Die Antisemitismusforschung ist der Versuch, die komplexen Ursachen und Formen des modernen, völkisch-national und rassistisch geprägten Antisemitismus wissenschaftlich zu untersuchen und Erklärungsansätze dafür zu finden. Diese nennt man Antisemitismustheorien.
Überblick
Erklärungen für Judenfeindlichkeit und Antisemitismus werden seit der Aufklärung des 18. Jahrhundert angeboten, haben also seine Entstehung von Beginn an begleitet. Eine systematische wissenschaftliche Forschung wurde daraus jedoch erst seit der Erfahrung des Holocaust. Die neuere Antisemitismusforschung vieler Länder richtet besondere Aufmerksamkeit auf die Aufhellung seiner unmittelbaren und mittelbaren, kurz- und langfristigen Ursachen.
Sie ist kein fest umrissenes Fachgebiet, sondern umgreift vielfältige Forschungsansätze und wissenschaftliche Teildisziplinen, die sich dem Phänomen des Antisemitismus von sehr verschiedenen Seiten nähern. Sie thematisiert daher sowohl die Einzelepochen wie auch die übergreifenden Zusammenhänge - etwa zwischen christlichem Antijudaismus und Rassismus -, sowohl die Kontinuitäten in allen Formen von Judenfeindlichkeit wie auch ihre Differenzen und Transformationen im Lauf der Geschichte Europas.
Die heterogenen und multinationalen Forschungsansätze haben eine Institutionalisierung der Antisemitismusforschung lange Zeit erschwert. Erst 1982 kam es unabhängig voneinander zur Einrichtung zweier universitärer Zentren:
- dem Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebräischen Universität Jerusalem,
- dem Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.
Das Jerusalemer Institut vertritt einen weiten Begriff von Antisemitismus als Oberbegriff für alle Formen von Judenfeindlichkeit und untersucht diese von der Antike bis zur Gegenwart in allen möglichen Ländern. Einen Überblick über seine wie auch amerikanische und deutsche Forschungsergebnisse bietet die vierbändige Reihe Current Research on Antisemitism, herausgegeben von Herbert A. Strauss und Werner Bergmann.
Das Berliner Institut dagegen verwendet den Begriff im engeren Sinne für die "moderne", völkisch-rassistisch geprägte Judenfeindlichkeit, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland entstanden ist. Ihr Schwerpunkt liegt daher auf der europäischen, besonders der deutschen Geschichte. Es ist interdisziplinär aufgebaut und bemüht sich um eine Bündelung der in verschiedenen Disziplinen durchgeführten Einzeluntersuchungen. Dazu gibt es das Jahrbuch für Antisemitismusforschung heraus.
Forschungsansätze
Aufklärerische Kritik am religiösen Vorurteil
Die christliche Theologie des Mittelalters projizierte die Lage und das Leiden der jüdischen Minderheit in christlich dominierten Gesellschaften stets als "Strafe" oder "Fluch Gottes" auf die Betroffenen zurück und wirkte damit als sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Demgegenüber begann die Aufklärung, diese Deutungsmuster zu durchbrechen und als irrationalen Aberglauben zu kritisieren. Sie wurden nun nicht länger als eine Art Naturgesetz, sondern als zweck- und interessenbestimmte Vorurteile betrachtet, die es durch Menschenbildung und sozialen Fortschritt aufzuheben gelte. Dabei wurden die Juden nicht mehr als heilsgeschichtlicher Gegenpol zur jenseitigen Erlösung im Christentum, sondern als gleichberechtigte und daher zu emanzipierende Staatsbürger eingeordnet.
Die aufgeklärte Kritik am mittelalterlichen "barbarischen" Judenhass klammerte die jüdische Religion aus der Erklärung für die christlichen Vorurteilsstrukturen aus. Sie betraf als Kritik an jeder Religion das Judentum indirekt mit und zielte auf seine Aufhebung in einer von einer religionslosen Vernunft bestimmten Humanität.
Die klassische Formulierung dieser säkularen Utopie findet man bei Gotthold Ephraim Lessing, der in seinem Stück Nathan der Weise einerseits die Toleranz der drei großen Weltreligionen beschwor, andererseits wenige Jahre später mit der Bildung des Menschengeschlechts die notwendige Aufhebung des "jüdischen Kinderglaubens" propagierte und damit seinerseits das konkrete Judentum seiner Zeit ablehnte.
