Zum Inhalt springen

Antijudaismus im Neuen Testament

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 20. Oktober 2005 um 21:23 Uhr durch 80.121.37.202 (Diskussion) (konkretisiert). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Antijudaismus im Neuen Testament ist ein Teil des Themas "Antijudaismus": jener besonderen Judenfeindlichkeit im Christentum, die sich durch die Geschichte Europas zieht, den späteren Antisemitismus vorbereitete und ermöglichte. Ihre Wurzeln reichen bis in das Neue Testament (NT) zurück: Dort finden sich bereits eine Reihe von Aussagen, die das Judentum abwerten. Darauf berief sich die spätere kirchliche Theologie, um Judenfeindschaft systematisch zu begründen und damit Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Minderheit zu rechtfertigen.

Einleitung

Während die christliche Theologie ihre judenfeindlichen Dogmen früher unreflektiert aus dem NT herleitete, ist dies seit dem Holocaust nicht mehr möglich. Dieser hatte eine entscheidende Ursache in der Jahrhunderte langen christlichen Judenfeindschaft. Die Frage nach deren Wurzeln ist daher ein wichtiges Teilgebiet der Antisemitismusforschung.

Angesichts der nachhaltigen Wirkungsgeschichte von NT-Texten zur Abwertung des Judentums hat in der christlichen Exegese der letzten Jahrzehnte ein allmähliches Umdenken eingesetzt. Jahrhunderte lang eingeübte antijudaistische Vorurteile beim Auslegen des NT werden nun hinterfragt. Mit der Historisch-kritischen Methode wurde intensiv versucht, den ursprünglichen Sinn und Kontext judenfeindlicher Aussagen im NT freizulegen und sie gegebenenfalls theologisch zu kritisieren. Dies war und ist eine notwendige Voraussetzung für die Erneuerung des Verhältnisses und jüdisch-christlichen Dialogs zwischen Christen und Juden.

Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) intensivierte sich dieser Dialog seit den Kirchentagen der 1960er Jahre: Während christliche Historiker und Theologen die NT-Verkündigung stärker aus dem "Alten" - heute auch genannt: Ersten - Testament erklärten, setzte auch auf jüdischer Seite eine "Heimholung" des Rabbiners Jesus von Nazaret ins Judentum ein - sozusagen eine Judaisierung des Christentums.

Damit rückte die Frage ins Zentrum, ob die Ablehnung des Judentums für das NT und die Entstehung des Christentums konstitutiv ist. In der Holocausttheologie der USA vertritt etwa Rosemary Radford-Ruether die These, dass Judenfeindschaft von Beginn an ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens gewesen sei. Auch der deutsche Neutestamentler Ulrich Wilckens hält Anti-Judaismus für ein unaufgebbares Kennzeichen der urchristlichen, besonders der paulinischen Lehre. Sein Kollege Peter von der Osten-Sacken plädiert deshalb für einen "theologischen Besitzverzicht": Christen sollten auf die Rede vom "Messias Israels" verzichten, da diese Grundaussage ihres Glaubens nur als gegen die Existenz des Judentums gerichtet zu verstehen sei.

Die Mehrheit der christlichen Historiker und Theologen widerspricht dieser Ansicht jedoch und hebt hervor, dass gerade der urchristliche Glaube eine fundamentale Bejahung des Judentums beinhalte und fordere. Nur von daher sei eine gründliche Revision der europäischen Kirchengeschichte und eine Erneuerung des Verhältnisses zu Israel möglich. Die Kirchen sind dieser Linie in den letzten Jahrzehnten gefolgt und haben ihr Verhältnis zum Judentum dogmatisch wie ethisch, liturgisch wie praktisch einer gründlichen Prüfung unterzogen.

Auf katholischer Seite begründete das 2. Vatikanische Konzil 1968 eine neue Hinwendung zu Israel und Auseinandersetzung mit dem christlichen Schuldanteil am Holocaust, auf evangelischer Seite setzte der Rheinische Synodalbeschluss von 1980 einen Meilenstein für die Revision und Präzisierung kirchlicher Lehraussagen. Diesen Prozess haben inzwischen eine Reihe von Landeskirchen der EKD so oder ähnlich nachvollzogen.

Kernaussage ist hier das Bekenntnis zum "ungekündigten Bund": Israel sei und bleibe das erwählte Volk Gottes, das als solches die Wurzel der Kirche sei. Nur auf diesem Grund sei die Botschaft von Jesus Christus Gnade für alle Völker. Die Auswirkungen dieser theologischen Klärung auf sämtliche kirchliche Aufgabenbereiche wie auch den staatlichen Religionsunterricht und den allgemeinen Religionsdialog sind noch nicht absehbar.

Die antijudaistische Theologie

In der kirchlichen Lehre wurden bereits im 2. Jahrhundert vier Glaubenssätze miteinander verknüpft:

Ausgangspunkt dieser Theologie war die These vom "Gottesmord": Indem Israel als Volk Gottes den Sohn Gottes getötet habe, habe es sich und alle seine Nachfahren selbst auf ewig vom Heil ausgeschlossen. Die Juden wurden damit zum dauernden Gegenspieler des wahren Gottes und seiner Gläubigen stilisiert und als solche fixiert.

Die "Kirchenväter" des 2. Jahrhunderts gingen dabei von einer Tatsache aus: Die Mehrheit der Juden in Israel lehnte Jesus als ihren Messias ab. Dies stand schon Paulus von Tarsus als zentrales Problem vor Augen (Römerbrief 9-11). Die christliche Theologie setzte daraufhin die Ablehnung Jesu durch die jüdische Mehrheit mit der Schuld an seinem Tod, also dem christlichen Glaubenszentrum, gleich (Jules Isaac).

