Judenfrage
Als Judenfrage wurde seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Problem der gesellschaftlichen Sonderstellung von Menschen jüdischen Glaubens bezeichnet. Im kollektiven Bewußtsein verblieb der Begriff vor allem durch seine von den Nationalsozialisten betriebene 'Endlösung'.
Entstehung
Die Ausgrenzung jüdischer Bevölkerungsgruppen (Judenfeindlichkeit bzw. Antisemitismus) hatte über weit mehr als zweitausend Jahre immer wieder problematische Folgen vor allem für die Juden selbst, aber auch für die jeweiligen Gesellschaftsformationen. Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert wurde (u.a. wegen nachlassenden religiösen Drucks) - teilweise mit fragwürdigen Mitteln (Zwangskonvertierung etc.), aber auch mit Erfolg - erstmals eine ernsthafte gesellschaftlichen Integration angestrebt. Dieser Versuch einer bürgerlichen Gleichstellung der Juden reichte von der Forderung nach ihrer "Duldung" und "bürgerlicher Verbesserung" bis hin zu ihrer "Gleichberechtigung" und "Emanzipation" und ist im Kontext der aufklärerischen Position der Toleranz gegenüber religiös andersdenkenden Einzelnen oder Gruppen zu verstehen. Mit diesen Bestrebungen traten aber auch Gegner auf den Plan und so entstand der Terminus einer (ungelösten) 'Judenfrage' wohl um das Jahr 1840. Der Philosoph und Schriftsteller Bruno Bauer verfasste 1842 die erste selbständige Schrift zu diesem Thema, den Aufsatz "Zur Judenfrage". In dessen Gefolge begann sich der Begriff zuerst im deutschen Sprachraum zu etablieren. Als Ende der 1880er Jahre eine neue antisemitische Welle entbrannte, erfuhr auch der Begriff der 'Judenfrage' eine neue Konjunktur. Eugen Dührings Schrift "Die Judenfrage als Racen-, Sitten-, und Kulturfrage" (1881) verschärfte den Ton gegenüber den Juden, die nunmehr (wieder) als Gefahr dargestellt werden.
Innerjüdische Debatte
Von jüdischer Seite wurde der Begriff vor allem in der Auseinandersetzung mit den Antisemiten gebraucht, bis er im Kontext der zionistischen Bewegung auch hier vergleichsweise neutral verwendet wurde. Nach Nathan Birnbaums Veröffentlichung "Die Nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande als Mittel zur Lösung der Judenfrage" (1893) war es vor allem der spätere Präsident der Zionistischen Weltorganisation Theodor Herzl, der den Begriff aufnahm und in der innerjüdischen Diskussion etablierte ("Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage", 1896, ISBN 3865723659).
Rassistische Variante
Konnte die 'Judenfrage' (und ihre 'Lösung') zuerst noch als Umschreibung eines gesellschaftlichen Mißverhältnis betrachtet werden, der sich notgedrungen auch die Verfechter einer Integration dieser religiösen Gruppe bedienen konnten, wurde im Zuge des 'racistic turn' der Antisemiten mit sogenannten erbbiologischen 'Argumenten' eine Schwelle erreicht, die den Begriff vollständig unbrauchbar machte. Mit der rassistischen Variante der 'Judenfrage' erübrigten sich alle Überlegungen zu einer gesellschaftlichen Lösung dieses Problems.
Nationalsozialismus
Die Endlösung der Judenfrage forderten daraufhin die Nationalsozialisten. Der Terminus stand im Focus vieler nationalsozialistischer Schriften (wie Rosenbergs Zeitschrift "Der Weltkampf. Monatszeitschrift für Weltpolitik, völkische Kultur und die Judenfrage aller Länder"); Theodor Fritschs 1887 veröffentlichter "Antisemitismus-Catechismus", avancierte u. d. T. "Handbuch der Judenfrage" zu einem Bestseller. Rassistisches Gedankengut von Autoren wie Gobineau, Marr, Dühring, Drumont, Wahrmund, Chamberlain, Lagarde, Treitschke, aber auch Wagner ("Das Judentum in der Musik", 1850) bildeten einen integralen Bestandteil der nationalsozialistische Ideologie und bereiteten den geistigen Nährboden für die nahezu vollständige Vernichtung des europäischen Judentums bis zum Ende des 'Dritten Reichs'.
Darüberhinaus fand eine institutionalisierte Beschäftigung mit der 'Judenfrage' im Vor- und Umfeld der Wannseekonferenz statt, so die Errichtung eines sogenannten "Instituts zur Erforschung der Judenfrage" im Jahre 1939 (bzw. 1941). Von dort stammt u.a. die Vierteljahresschrift "Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart".
Einzelfragen
- Marx: Auch Karl Marx schrieb "Zur Judenfrage" (1844). Hierum ranken sich Gerüchte. Es handelt sich keineswegs - wie von interessierter Seite immer wieder verbeitet - um ein antisemitisches Machwerk, sondern um eine Schrift, die am Beispiel dieser Frage die 'menschliche Emanzipation' mit bloßen 'politischen Emanzipation' in Beziehung setzt. Fälschlich wurde Marx eine antisemitische Haltung unterstellt, vor allem im Zusammenhang mit seiner Schrift "Zur Judenfrage". Tatsache ist aber, dass er in diesem Text die rechtliche Gleichstellung der Juden fordert. Er führt aus, dass in einem modernen Staat die Religion Privatsache sei. Andererseits identifiziert Marx die Juden vor allem im zweiten Teil der Schrift einseitig mit "Schacher" und scheint populäre Vorurteile zu bedienen. Marx, der 1843, zum Zeitpunkt der Niederschrift 25 Jahre alt war, hat sich in seinem späteren Wirken in einigen Punkten korrigiert. Sicher ist, dass Marx, selbst jüdischer Abstammung, weder vom Judentum noch vom Christentum etwas hielt, da er eine prinzipiell antireligiöse Philosophie vertrat.
- Sartre: Auch Jean-Paul Sartre befasste sich u.a. im Rahmen seiner Schrift "Überlegungen zur Judenfrage" (Reflexions Sur La Question Juive) explizit mit dem Terminus und dem Thema.
Literatur
Bein, Alex: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, Stuttgart 1980, ISBN 3421019630
Literaturbelege
- Ein Beispiel für das Verständnis der sog. Judenfrage um 1943: "66 n. Chr. brach ein großer Judenaufstand aus, der mit der Eroberung Jerusalems und Zerstörung seines Tempels durch Titus 70 n. Chr. endete. Inzwischen hatten sich die Juden weithin über die Mittelmeerländer verstreut: Sie vermehrten sich vor allem durch Gewinnung fremdstämmiger Anhänger ihres Glaubens stark und wurden rassisch mit den verschiedenartigsten Elementen durchmischt. Durch das Zusammenleben mit ihren Wirtsvölkern ergab sich die Judenfrage." Der Volksbrockhaus, Leipzig 1943, Artikel "Judentum"
- Auch Wilhelm Marrs Buch "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum" (1879) wurde sehr populär. Gruppen völkisch-rassischer Judengegner definierten Juden nun als „Semiten“, um die „Judenfrage“ als Rassenproblem zu propagieren. Bald wurde dieser Begriff immer häufiger unreflektiert für Juden verwendet und - auch von Juden selber - in andere Kreise und Sprachen übernommen.