Antijudaismus im Neuen Testament

Christliche Ansichten des Judentums im neuen Testament
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 16. August 2005 um 18:02 Uhr durch Jesusfreund (Diskussion | Beiträge) (Links, ergänzt). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Antijudaismus im Neuen Testament ist ein Teil des Themas "Antijudaismus": jener besonderen Judenfeindlichkeit im Christentum, die sich durch die Geschichte Europas zieht. Ihre Wurzeln sind bereits im Neuen Testament (NT) angelegt: Dort finden sich eine Reihe von Aussagen, an die spätere kirchliche Lehren anknüpften, um Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Minderheit zu rechtfertigen.

Einleitung

Während die christliche Theologie ihre judenfeindlichen Dogmen früher unkritisch und unreflektiert aus dem Neuen Testament herleitete, ist dies seit dem Holocaust am europäischen Judentum nicht mehr möglich. Seitdem hat eine intensive Debatte um den Stellenwert und Charakter antijüdischer Aussagen in den urchristlichen Schriften begonnen. Diese Erklärung der Ursachen des Antijudaismus ist ein wichtiger Teil der Antisemitismus-Forschung.

Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) intensivierte sich seit den Kirchentagen der 60er Jahre der jüdisch-christliche Dialog und bezog die Quellschriften beider Religionen ein: So wie christliche Historiker und Theologen das so genannte Alte Testament erforschten und auslegten, so setzte auch auf jüdischer Seite eine "Heimholung" des Rabbiners Jesus von Nazaret ins Judentum ein.

Damit rückte die Frage ins Zentrum, ob die Ablehnung des Judentums für das Neue Testament und die Entstehung des Christentums konstitutiv ist, oder ob gerade der urchristliche Glaube eine fundamentale Bejahung des Judentums beinhaltet und von daher eine gründliche Revision der europäischen Kirchengeschichte und eine Erneuerung des Verhältnisses zu Israel ermöglicht und erfordert.

Die Kirchen haben diese Frage in den letzten Jahrzehnten im Sinne der zweiten Möglichkeit beantwortet. Auf katholischer Seite begründete das 2. Vatikanische Konzil 1968 eine neue Hinwendung zu Israel und Auseinandersetzung mit dem christlichen Schuldanteil am Holocaust, auf evangelischer Seite setzte der Rheinische Synodalbeschluss von 1980 einen Meilenstein für die Revision und Präzisierung kirchlicher Lehraussagen. Diesen Prozess haben inzwischen eine Reihe von Landeskirchen der EKD so oder ähnlich nachvollzogen.

Kernaussage ist hier das Bekenntnis zum "ungekündigten Bund": Israel ist und bleibt das erwählte Volk Gottes, das als solches die Wurzel der Kirche ist. Nur auf diesem Grund ist die Botschaft von Jesus Christus Gnade für alle Völker. Die Auswirkungen dieser theologischen Klärung auf sämtliche kirchliche Aufgabenbereiche wie auch den staatlichen Religionsunterricht und den allgemeinen Religionsdialog sind noch nicht absehbar.

Die antijudaistische Theologie

In der kirchlichen Lehre wurden bereits im 2. Jahrhundert vier Glaubenssätze miteinander verknüpft:

Ausgangspunkt dieser Theologie war die These vom "Gottesmord": Indem Israel als Volk Gottes den Sohn Gottes getötet habe, habe es sich und alle seine Nachfahren selbst auf ewig vom Heil ausgeschlossen. Die Juden wurden damit qua Existenz zum dauernden Gegenspieler des wahren Gottes und seiner Gläubigen stilisiert.

Diese theologische "Enteignung" der Ursprungsreligion des Christentums war zunächst Pendant und Legitimation für das großkirchliche Wahrheitsmonopol. Es rechtfertigte seit der Konstantinischen Wende (313) allerlei antijüdische Maßnahmen bis hin zur angeblich notwendigen Zwangsbekehrung der Juden. Aufgrund von deren Erfolglosigkeit konnte das logische Gefälle dann historisch zum Propagieren, Planen und Dulden ihrer Ausrottung verlaufen (Raul Hilberg).