Marxistische Ideologiekritik
Mit dem Aufsatz Zur Judenfrage (1843) von Karl Marx begann die Tradition der marxistischen Erklärung, die den Antisemitismus als manipulative Ablenkung von realen Klassengegensätzen begriff, also als eine Ersatzideologie zur Kanalisierung sozialer Unzufriedenheit.
Sie transformierte den liberalen Gedanken der Emanzipation des Juden zum Staatsbürger, indem sie mit der Überwindung der Klassengesellschaft auch die Aufhebung aller Religionen und bloß individuellen Religiösität erwartete und erkämpfen wollte.
Auch hier wurde also das konkrete zeitgenössische Judentum - ebenso wie der Hass dagegen - als zu überwindendes "Problem", Begleiterscheinung und Ausdrucksform des Kapitalismus eingeordnet. Dabei wurde Antisemitismus zwar erstmals als Ausdruck gesellschaftlicher Interessen begreiflich, andererseits wurde er fast ausschließlich als interessengebundene Manipulation des Bewusstseins erklärt.
Diese Manipulationsthese wurde nach 1945 in der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung dann zu einem statischen Erklärungsmuster gemacht. So schrieb etwa der DDR-Historiker Walter Mohrmann 1972 in Antisemitismus, Ideologie und Geschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (S. 11):
- Judenhaß und Judenverfolgungen wurden in der Klassengesellschaft dann verbreitet und praktiziert, wenn die herrschende Ausbeuterklasse sich genötigt sah, die von ihr unterdrückten Volksmassen durch demagogische Politik vom Klassenkampf fernzuhalten. Antisemitismus ist ein spezifisches Mittel, um die gesellschaftlichen Ursachen der Scheidung zwischen Besitzenden und Besitzlosen, der erbarmungslosen Knechtung der Produzenten durch die Besitzer der Produktionsmittel zu verschleiern.
Bei dieser einlinigen Deutung wurde negiert, dass Antisemitismus zwar tatsächlich überwiegend in reaktionären Interessengruppen verbreitet, aber gerade kein auf eine "herrschende Klasse" begrenztes Phänomen war. Vielmehr zog er sich durch alle Bevölkerungsschichten, so dass seine Publikation in hunderten Zeitungen, die Bildung antisemitischer Parteien und die in der Landbevölkerung verwurzelte Judenfeindschaft einander wechselseitig begünstigten, "wecken" und steigern konnten.
Ethnozentrische und rassistische Erklärungsmodelle
Diese Theorien erklären einen irrationalen Judenhass in der Bevölkerung nicht aus religiösen Vorurteilen, also falschem Denken, oder veränderbaren Gesellschaftsstrukturen, sondern aus unveränderlichen Volks- und Rasse-Eigenschaften, die einen unvermeidbaren Dauerkonflikt erzeugen.
Sie behaupten also einen unaufhebbaren, durch keine Geistesbildung oder soziale Veränderung überwindbaren Gegensatz zwischen den Juden und allen übrigen Völkern bzw. "Rassen". Dessen Lösung ist dann nur durch Vertreibung oder Ausrottung aller Juden vorstellbar, wie sie historisch im Gefolge dieses aggressiven Nationalismus und Rassismus dann auch versucht wurde.
Solche "Erklärungen" waren wesentlicher Bestandteil der antisemitischen Propaganda selber und gaben ihr den Schein einer wissenschaftlichen Debatte, die "die Judenfrage" tief im öffentlichen Bewusstsein und Unbewusstsein verankerten. Sie begannen mit unverfänglichen Aufsätzen in relativ unbedeutenden Vereinsblättern um 1860 und endeten mit groß angelegten "Forschungen zur Judenfrage" unter den Nazis.
Erklärungsansätze der Weimarer Zeit
Erst nach dem Ersten Weltkrieg findet man Analysen der Judenfeindschaft, die heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen ansatzweise genügen. Hierzu zählen
- der gruppensoziologische Erklärungsversuch von Fritz Bernstein,
- der sozialpsychologische von Arnold Zweig (den Max Frisch in Andorra in gewisser Weise aufgreift)
- der organisationsgeschichtliche von Kurt Wawrzinek,
- der psychoanalytische von Hugo Valentin.
Frankfurter Schule
Das Frankfurter Institut für Sozialforschung versuchte schon im Vorfeld der nationalsozialistischen Machtergreifung, die Anfälligkeit von Arbeitern und Kleinbürgern für den Antisemitismus und Faschismus empirisch, soziologisch und individualpsychologisch zu erklären. Die Studien zum "autoritären Charakter" (Erich Fromm) und zur "Dialektik der Aufklärung" (Max Horkheimer und Theodor W. Adorno) verbanden diese Ansätze zu einer umfassenden Kulturkritik der Neuzeit.