Die endgültige Vergebung, die Jesus nach Aussage des ältesten Passionsberichts am Kreuz durch die Übernahme des Endgerichts für sein Volk und alle Menschen erwirkte (Mk 15,33f), wurde zur ewigen Schuldanklage und Schuldbehaftung Israels im Gegensatz zur bereits geretteten Christenheit umgedeutet. Demzufolge konnte Israels "Verwerfung" nur noch endgültig sein, seine Rettung nur noch im Christentum liegen.

Diese theologische Enteignung der Ursprungsreligion des Christentums war zunächst Kehrseite für das großkirchliche Wahrheitsmonopol. Dieses rechtfertigte seit der Konstantinischen Wende (313) allerlei antijüdische Maßnahmen bis hin zur angeblich notwendigen Zwangsbekehrung der Juden. Aufgrund von deren Erfolglosigkeit konnte das logische Gefälle dann historisch zum Propagieren, Planen, Dulden und Mitmachen ihrer Ausrottung verlaufen (Raul Hilberg).

Jesu Tod als "Gottesmord"

Der traditionelle Schuldvorwurf

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Bekenntnis zu dem gekreuzigten Juden Jesus von Nazaret, der anstelle derer, die ihn töteten, das Endgericht Gottes auf sich nahm und so alle Menschen von ihrer Schuld erlöste: Für uns gestorben/dahingegeben ist der älteste Kern frühchristlicher Credoformeln.

Diese sind schon in den Petruspredigten der Apostelgeschichte mit historisierenden Aussagen verknüpft, die nicht eigene, sondern fremde Schuld herausstellen und das Volk Israel insgesamt für Jesu Tod haftbar machen (Apg 3,14f):

Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und erbeten, dass man euch den Mörder herausgab; aber den Fürsten des Lebens habt ihr getötet.

Das erinnert an die Szene im Pilatusprozess Jesu: "Kreuzige ihn!" (Mk 15,13f); zwischen Volk und Führung wird hier nicht unterschieden. Doch zugleich entlastete die urchristliche Verkündigung die angeredeten Juden (Apg 3,17):

Ich weiß, dass ihr es aus Unwissenheit getan habt wie auch eure Oberen.

Diese Entlastung wurde auf Jesu Fürbitte am Kreuz zurückgeführt (Lk 23,34):

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

In der Kirchengeschichte wurde die kerygmatische Schuldbehaftung jedoch zur kollektiven Verdammung des Judentums. Der Vorwurf Die Juden haben Jesus getötet hatte fatale historische Folgen und löste in der europäischen Geschichte oft unmittelbar Pogrome an Juden aus. Denn Jesus war für Christen seit dem Bekenntnis von Nicäa (325) als Sohn Gottes das gottgleiche Wesen Gottes unter den Menschen; wer ihn tötete, tötete Gott selbst. Daraufhin machten die Christen die "Christusmörder" auch sonst für alle erdenklichen Verbrechen verantwortlich. Sie bestimmten ihr "Wesen" als teuflisch und unterstellten ihnen permanente Mordabsichten.

Die Psychoanalyse deutet dies als Projektion und Verdrängung: Christen rächten sich an den Juden, deren Unglaube an Jesus sie bleibend an ihren eigenen Unglauben an die letztgültige Erlösung von Sünde und Tod erinnerte:

Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, als Herrscher verhöhnt, schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.

(Max Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno, "Elemente des Antisemitismus" 1944).

In der traditionellen Exegese zeigt sich diese Projektion oft daran, dass Jesu Tod aus einem fundamentalen Gegensatz seiner Verkündigung zum Judentum erklärt wird:

  • Seine Gebotsübertretungen hätten die Tora außer Kraft gesetzt, und deshalb hätten damalige jüdische Autoritäten ihn beseitigen lassen;
  • seine Messiaswürde sei mit dem jüdischen Messiasglauben unvereinbar gewesen und habe seine Verurteilung zwangsläufig provoziert;
  • sein freiwilliges Opfer habe den jüdischen Gottesdienst, besonders den Opferkult als Heilsweg beendet;
  • seine Kreuzigung habe das Judentum insgesamt ins Unrecht gesetzt und seinem Glauben die Basis entzogen.

Damit wurde jüdischer und christlicher Glaube in einen ausschließenden Gegensatz gebracht. Dieses Bild hält einer genauen Prüfung der Passionstexte im Kontext heutigen Wissens vom damaligen Judentum in Palästina jedoch nicht stand. Die NT-Exegese sieht Jesu Nähe und Distanz zu verschiedenen damaligen jüdischen Gruppen und die Gründe für seine Hinrichtung heute daher viel differenzierter. Sie unterscheidet damalige innerjüdische Konflikte von den wahrscheinlichen Ursachen des römischen Todesurteils. Aufgrund der unsicheren Quellenlage und der Brisanz des Themas sind ihre Ergebnisse weiterhin heterogen. Unabhängig davon steht für die Kirchen jedoch seit 1965 einhellig fest, dass eine Mitschuld damaliger Teilgruppen des Judentums am Tod Jesu keinerlei Antijudaismus rechtfertigen kann.

Forschungspositionen

Zwei Hauptpositionen haben sich seit 1945 herauskristallisiert:

1. Römer, nicht Juden, trügen die Hauptverantwortung für Jesu Kreuzigung. Politische, nicht religiöse Motive hätten sie dazu bewegt. Die Beteiligung des Jerusalemer Hohen Rats (Sanhedrin) sei seiner damaligen Zwangslage geschuldet, er habe nur eine Helferrolle ohne eigenen Handlungsspielraum gehabt. - Dies vertreten meist nichtchristliche Autoren, z.B.