Die sogenannten "Kirchenväter" des 2. Jahrhunderts gingen dabei von einer Tatsache aus: Die Mehrheit der Juden in Israel lehnte Jesus als ihren Messias ab. Dies stand schon Paulus von Tarsus als zentrales Problem vor Augen (Römerbrief 9-11). Die christliche Theologie setzte daraufhin die Ablehnung Jesu durch die jüdische Mehrheit mit der Schuld an seinem Tod, also dem christlichen Glaubenszentrum, gleich (Jules Isaac).

Demzufolge konnte Israels "Verwerfung" nur noch endgültig sein, seine Rettung nur noch im Christentum liegen. Die endgültige Vergebung, die Jesus nach Aussage des ältesten Passionsberichts am Kreuz durch die Übernahme des Endgerichts für sein Volk und alle Menschen erwirkte (Mk 15, 33f), wurde zur ewigen Schuldanklage und Schuldbehaftung Israels im Gegensatz zur bereits geretteten Christenheit umgedeutet.

Wurzeln der Gottesmord-Theorie

Im Zentrum des christlichen Glaubens steht das Bekenntnis zu dem gekreuzigten Juden Jesus, der anstelle derer, die ihn töteten, das Gericht Gottes auf sich nahm und so alle Menschen von ihrer Schuld erlöste: "für uns gestorben/dahingegeben" ist das älteste Element frühchristlicher Credoformeln. Diese Verkündigung wurde jedoch schon im Neuen Testament selbst mit historisierenden Aussagen verknüpft, die nicht eigene, sondern fremde Schuld herausstellten: nämlich die des jüdischen Volkes, damals wie heute.

Der Satz "Die Juden haben Jesus (und damit den Gott gleichen Sohn Gottes) getötet" ist in seinen fatalen historischen Folgen kaum zu überschätzen. Er löste in der europäischen Geschichte oft unmittelbar Pogrome an Juden aus. Deshalb hat die genaue Einordnung neutestamentlicher Aussagen im Umfeld der Passionstexte heute Vorrang in der NT-Forschung. Diese beantwortet die historische Frage nach den Ursachen des Todes Jesu freilich aufgrund der unsicheren Quellenlage und der Brisanz des Themas weiterhin verschieden.

Forschungspositionen

Zwei Hauptpositionen haben sich seit 1945 herauskristallisiert:

1. Römer, nicht Juden, trügen die Hauptverantwortung für Jesu Kreuzigung. Politische, nicht religiöse Motive hätten sie dazu bewegt. Die Beteiligung des Sanhedrins sei seiner damaligen Zwangslage geschuldet, er habe nur eine Helferrolle ohne eigenen Handlungsspielraum gehabt. - Dies vertreten meist nichtchristliche Autoren, z.B.

  • der jüdische Historiker Paul Winter (On the trial of Jesus 1961). Er sieht bereits Jesu Festnahme von Römern, nicht vom Sanhedrin veranlasst und bestreitet, dass es einen Religionsprozess mit Todesurteil gegen Jesus gab. Ihm folgte
  • Haim Cohn, Richter am Obersten Gerichtshof des Staates Israel (The Trial and death of Jesus 1967). Er bestreitet, dass ein Straftatbestand des antiken jüdischen Religionsgesetzes auf Jesus anwendbar war und hält es daher sogar für wahrscheinlich, dass der Jerusalemer Hohe Rat (Sanhedrin) Jesus damals vor den Römern zu retten versuchte. Dies hätten die Evangelisten umgedeutet, um sich vor römischer Verfolgung zu schützen und die Heidenmission zu erleichtern.
  • Auch David Flusser (Die letzten Tage Jesu in Jerusalem 1982) und
  • Pinchas Lapide (Wer war Schuld an Jesu Tod? 1987) vertreten ähnliche Thesen. Lapide stellt z.B. die die Messiasfrage des Kaiphas und die Volksbefragung des Pilatus als christliche Deutung in Frage.
  • Nach dem deutschen Juristen Weddig Fricke (Standrechtlich gekreuzigt 1987) hätte der Hohe Rat damals ein Todesurteil fällen können, es aber nicht getan, so dass allein Pilatus die Hinrichtung Jesu als politischen Mord veranlasst habe.

