Sunna (arabisch سنة,Pl.سنن sunan, DMG sunan ‚Brauch, gewohnte Handlungsweise, überlieferte Norm‘) ist ein Begriff, der vermutlich schon in vorislamischer Zeit die Sitten, Bräuche, Werte und Normen aller arabischen Stämme umfasste. In der islamischen Jurisprudenz und Traditionswissenschaft bezeichnet der Begriff Sunna die Summe der zu befolgenden, wegweisenden und nachahmenswerten Taten des Propheten sowohl im religiösen als auch profanen Leben. Das entsprechende Verb hierzu ist استنّ سنّ, DMG sanna / istanna ‚etw.vorschreiben, etw. einführen‘.
Zum Begriff Sunna
Beim Begriff Sunna handelt es sich um ein altarabisches Wort, das schon in der vorislamischen Zeit (ǧāhilīya) bekannt war. Die Bedeutung wird gemeinhin mit "etablierte Praxis" oder "Verhaltensweise" angegeben. Im Laufe der Zeit haben sich verschiedene Verschiebungen in der Bedeutung des Begriffs ergeben, die sich im Einzelnen nur schwer rekonstruieren lassen. Das Wort Sunna taucht 16 mal im Koran auf und wurde - mit Ausnahme der ersten mekkanischen Periode - über den gesamten Zeitraum der Verkündigung genutzt. Es erscheint häufig als Teil einer Genitiv-Verbindung, etwa sunnat Allāh oder sunnat al-ʾawwalīn. Nur einmal (17:77) erfolgt überhaupt in näherem textlichen Zusammenhang ein Verweis auf Propheten,- dies allerdings ohne wertenden Nebensinn. Inhaltlich geht es in fast allen Stellen um ein "unveränderliches" (33:62) Handlungsmuster Gottes, das immer dann zum Tragen kam, wenn sich die Menschen bestimmter Verfehlungen, vor allem der Nichtanerkennung der vorherigen Propheten, schuldig gemacht haben. Es kann somit als unzweifelhaft gelten, dass die Sunna als religiöses Konzept erst im Laufe der Formierung des Islams entstand, durch den der Islam gewissermaßen adaptiert und ausgearbeitet wurde.
Eine weitere Bedeutung von Sunna ist: „Gebrauch“, „Usus“ im allgemeinen und kann regional unterschiedlich sein. Schon im Muwaṭṭaʾ des Malik ibn Anas ist die „Sunna der Medinenser“ wegweisender Bestandteil der islamischen Jurisprudenz. In allen Zentren der islamischen Welt sprach man schon zu Beginn des 2. muslimischen Jahrhunderts (8. Jahrhundert) von der „sunna bei uns“ (al-sunna ʿindanā) und von der „sunna nach unserer Auffassung“ (al-sunna fī raʾyinā) usw., ohne dabei auf die Sunna des Propheten zurückgegriffen zu haben.[1] Das Antonym zu Sunna ist Bid'a (Ketzerei).
Sunna, Sīra und Hadith
Schon in den frühesten Quellen des islamischen Schrifttums erscheint ein weiterer Begriff, der der Bedeutung von Sunna nahesteht: sīra (سيرة) „Prozedur“, „Verhaltens- und Lebensweise“. Oft werden beide Begriffe – wie darauf M. M. Bravmann (1972) hingewiesen hat – zusammen verwendet: „die Sunna des Propheten und seine Sīra“. In diesen Fällen ist sīra von der „Prophetenbiographie“ als literarische Gattung, ebenfalls sīra genannt, die die Vita Mohammeds zum Thema hat (Ibn Ishaq), zu unterscheiden.
Neben dem Koran ist die Sunna des Propheten die zweitwichtigste Quelle des islamischen Rechts. asch-Schafi’i (gest. 820) hat in seiner Systematisierung der islamischen Jurisprudenz den Stellenwert von Sunna als Rechtsquelle als sunnatu 'l-nabiyy (سنة النبي) genauer definiert; es sind Hadithe, die mit einer ununterbrochenen Kette (Isnad) der Überlieferer auf den Propheten zurückgehen.[2] Es war aber erst Ahmad ibn Hanbal († 855), der eine Verbindung zwischen Sunna des Propheten als Rechtsquelle und dem Korantext herzustellen versucht hat; hierbei griff er auf Sure 33, Vers 21 zurück:
„Im Gesandten Gottes habt ihr doch ein schönes Beispiel...“
Koran und Sunna
Der Koran ist die erste Quelle des islamischen Rechts, gefolgt von der Sunna des Propheten als höchster persönlicher Instanz in der Gemeinschaft der Muslime (Umma). Seine Autorität – neben der Offenbarung – wird auch im Korantext mehrfach betont:
„Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und Seinem Gesandten und wendet euch nicht von ihm ab, wo ihr doch hört!“
Siehe auch Sure 5, Vers 92; Sure 24, Vers 54 und Sure 64, Vers 12.
