit 1999

Der Zentralrat der Juden in Deutschland (ZdJ) ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts die größte Dachorganisation der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland und deren politische Vertretung. Er wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet.

Derzeitiger Präsident des Zentralrats ist Dieter Graumann.

Derzeit gehören 23 Landesverbände mit insgesamt 107 jüdischen Gemeinden mit etwa 106.000 Mitgliedern dem Zentralrat an.[1] Sitz des Rates ist seit dem 1. April 1999 das Leo-Baeck-Haus in Berlin.

Geschichte

Der Zentralrat wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt a. M. von Delegierten der in der Bundesrepublik Deutschland bereits wieder existierenden jüdischen Gemeinden und ihrer Landesverbände gegründet. Seinem ersten Direktorium gehörten an: der bayerische Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte, Philipp Auerbach; der in Bergen-Belsen befreite, später langjährige Vorsitzende der Berliner jüdischen Gemeinde Heinz Galinski; der auf Wiedergutmachungsfragen spezialisierte Jurist Benno Ostertag; die beiden Mitglieder des Zentralkomitees in der US-Zone Peisach Piekatsch und Chaskiel Eife; Josef Rosensaft und Norbert Wollheim für die britische Zone. Erster Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland wurde Frankfurt am Main, ab 1951 Düsseldorf, ab 1985 Bonn und seit dem 1. April 1999 Berlin.

Als ihre Hauptaufgabe betrachtete die Organisation in den ersten Jahren, auf die Gesetzgebung zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts einzuwirken. Später wurden der Kampf gegen den Antisemitismus, die Unterstützung einer Annäherung zwischen Deutschland und dem Staat Israel und die Förderung der Arbeit der Mitgliedsgemeinden und Landesverbände zu wichtigeren Aufgaben; ebenso der Einsatz für das gegenseitige Verständnis von Juden und Nichtjuden.

Seit dem Mauerfall und der deutschen Wiedervereinigung 1990 bildet die Zuwanderung von Zehntausenden von Juden (zumeist als „Kontingentflüchtlinge“) aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion (GUS-Staaten) einen neuen Wirkungsschwerpunkt. Sie werden nach dem Königsteiner Schlüssel, der hauptsächlich die Einwohnerzahl spiegelt, auf die Bundesländer verteilt. Seit 1990 hat sich die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland mehr als verdreifacht.

Noch prägen in Deutschland Geborene den Zentralrat – und wenige aus dem Osten Europas stammende Juden, die mittlerweile vielerorts die Mehrheit der Gemeindemitglieder stellen. Der Zentralrat gibt die Wochenzeitung Jüdische Allgemeine heraus. Die Union progressiver Juden, deren Gemeinden ca. 3000 Mitglieder angehören, ist nach dem Zentralrat die zweitgrößte Vereinigung jüdischer Gemeinden in Deutschland. Nach früheren Kontroversen zwischen beiden Organisationen (siehe auch unten) kam es in letzter Zeit wieder zu einer Annäherung. Teilweise gibt es mittlerweile Mitgliedschaften von Landesverbänden der Union progressiver Juden im Zentralrat der Juden in Deutschland.

Die Bundesrepublik Deutschland hilft bei der Erhaltung und Pflege des deutschjüdischen Kulturerbes, beim Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft und bei den integrationspolitischen und sozialen Aufgaben des Zentralrats in Deutschland mit einer jährlichen Zahlung an den Zentralrat von 10.000.000 €.[2]

Organisation

Struktur

Der Zentralrat hat drei Organe:

  • die Ratsversammlung als Vertretung der Gemeinden,
  • das Direktorium als Vertretung der Landesverbände und Großgemeinden
  • das Präsidium als Exekutive

Der Ratsversammlung gehören alle Landesverbände sowie die Großgemeinden in Berlin, München, Frankfurt und Köln an, wobei für je 1000 Gemeindemitglieder ein Delegierter entsandt wird. Als oberstes Entscheidungsgremium des Zentralrats hat sie die Richtlinienkompetenz, das Haushaltsrecht und kontrolliert die Arbeit des Präsidiums. Sie entscheidet über Grundsatzfragen der jüdischen Gemeinschaft unter Berücksichtigung der Autonomie der einzelnen Mitgliedsgemeinden in höchster Priorität. Sie tagt mindestens einmal im Jahr und wählt aus ihrer Mitte für die Dauer von vier Jahren drei Mitglieder in das neunköpfige Präsidium des Zentralrats.