Darin erhielt der Aufsatz "Elemente des Antisemitismus" von 1944 als Abschluss und Höhepunkt dieser Studien besonderen Rang.
Individual- und sozialpsychologische Deutungen
Krisentheorie der Moderne
Dieser Erklärungsansatz ist politik- und sozialgeschichtlich ausgerichtet und betrachtet Antisemitismus im Zusammenhang mit krisenhaften Umbrüchen, ökonomisch tiefgreifenden Gesellschaftsveränderungen und politischen Interessen, die mit dem Entstehen der Nationalstaaten Europas einhergingen.
Dabei wird der seit 1870 in Deutschland auftretende "moderne", zunehmend rassistisch begründete Antisemitismus von früheren und weiterbestehenden Formen der Judenfeindlichkeit deutlich abgesetzt. Die Entstehung einer antisemitischen Bewegung im Kaiserreich wird auf ein "Ursachengeflecht" politischer, sozialer und ökonomischer Faktoren zurückgeführt. Dazu gehören u.a.
- die Industrialisierung unter frühkapitalistischen Bedingungen,
- die wirtschaftliche Depression nach dem "Gründerkrach" von 1873,
- der Niedergang des Liberalismus und der Ideale der französischen Revolution in der Phase der Restauration nach der gescheiterten Märzrevolution von 1848,
- eine nationale und kulturelle "Identitätskrise", die seit etwa 1875 durch übersteigerten Nationalismus und Antisemitismus als negativem Gegenpol kompensiert wurde,
- die Besonderheiten der rechtlichen und politischen Emanzipation jüdischer Deutscher, die sich fast 100 Jahre lang hinzog und zur Verfestigung antijüdischer Klischees und einer problematischen "Judenfrage" beitrug.
Nach 1945 hat sich dieses Erklärungsmodell, das auch Impulse von Forschungen der Weimarer Zeit und der Frankfurter Schule aufgriff, in der Bundesrepublik weithin durchgesetzt. Einer seiner Vertreter ist Hans Rosenberg, der in seiner Studie Große Depression und Bismarckzeit 1967 empirisch nachweisen konnte, dass zwischen der Wirtschaftsdynamik und dem Wachstum des Antisemitismus ein enger Wirkungszusammenhang bestand:
- Seit 1873 stieg der Antisemitismus, wenn der Aktienkurs fiel. (S. 96)
Er betonte auch, dass nur wenige Zeitgenossen die radikalen Struktur- und Konjunktur-Veränderungen damals durchschauten, so dass irrationale Erklärungen dafür umso leichter Fuß fassen konnten. Diese hatten einen gewissen Schein von Plausibilität, weil traditionell tatsächlich relativ viele Menschen jüdischer Herkunft im Banken- und Kreditgewerbe tätig waren, während die Handwerker, Landarbeiter und Industriearbeiter unter ihnen Absatzkrisen, Pleiten, Inflation und Arbeitslosigkeit ebenso ausgeliefert waren wie andere Deutsche.
Ergänzend wies Reinhard Rürup in seinem Aufsatz Emanzipation und Antisemitismus 1975 auf politische Interessen hin: Reaktionäre feudalistische oder nationalistische Politiker hätten die im Volk verbreitete Bereitschaft zur Suche nach Sündenböcken gezielt instrumentalisiert, um das Kleinbürgertum in das antiliberale Lager einzubinden. So habe die Funktion des Antisemitismus objektiv darin gelegen,
- von den tatsächlichen Ursachen sozialer Konflikte und Krisen [abzulenken] und zugleich ein Ventil für kollektive Unzufriedenheit und Aggressionstriebe [zu bieten]. (S. 123)
Norbert Kampe untersuchte dazu 1988 besonders das Verhältnis von Studenten und 'Judenfrage' im Deutschen Kaiserreich mit dem Ergebnis, dass auch der Ausschluss der jüdischen Kommilitonen aus den meisten Studentenverbindungen um 1890 vor dem Hintergrund tiefer Existenzängste des Bildungsbürgertums zu sehen sei. Der akademische Arbeitsmarkt war damals so stark geschrumpft, dass Abschottung gegenüber Aufsteigern und Außenseitern, zu denen vor allem die gerade erst zur Universitätslaufbahn zugelassenen Juden gehörten, nahezuliegen schien. So ging die ursprünglich liberal gesinnte Akademikerzunft ein Mentalitätsbündnis mit den wilhelminischen Eliten auf Kosten der Juden ein. Besonders in den Burschenschaften, so Kampe, sei diese Allianz von Antisemitismus, Nationalismus und reaktionärer Kaisertreue dann bis weit in die Weimarer Republik hinein wirkungsmächtig geworden.