  • der jüdische Historiker Paul Winter (On the trial of Jesus 1961). Er sieht bereits Jesu Festnahme von Römern, nicht vom Sanhedrin veranlasst und bestreitet, dass es einen Religionsprozess mit Todesurteil gegen Jesus gab. Ihm folgte
  • Haim Cohn, Richter am Obersten Gerichtshof des Staates Israel (The Trial and death of Jesus 1967). Er bestreitet, dass ein Straftatbestand des antiken jüdischen Religionsgesetzes auf Jesus anwendbar war und hält es daher sogar für wahrscheinlich, dass der Sanhedrin Jesus damals vor den Römern zu retten versuchte. Dies hätten die Evangelisten umgedeutet, um sich vor römischer Verfolgung zu schützen und die Heidenmission zu erleichtern.
  • Auch David Flusser (Die letzten Tage Jesu in Jerusalem 1982) und
  • Pinchas Lapide (Wer war Schuld an Jesu Tod? 1987) vertreten ähnliche Thesen. Lapide sieht das Todesurteil des Sanhedrin als nachträgliche christliche Erfindung, da das Messiasbekenntnis Jesu vor Kaiphas keine "Gotteslästerung" gewesen sein könne.
  • Nach dem deutschen Juristen Weddig Fricke (Standrechtlich gekreuzigt 1987) dagegen hätte der Hohe Rat durchaus ein Todesurteil fällen können; dass er es nicht tat, beweist für ihn, dass allein Pilatus Jesu Hinrichtung veranlasst habe, die er als politischen Mord einstuft.

2. Christliche Historiker dagegen halten meist an der Plausibilität der neutestamentlichen Darstellung fest, wonach die Initiative zur Verurteilung Jesu vom Sanhedrin ausging.

  • Der Katholik Joseph Blinzler (Der Prozess Jesu 1969) untersuchte das Thema sehr umfassend und zog das Fazit: "Die Hauptverantwortung liegt auf jüdischer Seite." Er bekräftigt die "böswillige Einstellung der Synhedristen", zweifelt an der Rechtmäßigkeit ihres Todesurteils und sieht keinen Zusammenhang zwischen ihrem Verhör und ihrer Anklage Jesu gegenüber Pilatus; seine Auslieferung sei widerrechtlich erfolgt. - Ihm folgte
  • Gerhard Lohfink (Der letzte Tag Jesu. Die Ereignisse der Passion 1981).
  • Der Lutheraner August Strobel wiederum (Die Stunde der Wahrheit. Untersuchungen zum Strafverfahren gegen Jesus 1980) betont die Rechtsgrundlage des jüdischen Todesurteils: Der Sanhedrin habe damals strikt das deuteronomische Religionsgesetz angewandt, wonach ein Volksverführer öffentlich "am Fest" hinzurichten war (Dtn 13). Bei akuter Gefahr für Jerusalem und den Tempel hätten Ausnahmeregeln eine sofortige Auslieferung gestattet (die die späteren Prozessregeln des Talmud verboten). Pilatus habe durch ungeschicktes Taktieren der Hinrichtung Jesu zuletzt zustimmen müssen, um sein Ansehen nicht zu gefährden.
  • Otto Betz (Probleme des Prozesses Jesu 1982) schloss sich Strobels Grundthese an, dass zwischen Verhör und Todesurteil des Sanhedrins ein innerer Zusammenhang bestand: Er sieht ihn darin, dass eine Reform des Jerusalemer Tempelkults ("Tempel abreißen und neubauen", Mk 14,58) nur dem Messias zugestanden hätte, so dass die Messiasfrage des Kaiphas nach ergebnislosem Verhör wie auch die politische Messiasanklage vor Pilatus zwangsläufig gewesen seien. Dies betonen ähnlich auch die Neutestamentler
  • Rudolf Pesch (Der Prozess Jesu geht weiter 1980) und
  • Peter Stuhlmacher (Warum musste Jesus sterben? 1988).

Der NT-Befund

Eine Pauschalaussage, die ausdrücklich die Alleinschuld des ganzen jüdischen Volkes am Tod Jesu aussagt, findet man im NT einzig im 1. Thessalonicherbrief 2, 15, dem ältesten Paulusbrief:

Die [Juden] haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten; sie haben uns verfolgt und missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen...

Hier kombinierte Paulus das biblische Motiv der Prophetenverfolgung mit typischen antijüdischen Klischees der antiken Umwelt und bezog es auf seine eigene Erfahrung. Daher ist der Satz nicht als exakte historische Feststellung zu werten, sondern als situationsbedingte Polemik (s.u.).

Die übrigen Textstellen außerhalb der Evangelien klagen verschiedene Teilgruppen einzeln oder miteinander an:

  • den Sanhedrin (das oberste Religionsgericht, in dem die Sadduzäer damals die Führung innehatten): Apg 4,10; 5,30; 7,52; 13,27-29.
  • die Einwohner Jerusalems : Apg 2,23.36. In Apg 3,13-15 und 13,27-29 wird zudem auf ihre Demonstration vor Pilatus verwiesen: Kreuzige ihn! anstelle des Zeloten Barabbas, Mk 15,6-15.
  • "Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und Israels Stämmen": Apg 4,27f im Anschluss an Psalm 2,1f; dort werden die irdischen Herrscher als Gegner des gottgesandten Messias genannt, die hier zugleich ihre Völker vertreten.
  • allgemein die "Herrscher dieser Welt", hinter denen dämonische Mächte stehen: 1. Kor 2,7f.

In Apg 2,36 und 4,10 wird das "ganze Haus" bzw. "Volk Israel" nicht als Adressat, sondern Publikum der Anklage der Herrschenden gegen Jesus genannt: Es wird als Zeuge des Unrechts, das er erfuhr und auf sich nahm, beansprucht.