2. Christliche Historiker dagegen halten meist an der Plausibilität der neutestamentlichen Darstellung fest, wonach die Initiative zur Verurteilung Jesu vom Sanhedrin ausging.

  • Der Katholik Joseph Blinzler (Der Prozess Jesu 1969) untersuchte das Thema sehr umfassend und zog das Fazit: "Die Hauptverantwortung liegt auf jüdischer Seite." Er bekräftigt die "böswillige Einstellung der Synhedristen", zweifelt an der Rechtmäßigkeit ihres Todesurteils und sieht keinen Zusammenhang zwischen ihrem Verhör und ihrer Anklage Jesu gegenüber Pilatus; seine Auslieferung sei widerrechtlich erfolgt. - Ihm folgte
  • Gerhard Lohfink (Der letzte Tag Jesu. Die Ereignisse der Passion 1981).
  • Der Lutheraner August Strobel wiederum (Die Stunde der Wahrheit. Untersuchungen zum Strafverfahren gegen Jesus 1980) betont die Rechtsgrundlage des jüdischen Todesurteils: Der Sanhedrin habe damals strikt das deuteronomische Religionsgesetz angewandt, wonach ein Volksverführer öffentlich "am Fest" hinzurichten war (Dtn 13). Bei akuter Gefahr für Jerusalem und den Tempel hätten Ausnahmeregeln eine sofortige Auslieferung gestattet (die die späteren Prozessregeln des Talmud verboten). Pilatus habe durch ungeschicktes Taktieren der Hinrichtung Jesu zuletzt zustimmen müssen, um sein Ansehen nicht zu gefährden.
  • Otto Betz (Probleme des Prozesses Jesu 1982) schloss sich Strobels Grundthese an, dass zwischen Verhör und Todesurteil des Sanhedrins ein innerer Zusammenhang bestand: Er sieht ihn darin, dass eine Reform des Jerusalemer Tempelkults ("Tempel abreißen und neubauen") nur dem Messias zugestanden hätte, so dass die Messiasfrage des Kaiphas nach ergebnislosem Verhör wie auch die politische Messiasanklage vor Pilatus zwangsläufig gewesen seien. Dies betonen ähnlich auch
  • Rudolf Pesch (Der Prozess Jesu geht weiter 1980) und
  • Peter Stuhlmacher (Warum musste Jesus sterben? 1988).

Der NT-Befund

Eine Pauschalaussage, die ausdrücklich die Alleinschuld des ganzen jüdischen Volkes am Tod Jesu behauptet, findet man im NT einzig in 1. Thess 2, 15, dem ältesten Paulusbrief:

Die [Juden] haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten; sie haben uns verfolgt und missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen...

Da hier auch die biblischen Propheten genannt und und zudem typische antijüdische Klischees der Umwelt aufgegriffen werden, ist dies nicht als exakte historische Feststellung zu werten, sondern als situationsbedingte Polemik (s.u.). Sie generalisiert die damals schon seit Jahrhunderten bekannte Bußpredigt von Juden an andere Juden (Neh 9,26; Esr 9,11; Mk 12,1-9; Apg 7,52) und bezieht sie auf Jesu Tod: Er erlitt demnach das Schicksal aller Propheten, die Gott sandte, auf die sein Volk aber nicht hörte.