Kampes Studie ließ jedoch außer Acht, dass gerade unter Theologiestudenten, die keine jüdischen Konkurrenten fürchten mussten, der Judenhass stark verbreitet war. So zeigten sich dann auch christlich-konfessionelle Korporationen anfällig für den Rassenantisemitismus. Dabei kann die schwierige Perspektive für Pfarramtsanwärter, die seit 1885 durchschnittlich 5 Jahre auf eine Anstellung warten mussten, eine Rolle gespielt haben.
Der traditionelle und im 19. Jahrhundert keineswegs überwundene, sondern vielfältig weiterwirkende Antijudaismus spielt für die Erklärung des Rasse-Antisemitismus in den sozialgeschichtlich orientierten Forschungen kaum eine Rolle. Umgekehrt überbewerten kirchengeschichtliche Studien wiederum oft die rein geistesgeschichtliche Kontinuität zwischen beiden Formen der Judenfeindlichkeit. Dass bereits der mittelalterliche Judenhass oft ökonomische Hintergründe hatte und nachaufklärerische "Erlösungsutopien" religiöse Feindmotive beerbten und transformierten, wurde lange Zeit in beiden Forschungsrichtungen unterbelichtet.
Einstellungs- und Meinungsforschung
Kirchengeschichtliche Studien
Kirchen- und theologiehistorische Arbeiten gehen seit 1945 vor allem der Frage nach, welchen Anteil das Christentum an der Entstehung des modernen Antisemitismus hatte, wie antijudaistische Stereotypen der Neuzeit überliefert wurden und wie sie in den Volkstums- und Rassentheorien des 19. Jahrhunderts weiterwirkten.
Ausgangspunkt dafür waren etwa die Aussagen von Julius Streicher, dem Herausgeber des Stürmer, in den Nürnberger Prozessen. Er berief sich in seiner Verteidigung ausdrücklich auf Martin Luthers Schrift Von den juden und ihren lügen (1543), um ihn als Ahnherrn des Antisemitismus zu vereinnahmen und seiner rassistischen Hetzpropaganda gegenüber den alliierten Anklägern höhere Weihen zu verleihen.
Im protestantischen Bereich wird Luthers später Judenhass daher oft als Bindeglied zwischen mittelalterlichem Antijudaismus und neuzeitlichem Antisemitismus, besonders in seiner spezifisch deutschen Ausprägung angesehen. Man zog eine gerade Traditionslinie von ihm über den lutherischen Hofprediger Adolf Stoecker zu Julius Streicher, ja sogar zu Adolf Hitler selbst, der in "Mein Kampf" 1923 geschrieben hatte:
- Indem ich mich des Juden erwehre, erfülle ich das Werk des Herrn.
Tatsächlich wirken Luthers Forderungen an die Fürsten von 1543 fast wie eine Handlungsanleitung für die Reichskristallnacht von 1938. Dabei wurde jedoch die religiöse Komponente häufig isoliert von soziologischen und psychologischen Entstehungsfaktoren betrachtet. Dies konnte zu dem falschen Bild einer quasi naturgesetzlichen, "ewigen" Judenfeindschaft, die im Lauf der europäischen Geschichte lediglich ihre äußerliche Gestalt gewechselt habe, beitragen.
Die Arbeit von Stefan Lehr (Antisemitismus - religiöse Motive im sozialen Vorurteil) von 1974 befasste sich gezielt mit den weiterwirkenden religiösen Motiven im Antisemitismus seit 1870. Er stellte zwischen 1870 und 1900 allein etwa 130 Ritualmord-Anklagen gegen Juden in zahlreichen Ländern Europas fest, die fast immer mit der "Christus-" bzw. "Gottesmord"-Anklage verbunden waren und häufig in der Karwoche (vor dem jährlichen Ostern) erfolgten. In ihr sieht er den Hauptfaktor für die Aktivierung von Pogromen und gezielter "Judenhetze" von meist kirchlichen Agitatoren des 19. Jahrhunderts.