Die Evangelien zeigen jüdische Gegner Jesu als treibende Kraft seiner Leidensgeschichte: Diese kündet sich schon in Galiläa an, wo er wiederholt in gefährliche Konflikte geraten und nach Johannes mehrfach fast gesteinigt worden sein soll (Jh 8,59; 10,31). Dabei ging es um die Tora-Auslegung, besonders sein Recht zur Sündenvergebung (Mk 2,7ff), die Schabbat-Heiligung (Mk 2,23 - 3,6), die Reinheitsgesetze (Mk 7,1-23), später die Ehescheidung (Mk 10,1-12) und die Kaisersteuer (Mk 12,13-17).

Doch keiner dieser Streitpunkte wird in Jesu Verhör vor dem Sanhedrin erwähnt. Nur Lk 23,2 zufolge soll Pilatus ihm einen Aufruf zum Steuerboykott vorgehalten haben. Sonst waren weder Konfliktthemen noch Gegner Jesu in Galiläa und Jerusalem identisch. Besonders die Pharisäer spielen in den eigentlichen Passionsberichten des NT kaum eine Rolle.

Daher gilt der Tötungsplan der Pharisäer und Herodianer in Galiläa, den Markus erwähnt (Mk 3,6), als unwahrscheinlich. Der Evangelist schlug damit wohl eine redaktionelle Brücke zum Tötungsplan der Tempelpriester nach Jesu Tempelreinigung (Mk 11,18), die der wahrscheinliche Anlass seiner Festnahme war (Mk 14,1f). Johannes wiederum verband Jesu provozierendes Auftreten in Galiläa mit Jerusalem, indem er die Tempelreinigung schon an den Anfang seines Wirkens verlegte (Jh 2,13-24).

So stellen die Evangelisten jüdische Gruppen, die zur Zeit Jesu ganz verschiedene Haltungen und Interessen hatten, nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. als seine gemeinsamen Feinde dar. Sie weisen allen Autoritäten des damaligen Judentums die Schuld für Jesu Auslieferung an Pilatus und dessen Hinrichtungsbeschluss zu. So drückt es die erste nachösterliche Pfingstpredigt des Petrus an die Jerusalemer aus (Apg 2,23):

Ihr habt ihn durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und getötet.

Fraglich ist jedoch, ob und wofür der Sanhedrin Jesus zuvor selbst verurteilte. Ein Messiasanspruch war keine Gotteslästerung. Historisch kommt eher ein Todesurteil wegen Falschprophetie in Frage, bezogen auf die Anklage der Tempelzerstörung und das Menschensohnbekenntnis Jesu (siehe dazu Jesus von Nazaret). Das aus der nach 70 entstandenen Mischnah bekannte rabbinische Prozessrecht sah bei Kapitalvergehen weder eine nichtöffentliche, nächtliche Verhandlung noch ein Vorab-Urteil des Hohenpriesters noch einstimmige Todesurteile noch eine Hinrichtung vor Ablauf von 24 Stunden vor. Über sadduzäische Verfahrensregeln vor 70 ist dagegen nichts bekannt. Denkbar ist ein Eilverfahren bei akuter Gefahr für Tempel und Stadt (Strobel): Diese war durch Jesu öffentliche Tempelkritik in der Situation des Passahfestes in Jerusalem gegeben, die die Aufstandsgefahr drastisch erhöhte. Daher wirken seine Festnahme und Auslieferung historisch plausibel.

Aufgrund des damaligen Machtgefälles zwischen Sanhedrin und römischen Besatzern ist jedoch sicher, dass Pilatus das letzte Urteil über Jesus fällte. Ihn bewegten politische, nicht religiöse Motive. Nach der Kreuzestafel (titulus) sah er in Jesus einen "König der Juden", also den selbsternannten Thronanwärter eines autonomen jüdischen Staates, der die Juden zum Aufstand führen und seine Macht hätte gefährden können.

Wie Pilatus dazu kam, ist unklar. Dass er ohne eigene Prüfung gegen seine Überzeugung dem "Druck der Straße" nachgab (Kreuzige ihn!), halten viele Historiker für undenkbar und sehen darin eine antijudaistische Tendenz der Evangelien. Denn Pilatus war dafür bekannt, jüdischen Volkswillen zu ignorieren. Andererseits durfte er keineswegs nach eigenem Ermessen handeln: Provinzstatthalter waren nach Cicero (Reden gegen Verres) bis etwa 50 auch gegenüber Nichtrömern an das römische Prozessrecht, die quaestio, gebunden.

Nach den NT-Berichten fällte Pilatus aber keinen formal rechtsgültigen Schuldspruch, sondern gab nur einen Hinrichtungsbefehl (Mk 15,15). Das war ihm juristisch nur erlaubt, wenn ein Vergehen öffentliche Tatsache war und der "Volkszorn" (populi furor) dies beglaubigte, wenn Angeklagte sofort gestanden oder auf ihre Verteidigung verzichteten. Da Jesus auf seine Frage Bist Du der König der Juden? (Mk 15,2) antwortete: Du sagst es und auf weitere Vorhaltungen schwieg (Mk 15,5), musste Pilatus dies als Geständnis werten. Dies erübrigte den Schuldnachweis und zwang ihn zum Verhängen der Todesstrafe.

Da Römer Gekreuzigte als Hochverräter und Schwerverbrecher ansahen und Maßnahmen ihrer Amtsinhaber kaum hinterfragten, musste die christliche Verkündigung im römischen Reich umso mehr versuchen, Jesu Unschuld herauszustellen. Dies könnte der Grund sein, dass die Evangelien die agierende Rolle des Sanhedrin und reagierende Rolle des Pilatus überbetonen. Dennoch begründen sie keine Pauschalvorwürfe gegen das ganze Judentum, sondern machen unmissverständlich klar:

Der letzte Grund für Jesu Tod war sein freiwilliger Verzicht, sich zu verteidigen, also seine Selbsthingabe, die nach seinem Glauben den von Ewigkeit her vorherbestimmten Willen Gottes erfüllte (Mk 14,36). Dies ist zugleich der entscheidende theologische Grund dafür, antijudaistische Motive im NT als Verleugnung, nicht als Folge des urchristlichen Glaubens zu begreifen und zu kritisieren.