Derjenige, der die Sunna des Propheten befolgt, ist ṣāḥib al-sunna, der dadurch folglich auch die Eintracht in der Gemeinschaft der Muslime bewahrt; schon im zweiten muslimischen Jahrhundert (8. Jhd. n. Chr.) hat man zahlreiche Vertreter der Hadith-Wissenschaften in diesem Sinne als ṣāḥib as-sunna wal-dschamāʿa صاحب السنة والجماعة, DMG ṣāḥibu ʾs-sunna wa-ʾl-ǧamāʿa bezeichnet.[3]
Die islamische Tradition verbindet somit Koran und Sunna zu einem zu befolgenden Maßstab als Garant für die Einheit der Muslime und bringt diesen Gedanken in der Schilderung der letzten Rede Mohammeds während der sog. Abschiedswallfahrt zum Ausdruck:[4]
„Ich habe euch etwas Klares und Deutliches hinterlassen; wenn ihr daran festhaltet, werdet ihr niemals in die Irre gehen: Gottes Buch und die Sunna seines Propheten.“
Die Position der Sunnah im Bezug auf den Quran Ihr wisst alle, dass Allah, gesegnet und erhaben ist er, Muhammad salla Allahu 'alayhi wa sallam mit seiner Prophetenschaft auserwählt und ihn durch seine Botschaft ausgezeichnet hat. So sandte er sein Buch, den edlen Quran, auf ihn herab und befahl ihm darin, unter dem was er ihm befahl, ihn den Menschen zu erklären. So sagte Allah, erhaben ist er:
„Und wir haben die Erinnerung auf dich herab gesandt, damit du den Menschen das erklärst, was auf sie herab gesandt wurde.“ [Surat an-Nahl (16), Vers 44]
Erstens: Die Erklärung des Wortlautes und seiner Einordnung. Und dies ist die Überbringung des Quran, ihn nicht zu verbergen und ihn der Ummah zu übermitteln, wie Allah, gesegnet und erhaben ist er, ihn auf das Herz des Propheten salla Allahu 'alayhi wa sallam herab gesandt hat. Und das ist es, was Allah, erhaben ist er, gemeint hat, als er sagte:
„Oh Gesandter, überbringe das, was auf dich von deinem Herrn herab gesandt wurde.“ [Surat al-Maaidah (5), Vers 67]
Und ‘Aaischah, möge Allah mit ihr zufrieden sein, sagte in einem Hadith von ihr: „Wer euch erzählt, dass Muhammad etwas verborgen hat, was ihm befohlen wurde zu überbringen, der hat eine gewaltige Lüge über Allah erzählt.“ Dann rezitierte sie den genannten Vers.“ (Berichtet von al- Buchaari und Muslim.) Und in einer Version von Muslim: „Hätte der Gesandte Allahs salla Allahu 'alayhi wa sallam etwas verborgen, was ihm befohlen wurde zu überbringen, dann hätte er die Aussage von Allah, erhaben ist er, verborgen: „Und als du zu dem sagtest, dem Allah seine Gunst erwiesen hatte und dem du deine Gunst erwiesen hattest: ,Behalte deine Frau bei dir und fürchte Allah‘ und du fürchtetest dich vor den Menschen und Allah hat mehr Anrecht darauf, dass du ihn fürchtest.“ Die andere Art von Erklärung ist: Die Erklärung der Bedeutung des Wortlautes, des Satzes oder des Verses dessen Erklärung die Ummah braucht. Dies ist meistens bei unklaren (mudschmal), allgemeinen (‘aam) und uneingeschränkten (mutlaq) Versen der Fall. So kommt die Sunnah und erklärt das Unklare, spezialisiert das Allgemeine und schränkt das Uneingeschränkte ein. Und das geschieht durch die Aussagen des Propheten salla Allahu 'alayhi wa sallam ebenso, wie durch seine Handlungen und seine stillschweigende Zustimmung.
Literatur
- M. M. Bravmann: The Spiritual Background of Early Islam. Studies in Ancient Arab Concepts; Leiden: Brill, 1972
- Brown, Daniel W.: Rethinking tradition in modern Islamic thought, Cambridge: Cambridge University Press, 1996.
- Yasin Dutton: Sunna, ḥadīth and Madinan ʿamal. In: Journal of Islamic Studies. 4/1993, S. 1-31
- Ignaz Goldziher: Muhammedanische Studien, Band 2; Hildesheim: Olms, 1961,S. 213-220
- Avraham Hakim: Conflicting images of Lawgivers: the Caliph and the Prophet Sunnat 'Umar and Sunnat Muhammad. In: Herbert Berg (Hrsg.): Method and Theory in the Study of Islamic Origins; Leiden, Boston: Brill, 2003. S. 159–177
- G. H. A. Juynboll: Some new ideas on the development of sunna as a technical term in early Islam. In: Jerusalem Studies on Arabic and Islam. 10 (1987), S. 97–118
- Joseph Schacht: The Origins of Muhammadan Jurisprudence. 4. Auflage. Oxford 1967. S. 44-58; 61-70 und 347-348 (General Index)
- Krawietz, Birgit: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin: Duncker & Humblot, 2002.
- Encyclopaedia of Islam. New Edition; Leiden: Brill; Band 9, S. 878.
Einzelnachweis
- ↑ Joseph Schacht (1967), S. 61ff
- ↑ Joseph Schacht (1967), S. 77-78
- ↑ M. Muranyi: Fiqh. In: Helmut Gätje: Grundriß der Arabischen Philologie. Bd. II: Literaturwissenschaft. Wiesbaden 1987. S. 300-301
- ↑ Zu einer Überlieferungsvariante siehe: Yasin Dutton:The Origins of Islamic Law. The Qurʾān, the Muwaṭṭaʾ and Madinan ʿamal. Cruzon Press, Richmond 1999. S. 180. Dazu siehe M. Muranyi in: Die Welt des Islam Bd. 44,1 (2004), S. 133-135, bes. S. 135