Die übrigen Textstellen außerhalb der Evangelien klagen verschiedene Teilgruppen einzeln oder miteinander an:

  • den Sanhedrin (das oberste Religionsgericht, in dem die Sadduzäer damals die Führung innehatten): Apg 4,10; 5,30; 7,52; 13,27-29.
  • die Einwohner Jerusalems : Apg 2,23.36. In Apg 3,13-15 und 13,27-29 wird zudem auf ihre Demonstration vor Pilatus verwiesen: Kreuzige ihn! anstelle des Zeloten Barabbas, Mk 15,6-15.
  • "Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und Israels Stämmen": Apg 4,27f im Anschluss an Psalm 2,1f; dort werden die irdischen Herrscher als Gegner des gottgesandten Messias genannt, die hier zugleich die zwölf Stämme des erwählten Volkes vertreten.
  • allgemein die "Herrscher dieser Welt", hinter denen dämonische Mächte stehen: 1. Kor 2,7f.

In Apg 2,36 und 4,10 wird das "ganze Haus" bzw. "Volk Israel" nicht als Adressat, sondern Publikum der Anklage der Herrschenden gegen Jesus genannt: Es wird als Zeuge des Unrechts, das er erfuhr und auf sich nahm, beansprucht.

Die Evangelien zeigen jüdische Gegner Jesu als treibende Kraft seiner Leidensgeschichte: Diese kündet sich schon in Galiläa an, wo er wiederholt in gefährliche Konflikte geraten sein soll. Dabei ging es um die Tora-Auslegung, besonders sein Recht zum Sündenvergeben (Mk 2,7ff), die Schabbat-Heiligung (Mk 2,23 - 3,6), die Reinheitsgesetze (Mk 7,1-23), später die Ehescheidung (Mk 10,1-12) und die Kaisersteuer (Mk 12,13-17).

Doch keiner dieser Streitpunkte wird in seinem Verhör vor dem Sanhedrin erwähnt. Nur Lk 23,2 zufolge soll Pilatus ihm einen Aufruf zum Steuerboykott vorgehalten haben. Sonst waren weder die Themen noch die Gruppen der Tora-Konflikte Jesu in Galiläa und Jerusalem identisch. Besonders die Pharisäer, die später zum Sinnbild des heuchlerischen, geldgierigen und verschlagenen Juden verzerrt wurden, spielen in den eigentlichen Passionsberichten des NT kaum eine Rolle.

Einen - historisch unwahrscheinlichen - Tötungsplan der Pharisäer und Herodianer schon in Galiläa erwähnt der Evangelist Markus (Mk 3,6); er schlug damit eine redaktionelle Brücke zum Tötungsplan der Tempelpriester nach Jesu Tempelreinigung (Mk 11,18), die der wahrscheinliche Anlass seiner Festnahme war (Mk 14,1f). Der Evangelist Johannes verbindet Jesu provozierendes Auftreten in Galiläa mit Jerusalem, indem er die Tempelreinigung schon an den Anfang seines Wirkens verlegt (Jh 2,13-24). So stellen die Evangelisten jüdische Gruppen, die zur Zeit Jesu ganz verschiedene Haltungen und Interessen hatten, nach der [Jüdischer Aufstand|Tempelzerstörung]] 70 n. Chr. als seine gemeinsamen Feinde dar.

Dennoch wirken Festnahme, Verhör und Auslieferung Jesu im Kontext eines Passahfestes in Jerusalem, das die Aufstandsgefahr drastisch erhöhte, historisch plausibel. Alle Evangelien stimmen darin überein, dass die führenden Autoritäten des damaligen Judentums Jesus an Pilatus überstellten; welche Rolle religiöse Gründe dabei spielten und ob sie sein Todesurteil darüberhinaus aktiv - mit Unterstützung einer aufgehetzten Volksmenge - betrieben, sind die zwei umstrittensten Punkte des Verlaufs.

Wurzeln der Enterbungslehre

Das antijudaistische Dogma der "Verwerfung" des ganzen Gottesvolks wurde aus NT-Texten wie dem "Weinberggleichnis" (Mk 12, 1-12 [1]) hergleitet:

"Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: 'Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!' Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. - Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben."

Damit war der Verlust der Erwählung Israels und deren Übergabe an die Christen angedeutet.