Die "Feinde aller Menschen"

Im Zuge seiner Ausbreitung im Mittelmeerraum gewann das Christentum im römischen Reich zunehmend auch wohlhabendere Bevölkerungssschichten. Dort war eine generelle Ablehnung der Juden bereits seit dem Pogrom in Alexandria (38) verbreitet (siehe dazu Antike Judenfeindschaft). Ein Zeugnis für das Eindringen römischen Judenhasses in das NT findet sich im 1. Thessalonicherbrief (2, 14-16), dem ältesten der von Paulus verfassten Gemeindebriefe (entstanden um 50):

Ihr habt von Euren Mitbürgern das gleiche erlitten wie jene von den Juden. Diese haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; (denn) sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen. Dadurch machen sie unablässig das Maß ihrer Sünden voll. Aber der ganze Zorn ist schon über sie gekommen.

Der Text verbindet verschiedene damals gängige Vorwürfe an die Juden:

  • das biblische Motiv des Prophetenmords (z.B. 1. Kön 19, 10; Jer 2, 30) mit der Mitwirkung aller Juden am Tod Jesu, des Kyrios (hebräisch JHWH). Dies verallgemeinert die seit Jahrhunderten bekannte Bußpredigt von Juden an andere Juden (Neh 9,26; Esr 9,11; Mk 12,1-9; Apg 7,52): Jesus erlitt demnach das Schicksal aller Propheten, die Gott sandte, auf die sein Volk aber nicht hörte.
  • die heidnischen Stereotypen des "Missfallens der Götter" und der "Menschenfeindschaft". Auch dieser Vorwurf war weit verbreitet. Er begegnet schon in der Septuaginta-Übersetzung vom Buch Ester als Begründung für einen Morderlass des Perserkönigs (Est 3, 13), später dann bei Tacitus (5. Buch der Annales 5, 2, 1ff):
Untereinander üben sie unverbrüchliche Treue und spontane Hilfsbereitschaft, allen anderen gegenüber jedoch feindseligen Hass.

Darum seien sie "Gottlose (atheoi) und den Göttern verhasst", heißt es über Juden auch in Texten der antiken Historiker Flavius Josephus, Quintilian, Cicero und anderen. Diese Sicht traf sie, weil sie sich wegen ihrer Speise- und Reinheitsgesetze vom Gesellschaftsleben ihrer Umwelt abgrenzten und die Teilnahme an Staatskulten verweigerten.

Paulus übernahm diese antiken Klischees nicht, um Juden die Verehrung römischer Götter nahezulegen; vielmehr stehen seine persönlichen Erfahrungen dahinter, wie der letzte präsentische Vorwurf zeigt. Er bezog "Feindschaft gegen alle Menschen" auf die jüdische Ablehnung seiner universal ausgerichteten Völkermission: Er war aus Thessaloniki vertrieben (Apg 17, 5-10), aber auch schon früher von jüdischen Gegnern verfolgt worden (Apg 13, 50; 14, 2.19). In Korinth spitzte sich diese Opposition dramatisch zu (Apg 18 12-17): Juden zeigten die Paulusmission beim römischen Prokonsul an. Diese akute Gefährdung könnte Anlass zu seiner antijüdischen Polemik gewesen sein.

Sein Rückgriff auf in Umlauf befindliche Pauschalurteile über Juden wirkte jedoch weit über ihren situationsbedingten Anlass hinaus fort: Der antike Antijudaismus lebte im Christentum fort. Juden wurden bleibend zu Feinden Gottes und der Menschheit stilisiert, auch nachdem nahezu alle Völker Europas christlich getauft worden waren. Auch dadurch verlor das paganisierte Christentum bei Juden und langfristig auch bei Heiden seine Glaubwürdigkeit.

Die Enterbung des Gottesvolks

Das antijudaistische Dogma der "Verwerfung" des ganzen Gottesvolks wurde etwa aus dem "Weinberggleichnis" (Mk 12,1-12) hergeleitet:

Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: 'Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!' Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. - Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben.

Das schien den Verlust der Erwählung Israels und deren Übergabe an die Christen anzudeuten. Denn der Weinberg ist schon im Ersten Testament eine Metapher für das erwählte Volk in seiner Beziehung zu Gott.

Der Text spricht jedoch nur von der Ablösung der damaligen Führung Israels: Die "Weingärtner" sind im Kontext (Mk 11,27) die Tempelpriester, die zur Oberschicht der Sadduzäer gehörten und als "Pächter" das von Gott geschenkte Land Israel verwalteten. Sie werden im Stil prophetischer Gerichtspredigt fortgesetzten Unrechts angeklagt. Das aus der biblischen Geschichtsschreibung bekannte Motiv des Prophetenmordes wird gesteigert bis hin zur Tötung des Gottessohns. Dies ist als innerjüdische Distanzierung zu verstehen: Die Gemeinden, an die das Markusevangelium sich wandte, lebten noch im Raum Palästinas auf dem Boden jüdischer Traditionen.

Demgemäß heißt es in der Fortsetzung des Textes:

Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Psalm 118,22-23): 'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen'? - Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte.

Israels religiöse Führer, nicht das jüdische Volk insgesamt werden hier als Gegner Jesu und Betreiber seines Todes genannt. Der ochlos, die Menge der Armen, steht dagegen auf Jesu Seite. Gerade durch die "Verwerfung" des Gottessohns - seine Ablehnung durch die damaligen Vertreter des Tempelkults - erfuhr der jüdische Gottesdienst seinen krönenden Abschluss: Jesus wurde zum Schlussstein des Tempelbaus, der das Gewölbe zusammenhält.