Damit erhärtete er die Vermutung, dass keine eindeutige, weder zeitliche noch inhaltliche Abgrenzung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus möglich ist, sondern sich christliche und rassistische Vorurteile gegenseitig durchdrangen und verstärkten. Er sprach hier von einem "Wurzelgeflecht" zwar verschiedener, aber nie isoliert auftretender, sondern sich vielfältig beeinflussender religiöser, sozialer, politischer und ökonomischer Motive für den Judenhass der modernen, besonders der deutschen Industriegesellschaft Mitteleuropas.
Auch konnte er zeigen, dass es gerade bürgerliche, sogar theologsich gebildete Parteipolitiker waren, die mit kampagnenartigen Vortragsreisen gegen das Nachlassen der religiösen Judenfeindlichkeit bei der Landbevölkerung vorgingen und diese am Leben erhielten. Diese Agitatoren seien keineswegs skurrile Außenseiter gewesen, sondern hätten in der Kaiserzeit großen publizistischen Einfluss gehabt, wenn auch ihre direkten politischen Erfolge gering blieben.
Der Antisemitismus sei demnach keine Randerscheinung im deutschen Kaiserreich gewesen, sondern fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses um das Verhältnis von Nation und Religion, der wiederum eng mit den Interessen der politischen Eliten verbunden gewesen sei.
Kulturgeschichtliche Studien
Forschungen verschiedener Fachdisziplinen befassen sich mit den Ideen, Bildmotiven, Mentalitäten und kulturellen Denkmustern, die den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts mit früheren Formen von Judenfeindlichkeit verbinden oder ihn davon unterscheiden. Sie betonen jedoch meist eher die Kontinuität als die Diskontinuität. Anders als das sozialgeschichtliche Modernisierungs- und Krisenmodell bezogen sie sich vor den 60er Jahren kaum auf eine gemeinsame kritische Gesellschaftstheorie.
Heute dagegen berücksichtigen auch kulturgeschichtliche Studien eher sozialpolitische Entstehungsfaktoren und streben eine Synthese von Ideen- und Sozialgeschichte an. Dazu wird zunehmend interdisziplinär geforscht. Beispielhaft dafür ist das Projekt von Herbert A. Strauss am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung von 1983 bis 1987, in dem Kunstgeschichtler, Religions-, Sozial- und Literaturwissenschaftler Bilder von Juden und Judentum in der deutschen populären Kultur 1900 bis 1950 untersuchten und damit einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung der Vorgeschichte des Rasseantisemitismus leisteten. Aus diesem Projekt gingen bekannte Arbeiten von Rainer Erb, Werner Bergmann, Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt und Peter Dittmar hervor (siehe Literaturverzeichnis).
Ein Ergebnis dieser Studien war, dass religiöse Motive wie der Gottesmordvorwurf und die Ritualmord-Anklage, aber auch die Ahasverlegende nach der Aufklärung nicht verschwanden, sondern tief im kollektiven Bewusstsein besonders der Landbevölkerung verankert blieben. Michael Schmidt erklärt dies als im Mittelalter "erlernte Feindschaft", die man gerade in Krisenzeiten umso mehr festhielt und besonders in Konfliktsituationen dann aktivierte.
Solche Bilder blieben aber auch im säkularen Rasse-Antisemitismus wirksam, so dass auf der Bild- und Motivebene eine starke Kontinuität zum Antijudaismus besteht. Hier zog Arthur Hertzberg eine Linie vom Judenhass antiker Bildungsbürger wie Tacitus, auf die sich französische Aufklärer wie Voltaire beriefen, zum Antisemitismus. In Deutschland sieht Eleonore Sterling eher die Romantik, die auf den Rationalismus der Aufklärer reagierte, als dessen Wurzel an.
Paul Rose vertrat demgegenüber die These vom "revolutionären Antisemitismus" in Deutschland, den gerade demokratische, auf Veränderung drängende Idealisten seit 1789 vertreten hätten: So seien gerade kirchenfeindliche Philosophen und Intellektuelle von Kant über Herder, Hegel und Fichte bis zu Marx, die eine gerechte Weltordnung anstrebten, oft essentiell judenfeindlich gewesen. Die "Judenfrage" sei für sie kein Randthema, sondern die Kehrseite und Voraussetzung ihrer universalistischen Erlösungsutopien gewesen. Dabei wirkten sich sonstige Gegensätze kaum aus, so dass Liberale wie Karl Gutzkow und Sozialisten wie Marx im Blick auf das Judentum sehr ähnlich dachten und redeten wie die Antisemiten Wilhelm Marr und Richard Wagner.