In der Fortsetzung des Textes aber heißt es:

"Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Psalm 118,22-23): 'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen'? - Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte."

Damit wird daran erinnert: Gerade durch Jesu "Verwerfung" - seine Ablehnung in Israel - erfuhr der Tempelbau seinen krönenden Abschluss. Jesus, der "Eckstein", vermittelte das Israel zugesagte Heil den Völkern. So spricht der Folgesatz nur Israels Führer, nicht das ganze jüdische Volk als Gegner Jesu und Verursacher seines Todes an. Eben diese Differenz wurde nach der Tempelzerstörung (70 n.Chr.) und Zerstreuung der palästinischen Juden (132 n.Chr.) von christlichen Theologen rasch vergessen.

Die Fluchtheorie

Im Matthäusevangelium findet man im Kontext des Verhörs Jesu vor Pilatus einen Satz, in dem das jüdische Volk die Verantwortung für Jesu Hinrichtung übernimmt, nachdem der römische Statthalter dies für sich ablehnte und das Volk befragte:

"Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Mt 27,25).

Mit dieser reaktionellen Aussage (sie ist nur bei Matthäus zu finden) stellte der Evangelist die Schuld der anwesenden Volksmenge (griechisch laos) an Jesu Tod fest. Dies wurde jedoch bald auf alle Nachkommen Israels bezogen und als Legitimation zu ihrer blutigen Verfolgung ausgelegt.

Den christlichen Theologen diente der Satz seit dem 4. Jahrhundert stets als Begründung für judenfeindliche kirchliche Maßnahmen; er wanderte als feste Stereotype in die Adversos-Iudaios-Literatur der Kirchenväter ein. Unter Berufung darauf konnte das Erschrecken über die eigene Schuld am Leiden der Juden unter christianisierten Völkern Europas abgeblockt werden. Die kirchliche Verantwortung für die antijudaistische Volksfrömmigkeit und die oft im Kontext kirchlicher Passionsspiele ausgelösten Pogrome an jüdischen Gemeinden wurde dann als Erfüllung des "Fluchs" auf die Opfer zurückprojiziert.

Heutige Theologen und Exegeten wie Klaus Haacker wenden sich unter dem Eindruck dieser Wirkungsgeschichte dem Text zu und stellen fest:

  • Matthäus dachte hier nicht daran, dass Jesu Gegner vor Pilatus die Schuld für einen Justizmord übernahmen; denn Jesus wurde als Messiasanwärter nach geltendem Recht verurteilt. Gemeint war nur, dass sie ihre Überzeugung betonten, dass Jesus den Tod verdient habe und sich bereit erklärten, das Risiko einer Fehlentscheidung zu tragen. Dies gab allerdings nach übereinstimmender Darstellung der Evangelien den letzten Anstoß zur Entscheidung des Pilatus, Jesus kreuzigen zu lassen.
  • Ein Todesurteil für einen Unschuldigen war nach geltendem jüdischen Recht nur an der Person zu "sühnen", die es verursacht hatte (Dtn 19, 16-21). Sippenhaft schließt die Tora aus (Dtn 24, 16). Die Einbeziehung der Kinder in diese "Sühne" widersprach also jüdischem Rechtsverständnis.
  • Gleichwohl galt ungesühntes Unrecht in jüdischer und christlicher Tradition allgemein als Auslöser für Unheil in der Folgegeneration (z.B. 1. Kön 22; 2. Kön 1 und 9; Est 7, 10; 9, 6-14 und öfter).
  • Hinter der matthäischen Gestaltung der Passionsgeschichte Jesu stand außer Psalm 22 wahrscheinlich zudem Daniel 6: Auch dort verurteilt ein heidnischer Machthaber einen frommen Juden (Daniel) widerstrebend und gegen seine persönliche Überzeugung zum Tod. Der König fordert ihn auf, an Gottes Rettung zu appellieren (v. 17), so wie auch Jesu Feinde den Gekreuzigten verspotten: "Er hat auf Gott vertraut, der soll ihn jetzt retten, wenn er an ihm Gefallen hat" (Mt 27, 43; Zitat aus Ps 22, 9, ebenfalls nur bei Matthäus). Daniels Löwengrube wurde mit einem großen Stein "versiegelt", und eben diesen Ausdruck verwendete nur Matthäus für das Verschließen des Grabes Jesu.