Die Metapher erinnert daran, dass Jesu Kreuz und Auferstehung das Israel zugesagte Heil allen Völkern vermittelt. Das begründet den unauflösbaren Zusammenhang zwischen jüdischem und christlichem Gottesdienst. Eben dies wurde nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 und der Zerstreuung der palästinischen Juden 132 von christlichen Theologen vergessen.

Die Selbstverfluchung

Im Matthäusevangelium findet man im Kontext des Verhörs Jesu vor Pilatus einen Satz, in dem das jüdische Volk die Verantwortung für Jesu Hinrichtung übernimmt, nachdem der römische Statthalter dies für sich ablehnte und das Volk befragte:

Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! (Mt 27,25).

Diese reaktionelle Aussage - sie steht nur bei Matthäus - stellt die Schuld der anwesenden Volksmenge (griechisch laos) an Jesu Tod fest. Dies wurde jedoch bald auf alle Nachkommen Israels bezogen und diente seit dem 4. Jahrhundert als Rechtfertigung ihrer Ausgrenzung und blutigen Verfolgung. Er wanderte als feste Stereotype in die Adversos-Iudaeos-Literatur der Kirchenväter ein. Unter Berufung darauf konnte das Erschrecken über die eigene Schuld am Leiden der Juden unter christianisierten Völkern Europas abgeblockt werden. Die kirchliche Verantwortung für die antijudaistische Volksfrömmigkeit und die oft im Kontext kirchlicher Passionsspiele ausgelösten Pogrome an jüdischen Gemeinden wurde dann als Erfüllung des "Fluchs" auf die Opfer zurückprojiziert.

Heutige Theologen und Exegeten wie Klaus Haacker wenden sich unter dem Eindruck dieser Wirkungsgeschichte dem Text zu und stellen fest:

  • Matthäus dachte hier nicht daran, dass Jesu Gegner vor Pilatus die Schuld für einen Justizmord übernahmen; denn Jesus wurde als Messiasanwärter nach geltendem Recht verurteilt. Gemeint war nur, dass sie ihre Überzeugung betonten, dass Jesus den Tod verdient habe und sich bereit erklärten, das Risiko einer Fehlentscheidung zu tragen. Dies gab allerdings nach übereinstimmender Darstellung der Evangelien den letzten Anstoß zur Entscheidung des Pilatus, Jesus kreuzigen zu lassen.
  • Ein Todesurteil für einen Unschuldigen war nach geltendem jüdischen Recht nur an der Person zu "sühnen", die es verursacht hatte (Dtn 19, 16-21). Sippenhaft schließt die Tora aus (Dtn 24, 16). Die Einbeziehung der Kinder in diese "Sühne" widersprach also jüdischem Rechtsverständnis.
  • Gleichwohl galt ungesühntes Unrecht in jüdischer und christlicher Tradition allgemein als Auslöser für Unheil in der Folgegeneration (z.B. 1. Kön 22; 2. Kön 1 und 9; Est 7, 10; 9, 6-14 und öfter).
  • Hinter der matthäischen Gestaltung der Passionsgeschichte Jesu stand außer Psalm 22 wahrscheinlich zudem Daniel 6: Auch dort verurteilt ein heidnischer Machthaber einen frommen Juden (Daniel) widerstrebend und gegen seine persönliche Überzeugung zum Tod. Der König fordert ihn auf, an Gottes Rettung zu appellieren (v. 17), so wie auch Jesu Feinde den Gekreuzigten verspotten:
Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat!

(Mt 27, 43; Zitat aus Ps 22, 9, ebenfalls nur bei Matthäus). Daniels Löwengrube wurde mit einem großen Stein "versiegelt", und eben diesen Ausdruck verwendete nur Matthäus für das Verschließen des Grabes Jesu.

Dies macht wahrscheinlich, dass der Evangelist die Selbstverfluchung nur auf die Folgegeneration bezog, die er vor Augen hatte: die Jerusalemer Juden, die die Tempelzerstörung und grausame Massaker der Römer erlitten hatten. Die "Blutschuld" am Tod Jesu erfüllte sich für ihn bereits mit diesem Ereignis, auf das er mehrfach anspielt (Mt 22,7; 23,34ff). Der Satz war also keine Prognose des weiteren jüdischen Schicksals für alle Zeiten.

Das Pharisäerbild der Evangelien

Die Pharisäer waren eine Laienbewegung, die die Einhaltung der Tora im jüdischen Alltag unter den römischen Besatzern lehrte und zur Zeit Jesu schon verschiedene "Schulen" kannte. Sie wurden nach der Tempelzerstörung 70 zur führenden Gruppe des Judentums.

Die Evangelien stellen sie - historisch unzutreffend - als einheitliche Gruppe und Vertreter einer streng "orthodoxen", am "Buchstaben" der Gebote und ihrer wörtlichen Befolgung haftenden Frömmigkeit dar, die sie mit einer willkürlichen, eigene Machtinteressen spiegelnden Auslegung ergänzen. Sie selbst befolgten sie angeblich nur äußerlich, um vor dem Volk gut dazustehen. Deshalb hätten sie Anstoß daran genommen, dass Jesus sich gerade den "Unreinen", die sie verurteilten, zuwandte (z.B. Mk 7,1-23). Sie sollen Jesu erste Feinde gewesen sein, die ihn wegen seiner Gesetzesverstöße töten lassen wollten (Mk 3,6).

Demgegenüber treten sie gerade in Jerusalem als Jesu Gesprächspartner und Fürsprecher auf, die seiner Toraauslegung zustimmten (Mk 12,28-34) und den Toten als gerechten Juden würdig bestatteten (Mk 15,46). Damit bewahrte der Passionsbericht der Urgemeinde die Erinnerung an die historische Nähe Jesu zu dieser jüdischen Gruppe. Tatsächlich war er höchstwahrscheinlich selbst ein von damaligen Pharisäern ausgebildeter Schriftlehrer und diskutierte häufig mit ihnen über die richtige Auslegung der Gebote Gottes, wobei er wie Hillel die Überordnung der Nächstenliebe über den Dekalog vertrat.