Weshalb gerade Juden in diesen säkularen Utopien als Feinde von Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit und Humanität erschienen, erklärt Rose ebenfalls mit weiterwirkenden religiösen Stereotypen. Die Ritualmordlegende sei nach der Damaskusaffäre (1840) zum Vorwurf des "Menschenopfers" in Form von Ausbeutung oder "Blutsaugerei" - als Metapher für Kapitalismus - transformiert worden; die Ahasverlegende sei zur ewigen Charaktereigenschaft des Judentums von Egoismus, Materialismus und niedriger Verstocktheit mutiert.
Damit seien diese tradierten antijüdischen Stereotypen noch wirksamer geworden als im Mittelalter, wo das Judentum religiös abgelehnt, aber teilweise sozial geduldet gewesen sei. Denn die rationale Welterklärung ließ Juden keinen Freiraum mehr, sondern verlangte totalitär nach einer Radikallösung: Diese sei dann nur als Totalauslöschung in Form von Assimilation oder Vertreibung und - da diese undurchführbar blieb - Ausrottung vorstellbar gewesen. Daher habe es im deutschen Liberalismus anders als in England oder den Niederlanden kein pluralistisches Konzept gegeben, das Juden eine eigenständige, gleichberechtigte Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft zubilligte.
Antisemitismustheorien der Gegenwart
Sekundärer Antisemitismus
Struktureller Antisemitismus
Unterscheidung von Antisemitismus und Antizionismus
Literatur
- Werner Bergmann, Rainer Erb: Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780-1860. Berlin 1989
- Werner Bergmann, Rainer Erb, Christhard Hoffmann (Hrsg.): Traditions of Prejudice. The Religious and Intellectual History of Antisemitism.
- Werner Bergmann: Psychologische und soziologische Theorien zu Vorurteil und Diskriminierung. In: Herbert A. Strauss, Werner Bergmann (Hrsg.): Lerntag über Vorurteilsforschung heute. Berlin (TU) 1987, S. 9-27
- Werner Bergmann, Rainer Erb: Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebisse der empirischen Forschung 1946-1989. Opladen 1991
- Peter Dittmar: Die Darstellung der Juden in der populären Kunst zur Zeit der Emanzipation. München 1992
- Werner Jochmann: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945. Hamburg 1988
- Norbert Kampe: Studenten und 'Judenfrage' im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus. Göttingen 1988
- Gavin I. Langmuir: Towards a Definition of Antisemitism. Berkeley/Los Angeles 1990
- Stefan Lehr: Antisemitismus - religiöse Motive im sozialen Vorurteil. Christian Kaiser Verlag, München 1974, ISBN 3459008943
- Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt am Main 1959
- Walter Mohrmann: Antisemitismus. Ideologie und Geschichte im Kasierreich und der Weimarer Republik. Berlin (Ost) 1972
- Thomas Nipperdey/Reinhard Rürup: Antisemitismus. Artikel in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache. Band 1, Stuttgart 1972, S. 129-153
- Peter G.J. Pulzer: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914. Gütersloh 1966
- Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991
- Hans Rosenberg: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa. Berlin 1967, S. 94ff
- Reinhard Rürup: Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung. In: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur 'Judenfrage' der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975, S. 115-125
- Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hersg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. (Arnoldshainer Texte Band 85) Haag & Herchen Verlag, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3861371871
- Herbert A. Strauss (Hrsg.): Hostages of Modern Civilization: Studies on Modern Antisemitism 1870-1933/39. 2 Bände, Berlin-New York 1992/93.
- Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. In: Jüdsiches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays. München 1990, S. 13-36
- Arthur Hertzberg: The French Enlightenment and the Jews. The Origins of Modern Antisemitism. New York 1968
- Leon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus. Band V: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz. Worms 1983
- Eleonore Sterling: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850). Frankfurt am Main 1969
- Paul Lawrence Rose: Revolutionary Antisemitism in Germany. From Lant to Wagner. Princeton 1990
- Christhard Hoffmann: Neue Studien zur Ideen- und Mentalitätsgeschichte des Antisemitismus. IN: Jahrbuch für Antisemitismusforschung I (1992), S. 274-285
- Fritz Stern: Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland. Müncehn 1985
- Leon Poliakov: Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus. Wien 1977
- George L. Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1991
- Claus-E. Bärsch: Antijudaismus, Apokalyptik und Stanologie. Die religiösen Elemente des nationalsozialistischen Antisemitismus. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 40 (1988)., S. 112-133