Dies macht wahrscheinlich, dass der Evangelist die Selbstverfluchung nur auf die Folgegeneration bezog, die er vor Augen hatte: die Jerusalemer Juden, die im Jahr 70 die Tempelzerstörung und grausame Massaker der Römer erlitten. Die "Blutschuld" am Tod Jesu erfüllte sich für ihn bereits mit diesem Ereignis, auf das er mehrfach anspielt (Mt 22, 7; 23, 34ff). Der Satz war also keine Prognose des weiteren jüdischen Schicksals für alle Zeiten.

Das Pharisäerbild der Evangelien

Das Bild, das die Evangelien von den Pharisäern zeichnen, ist nicht einheitlich. Einerseits wurden sie bereits zu Hauptgegnern Jesu stilisiert, nachdem die Rabbiner die Führung des Judentums gewannen; andererseits sind gerade Jerusalemer Pharisäer Jesu Gesprächspartner, die seiner Toraauslegung zustimmen (Mk 12, 28-34).

Das Kapitel Mt 23 legte den Grund für die mittelalterlichen Klischees vom arbeitsscheuen, geldgierigen, betrügerischen und heuchlerischen Judencharakter:

Sie binden schwere Bürden und legen sie den Menschen um den Hals; aber sie selbst wollen sie nicht mit dem Finger anrühren...
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, die ihr der Witwen Häuser fresst und verrichtet zum Schein lange Gebete! ...
Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Becher und Schüsseln außen rein haltet, aber innen sind sie voll Raub und Gier!

Diese Reihung gipfelt in der Ankündigung der Tempelzerstörung, mit der das Judentum sein Glaubenszentrum verlor, und der Aussage:

Ihr werdet mich von jetzt an nicht sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!

So wurde den Juden jeder eigene Zugang zu Gott abgesprochen; ihre einzige Zukunft lag in der Anerkennung Jesu als Gottes Gesandtem.

Das Judentum als satanischer Gegenspieler Christi

Das Johannesevangelium sieht "die" Juden als Vertreter der alten, von Satan beherrschten Welt, die Christus ablehnt und die er besiegt: "Ihr habt den Teufel zum Vater...Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit...Weil ich aber die Wahrheit sage, glaubt ihr mir nicht...weil ihr nicht von Gott seid." (Joh 8,44ff) Dasselbe Evangelium hält gleichwohl fest: "Das Heil kommt von den Juden!" (Joh 4,22)

Die jüdische Tora als Negativfolie des Evangeliums

Für Paulus hat Christus den Heilsweg der Tora beendet (Röm 11,4), so dass nur noch der Glaube an ihn zum Heil führt (Gal 3,13f). Das verstand christliche Exegese als Ablösung des Judentums durch die Kirche.

Paulus erklärt 1.Thess. 2,15 zudem, dass die Juden Jesus, die Propheten und nun auch die christliche Gemeinde verfolgten. Während das erste kaum haltbar ist, so ist die Verfolgung der urchristlichen Gemeinde durch Paulus' eigene Vita (Apg 5-9) sowie durch das Achtzehnbittengebet gedeckt.

Die christliche Missionsgeschichte als Beweis für christliche Überlegenheit

Die Apostelgeschichte unterschied zwar historisch korrekt Sadduzäer als Verfolger und Pharisäer als Fürsprecher der Urchristen (Apg 5,17ff), periodisierte aber die Missionsgeschichte und legte so ebenfalls Israels Ablösung durch die universale Kirche nahe. - Die Missionspredigt des Stefanus etwa polemisierte (Apg 7,51ff): "Ihr Halsstarrigen, mit verstockten Herzen und tauben Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter, so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? ..." Ähnlich scharf hatte Jesus selber im Anschluss an die Gerichtspropheten seine Mitjuden kritisiert (Beleg).