Das Kapitel Mt 23 verzerrte das Pharisäerbild jedoch entgegen den historisch bekannten Tatsachen:

Sie binden schwere Bürden und legen sie den Menschen um den Hals; aber sie selbst wollen sie nicht mit dem Finger anrühren...
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr der Witwen Häuser fresst und verrichtet zum Schein lange Gebete! ...
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Becher und Schüsseln außen rein haltet, aber innen sind sie voll Raub und Gier!

Diese Vorwürfe legten den Grund für die mittelalterlichen Klischees vom arbeitsscheuen, geldgierigen, betrügerischen und heuchlerischen Charakter des "Wucherjuden". Die polemische Reihung gipfelt in der Ankündigung der Tempelzerstörung, mit der das Judentum sein Glaubenszentrum verlor, und der Aussage:

Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!

So wurde den Juden jeder eigene Zugang zu Gott abgesprochen; ihre einzige Zukunft lag in der Anerkennung Jesu als Gottes Gesandtem.

Die Christen vergaßen dann jedoch weithin, dass das jüdische Volk, das mit Jesus zum Passahfest nach Jerusalem kam, genau dieses Lob des Gottgesandten schon ausrief (Mt 21,9; Mk 11,9) und Jesus dieses Lob bestätigte, indem er die den Juden gegebene prophetische Verheißung des Völkerfriedens durch seinen Eselsritt bekräftigte (ebd.). Die grausamen Pogrome und Kreuzzüge, die im Namen dieses Friedensstifters geführt wurden - auch und gerade gegen seine Volks- und Glaubensgenossen -, machen es den meisten Juden bis heute unmöglich, ihn als ihren Messias, den Bringer dieses Friedens und Gottes Abbild zu loben.

Die "Satanssynagoge"

Das Johannesevangelium, das aus demselben Tradentenkreis wie die Johannesbriefe und die Offenbarung des Johannes stammt, setzt bereits deutlich die Trennung christlicher Gemeinden Kleinasiens vom Judentum voraus. Das zeigt sich etwa daran, dass es nicht mehr bestimmte jüdische Gruppen, sondern "die Juden" insgesamt als Gegner Jesu darstellt. Sie lehnen Jesus als "Licht der Welt" (Offenbarer des Willens Gottes) ab und vertreten damit die alte, von Satan beherrschte, von Christus bereits besiegte Welt.

Auf ihre Entscheidung gegen ihn, die ihn mit dem Tod bedroht, sagt Jesus hier (Joh 8,44ff):

Ihr habt den Teufel zum Vater...Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit...Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht...weil ihr nicht von Gott seid.

Der Satz scheint das Judentum als "Satansbrut" zu verdammen und als teuflischen Gegenspieler Jesu zu fixieren. Im Kontext jedoch bekräftigt Jesus Israels Erwählung zum Volk Gottes ausdrücklich (v. 37). Doch angesichts akuter Lebensgefährdung durch Vertreter des Judentums behaftet er sie auf ihr Übereinstimmen mit seinem eigentlichen Feind, dem Satan (v. 41), der so als ihr "Vater" (Zeuger, Auftraggeber) erscheint. Täten sie Gottes Willen, so wären sie seine "Kinder" (1. Joh 2, 29f).

Es geht also um eine aktuelle Situation, keine generelle Verurteilung des Judentums. Darin spiegelt sich die Verfolgung johannäischer Gemeinden. Das bestätigen die Sendschreiben der Johannesoffenbarung an Smyrna und Philadelphia, wo es zweimal sinngleich heißt (Off 2,9f; 3,8f)

...die da sagen, sie seien Juden, und sind es nicht, sondern sind des Satans Synagoge...

Der Ausdruck ist auf eine den Adressaten bekannte Redewendung und ihre aktuelle Lage bezogen. In ihren Orten waren Juden offenbar in der Mehrheit und grenzten die Christen als Häretiker aus. Der Evangelist tröstet sie: Nur Gott selbst könne und werde die ihnen in den Juden begegnende feindliche Welt überwinden (v.9):

Siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe.

Darum gilt die Zusage auch für ihre Feinde (Joh 3,16):

Alle, die an ihn glauben, werden das ewige Leben haben.

Demgemäß hält das Evangelium gerade gegenüber Nichtjuden fest:

Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir aber wissen es: Denn das Heil kommt von den Juden! (Joh 4,22)

Trotzdem wurde die Heilszusage gegen Juden gewendet und sinngemäß so umgedeutet: "Alle, die nicht an ihn glauben, müssen dazu gezwungen oder getötet werden."

Gesetz oder Evangelium

Der ehemalige Pharisäer Paulus von Tarsus gilt christlichen Theologen oft als Kronzeuge der Unvereinbarkeit von Christentum und Judentum. Denn im Galaterbrief stellt er den Glauben an das Evangelium in einen ausschließenden Gegensatz zu den "Werken des Gesetzes": Christus habe aufgedeckt, dass die Befolgung der jüdischen Tora die göttliche Rechtfertigung nicht erwerben könne. Alle, die dieses versuchten, stünden unter dem "Fluch" des Gesetzes, an dem Christus zu Tode kam (Gal 3,10-13), und fielen aus Gottes Gnade heraus (Gal 5,4). Weil Christus "das Ende des Gesetzes" sei, genüge der Glaube an ihn (Röm 10,4).

Damit habe Paulus, so die verbreitete Deutung, den jüdischen Heilsweg insgesamt als überholt dargestellt. Der einzige Weg zum Heil führe auch für sie über die Anerkennung Christi, also die Aufgabe des Judentums durch die Taufe. Dieses Kontrastschema von "Gesetz und Evangelium" hat vor allem Martin Luther zu einer Art Pädagogik Gottes erhoben: Indem der Mensch sein Scheitern am Gesetz - dem offenbarten Willen Gottes - erfahre, werde er der allein rettenden Gnade Christi in die Arme getrieben.