Das Direktorium setzt sich aus von den einzelnen Mitglieds- bzw. Landesverbänden entsandten Vertretern zusammen, wobei je angefangenen 5000 Gemeindemitglieder ein Delegierter entsandt wird. Das Direktorium wählt aus seiner Mitte auf vier Jahre sechs Mitglieder des neunköpfigen Präsidiums. Das Direktorium überwacht die Tätigkeit des Präsidiums und wählt den Generalsekretär.

Das Präsidium wählt aus seinen Reihen den Präsidenten und die beiden Vizepräsidenten, die den Zentralrat der Juden in der Öffentlichkeit vertreten. Das Präsidium führt die Geschäfte des Zentralrats, die laufenden Geschäfte führt der auf fünf Jahre gewählte Generalsekretär.

Der Zentralrat ist Vollmitglied in mehreren internationalen jüdischen Organisationen, unter anderem:

Bisherige Präsidenten und Vorsitzende

Generalsekretäre

Landesverbände

Derzeit gehören 23 Landesverbände mit insgesamt 107 jüdischen Gemeinden mit etwa 104.000 Mitglieder dem Zentralrat an.[1] Diese sind:

Kontroversen

Nachmann-Skandal

Nach dem Tod Werner Nachmanns wurde der Vorwurf erhoben, Nachmann habe in der Zeit von 1981 bis 1987 etwa 33 Millionen DM an Zinserträgen aus Wiedergutmachungsgeld der Bundesregierung veruntreut. Der tatsächliche Verbleib des Geldes ist bis heute weitgehend ungeklärt, obwohl sich insbesondere Nachmanns Amtsnachfolger Heinz Galinski jahrelang intensiv um die Aufklärung der Angelegenheit bemühte.

Kontroverse um Fördermittel

Im April 2004 kam es zum offenen Streit zwischen Zentralratspräsident Paul Spiegel und dem Vorsitzenden der Union progressiver Juden in Deutschland, Jan Mühlstein. Mühlstein fordert eine finanzielle Gleichberechtigung der liberalen jüdischen Gemeinden bei der Verteilung der auf Grundlage eines Staatsvertrags gezahlten jährlichen drei Millionen Euro staatlicher Fördermittel. Die Erben von Leo Baeck wollen wegen des Streits dem Zentralrat das Recht zur Nutzung des Namens Leo Baeck entziehen. In einem Gespräch unter Vermittlung der Weltunion progressiver Juden am Rande von deren Jahrestagung zu Pessach 2006 in Hannover haben Zentralrat und Union ihre Differenzen weitgehend beigelegt.

Positionierung zum Israel-Libanon-Krieg 2006

Führende Vertreter des Zentralrats positionierten sich durchweg und uneingeschränkt auf der Seite der israelischen Regierung im Israel-Libanon-Krieg 2006. Im August 2006 kam es zu einer internen Kontroverse, als Direktoriumsmitglied Rolf Verleger in einem offenen Brief die Haltung Israels kritisierte und sich für eine friedliche Lösung des Palästinakonflikts aussprach. Aufgrund dieses Briefs setzte ihn am 9. August 2006 seine Jüdische Gemeinde Lübeck als Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein ab.[3][4]

Siehe auch

Literatur

  • Jay Howard Geller: Jews in Post-Holocaust Germany. Cambridge University Press, Cambridge unter anderem 2005, ISBN 0-521-54126-3.
  • Stephan J. Kramer: Wagnis Zukunft. 60 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin, 2011, ISBN 978-3-942271-10-3.
Commons: Zentralrat der Juden in Deutschland – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. a b Mitglieder: Landesverbände und jüdische Gemeinden
  2. Gesetz zu den Vertrag vom 30. November 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland -Körperschaft des öffentlichen Rechts- zur Änderung des Vertrages vom 27. Januar 2003 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zentralrat der Juden in Deutschland -Körperschaft des öffentlichen Rechts-, zuletzt geändert durch den Vertrag vom 3. März 2008
  3. Schalom 5767 – Friede 2006
  4. Zentralrats-Kritiker muss gehen, taz am 24. August 2006.