Die Johannesoffenbarung sah Christen als wahre Juden gegenüber der "Satanssynagoge" und legte deren Zwangsbekehrung nahe (Apk/Offb 3,9): "Siehe, ich will sie dazu bringen, daß sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, daß ich dich geliebt habe." Andererseits erwartete sie das "neue Jerusalem" als Gottesstadt vom Himmel her und bestätigte damit jüdische Prophetie und Apokalyptik (Beleg).

Die christliche Übernahme des heidnischen Antijudaismus

Im Zuge seiner Ausbreitung im Mittelmeerraum gewann das Christentum im römischen Reich zunehmend auch wohlhabendere Bevölkerungssschichten. Dort war eine generelle Ablehnung der Juden bereits seit dem Pogrom in Alexandria (38) verbreitet (siehe dazu Antike Judenfeindschaft). Ein Zeugnis für das Eindringen römischen Judenhasses in das Neue Testament findet sich im 1. Thessalonicherbrief (2, 14-16), dem ältesten der von Paulus verfassten Gemeindebriefe (entstanden um 50):

Ihr habt von Euren Mitbürgern das gleiche erlitten wie jene von den Juden. Diese haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; auch uns haben sie verfolgt. Sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen; (denn) sie hindern uns daran, den Heiden das Evangelium zu verkünden und ihnen so das Heil zu bringen. Dadurch machen sie unablässig das Maß ihrer Sünden voll. Aber der ganze Zorn ist schon über sie gekommen.

Der Text verbindet verschiedene damals gängige Vorwürfe an die Juden:

  • den zum "Gottesmord" vergröberten Topos der Mitwirkung am Tod Jesu ("Herr" = griechisch Kyrios, hebräisch JHWH),
  • den schon im Judentum selbst bekannten Topos des Prophetenmords (z.B. 1. Kön 19, 10; Jer 2, 30),
  • die heidnischen Stereotypen des "Missfallens der Götter" und der "Menschenfeindschaft".

Der letzte Vorwurf war früh weit verbreitet; er begegnet schon in der Septuaginta-Übersetzung vom Buch Ester als Begründung für einen Morderlass des Perserkönigs (Est 3, 13), später dann bei Tacitus (5. Buch der Annales 5, 2, 1ff):

Untereinander üben sie unverbrüchliche Treue und spontane Hilfsbereitschaft, allen anderen gegenüber jedoch feindseligen Hass.

Darum seien sie "Gottlose (atheoi) und den Göttern verhasst", heißt es über Juden auch in Texten der antiken Historiker Flavius Josephus, Quintilian, Cicero und anderen. Diese Sicht traf sie, weil sie sich wegen ihrer Speise- und Reinheitsgesetze vom Gesellschaftsleben ihrer Umwelt abgrenzten und die Teilnahme an Staatskulten verweigerten.

Paulus übernahm diese antiken Klischees nicht, um Juden die Verehrung römischer Götter nahezulegen; vielmehr stehen seine persönlichen Erfahrungen dahinter, wie der letzte präsentische Vorwurf zeigt. Er bezog "Feindschaft gegen alle Menschen" auf die jüdische Ablehnung seiner universal ausgerichteten Völkermission: Er war aus Thessaloniki vertrieben (Apg 17, 5-10), aber auch schon früher von jüdischen Gegnern verfolgt worden (Apg 13, 50; 14, 2.19). In Korinth spitzte sich diese Opposition dramatisch zu (Apg 18 12-17): Juden zeigten die Paulusmission beim römischen Prokonsul an. Diese akute Gefährdung könnte Anlass zu seiner antijüdischen Polemik gewesen sein.