Diese Deutung übersieht jedoch,

  • dass das Judentum selbst ein solch eindimensionales Verständnis von "Werkgerechtigkeit" nicht kennt, sondern als Gottes aus Gnade erwähltes Volk mit Gottes übergreifender Barmherzigkeit auch gegenüber denen, die das Gesetz übertreten haben, rechnet. Während Israels Gott die Väterschuld nur in den nächsten drei Generationen verfolgen will, sagt er Gnade für 1000 Generationen zu (Ex 34,6f);
  • dass die Paulusbriefe, die dieses Thema behandeln, allesamt an Christen, nicht Juden gerichtet sind und sich mit verschiedenen Abwegen ihres Glaubens, nicht mit dem Judentum an sich befassen;
  • dass Christus für Paulus die ganze Tora Israels durch seine Selbsthingabe am Kreuz erfüllt und damit ihren Grundsinn bekräftigt hat;
  • dass Gottes Bund mit seinem Volk Israel nach Paulus nie gekündigt, sondern am Kreuz Jesu endgültig bestätigt wurde und der Grund für die Predigt des Evangeliums bleibt (Röm 11,2.32).

Paulus setzte sich intensiv mit der Tatsache auseinander, dass seine Brüder, die Juden, Jesus mehrheitlich nicht als ihren Messias anerkannten. Seine Aussagen dazu - vor allem Römerbrief 9-11 - gelten heute als maßgebend für die Auslegung des NT insgesamt wie für die lutherische Rechtfertigungslehre. So übersetzt man Röm 11,4 heute:

Christus ist das Ziel [griech. telos] des Gesetzes.

Eben darum macht Paulus die jüdische Tora in dem Sinn, wie Jesus sie vorlebte, für alle Christen verbindlich (Röm 13,8-10):

Wer den anderen liebt, der erfüllt das Gesetz.

Von Judenmission zu Heidenmission

Die Apostelgeschichte unterschied zwar historisch korrekt Sadduzäer als Verfolger und Pharisäer als Fürsprecher der Urchristen (Apg 5,17ff), periodisierte aber die Missionsgeschichte und legte so ebenfalls Israels Ablösung durch die universale Kirche nahe. Damit konnte die Mehrheit der Heidenchristen ihre Überlegenheit über das "verworfene" Judentum begründen.

Die Missionspredigt des Stefanus etwa polemisierte (Apg 7,51ff):

Ihr Halsstarrigen, mit verstockten Herzen und tauben Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem Heiligen Geist, wie eure Väter, so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt?

Ähnlich scharf hatte Jesus selber im Anschluss an die Gerichtspropheten seine Mitjuden kritisiert (Beleg).

Forschungsgeschichte

Dass das Neue Testament Antijudaismus enthält, begründet und rechtfertigen konnte, erkannte lange vor 1933 schon der französische Altertumsforscher Jules Isaac (Jesus et Israel 1900). Er erklärte die antijüdische Polemik im NT - wie antichristliche Polemik im späteren Talmud - aus dem wechselseitigen Abgrenzungsprozess von christlichen und jüdischen Gemeinden im Kontext des jüdisch-römischen Konflikts in Palästina des 1. Jahrhunderts. Im Einzelnen wies er nach, dass

  • das Pharisäerbild der Evangelien das Judentum verzerrt darstellte und damit zur Verachtung der Juden im römischen Reich beitrug,
  • Jesu Gerichtsworte an seine Generation (analog zu den Propheten Amos, Hosea, Jeremia usw.) als endgültige Verwerfung aller Juden missdeutet wurden,
  • die Polemik des Rabbiners Jesus gegen andere Pharisäer im Johannesevangelium zum Klischee „des Juden“ umgedeutet wurde
  • das Verstockungsmotiv, ursprünglich Umkehrpredigt von Judenchristen an Juden in prophetischer Tradition, zum Merkmal des Judentums verallgemeinert wurde.

Der exegetische Stellenwert judenfeindlicher Aussagen im NT

"Judenfeindlichkeit" ist demnach kein generelles Kennzeichen urchristlicher Theologie. Sie wird heute großenteils aus der historischen Situation erklärt und relativiert. Vor allem aber wird erkannt, dass für die urchristliche Verkündigung der Petruspredigten ebenso wie für Paulus der "ungekündigte Bund" konstitutiv ist, ohne den es für Christen kein Heil gibt.


(Fortsetzung folgt...)

Literatur

  • Carsten Peter Thiede/ Urs Stingelin: Die Wurzeln des Antisemitismus. Judenfeindschaft in der Antike, im frühen Christentum und im Koran. Brunnen-Verlag, Gießen 2002, ISBN 3765512648
  • Rosemary Radford Ruether: Nächstenliebe und Brudermord. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus. München 1978
  • R. Kampling, Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversos-Judaeos-Literatur. In: H. Frohnhofen (Hrsg.): Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Hamburg 1990, S. 121-138
  • Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge. Neukirchener Verlag 2002, ISBN 3788718366
  • Schalom Ben-Chorin: Antijüdische Elemente im Neuen Testament. In: Evangelische Theologie (Zeitschrift) Band 40, 1980, S. 203-214
  • Rainer Kempling: Im Angesicht Israels. Studien zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel. Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2002, ISBN 3460004711
  • Dagmar Henze, Claudia Janssen, Stefanie Müller, Beate Wehn: Antijudaismus im Neuen Testament? Grundlagen für die Arbeit mit biblischen Texten. Christian Kaiser Verlag, TB 149, Gütersloh 1997, ISBN 3579051490


Vorlage:Navigationsleiste Judenfeindlichkeit