Sein Rückgriff auf in Umlauf befindliche Pauschalurteile über Juden wirkte jedoch weit über ihren situationsbedingten Anlass hinaus fort: Der antike Antijudaismus lebte im Christentum fort. Juden wurden bleibend zu Feinden Gottes und der Menschheit stilisiert, auch nachdem nahezu alle Völker Europas christlich getauft worden waren. Dadurch verlor eben dieses paganisierte Christentum bei Juden und langfristig auch bei Heiden seine Glaubwürdigkeit.

Forschungsgeschichte

Dass das Neue Testament Antijudaismus enthält, begründet und rechtfertigen konnte, erkannte lange vor 1933 schon der französische Altertumsforscher Jules Isaac (Jesus et Israel 1900). Er erklärte die antijüdische Polemik im NT - wie antichristliche Polemik im späteren Talmud - aus dem wechselseitigen Abgrenzungsprozess von christlichen und jüdischen Gemeinden im Kontext des jüdisch-römischen Konflikts in Palästina des 1. Jahrhunderts. Im Einzelnen wies er nach, dass

  • das Pharisäerbild der Evangelien das Judentum verzerrt darstellte und damit zur Verachtung der Juden im römischen Reich beitrug,
  • Jesu Gerichtsworte an seine Generation (analog zu den Propheten Amos, Hosea, Jeremia usw.) als endgültige Verwerfung aller Juden missdeutet wurden,
  • die Polemik des Rabbiners Jesus gegen andere Pharisäer im Johannesevangelium zum Klischee „des Juden“ umgedeutet wurde
  • das Verstockungsmotiv, ursprünglich Umkehrpredigt von Judenchristen an Juden in prophetischer Tradition, zum Merkmal des Judentums verallgemeinert wurde.

Der exegetische Stellenwert judenfeindlicher Aussagen im NT

"Judenfeindlichkeit" ist demnach kein generelles Kennzeichen urchristlicher Theologie. Sie wird heute großenteils aus der historischen Situation erklärt und relativiert. Vor allem aber wird erkannt, dass für die urchristliche Verkündigung der Petruspredigten ebenso wie für Paulus der "ungekündigte Bund" konstitutiv ist, ohne den es für Christen kein Heil gibt.

Paulus von Tarsus, der erste christliche "Theologe", hat sich bereits intensiv mit der Tatsache auseinandergesetzt, dass seine Brüder, die Juden, Jesus mehrheitlich nicht als ihren Messias anerkannten. Seine Aussagen dazu - vor allem Römerbrief 9-11 - gelten heute als maßgebend für die Auslegung des NT insgesamt wie für die lutherische Rechtfertigungslehre.

Heute übersetzt man Röm 11,4: "Christus ist das Ziel (telos) des Gesetzes". Gerade Paulus bekräftigte daher die endgültige Erwählung Israels (Röm 11,2), an die er alle Christen bleibend erinnerte. Er verstand das Evangelium als Einbeziehung der Völker in den Abrahambund und verpflichtete die Christen auf künftige Erlösung ganz Israels: Röm 9-11.

(Fortsetzung folgt...)

Literatur

  • Carsten Peter Thiede/ Urs Stingelin: Die Wurzeln des Antisemitismus. Judenfeindschaft in der Antike, im frühen Christentum und im Koran. Brunnen-Verlag, Gießen 2002, ISBN 3765512648
  • Rosemary Radford Ruether: Nächstenliebe und Brudermord. Die theologischen Wurzeln des Antisemitismus. München 1978
  • R. Kampling, Neutestamentliche Texte als Bausteine der späteren Adversos-Judaeos-Literatur. In: H. Frohnhofen (Hrsg.): Christlicher Antijudaismus und jüdischer Antipaganismus. Hamburg 1990, S. 121-138
  • Klaus Haacker: Versöhnung mit Israel. Exegetische Beiträge. Neukirchener Verlag 2002, ISBN 3788718366
  • Schalom ben Chorin: Antijüdische Elemente im Neuen Testament. In: Evangelische Theologie (Zeitschrift) Band 40, 1980, S. 203-214


Vorlage:Navigationsleiste Judenfeindlichkeit